Yoko Tawada: Wo Europa anfängt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Yoko Tawada: Wo Europa anfängt

Tawada/?-Wo Europa anfängt

SCHWARZE TASTEN

Gestern ist ein Verb gestorben
niemand hat es gemerkt
Sie nennen mich einen der vorgibt
ein Barbar zu sein
Ich spiele in der Küche Klavier
do re fa ti re so
Des Schlachtrosses schwärzliches Blut
läuft über die Tastatur
und klettert über die Fingerspitzen hoch
Nur die unsichtbaren Dinge
verwandeln uns in Mörder
das Alphabet wird blind
und spaziert durch meinen Körper
do re fa ti re so
Die Interpunktionen die auf der Zunge trommeln
Das Massaker beginnt immer morgen

 

 

 

„Das Debüt der Autorin in deutscher Sprache,

ein glänzender Auftritt“ (Basler Zeitung) ist eine Sammlung von Lyrik- und Prosatexten, die sich um das Thema des Reisens ranken, von Ost nach West, von Japan über Sibirien nach Moskau, und von West, Deutschland, nach Ost, Deutschland … Als Pendlerin zwischen diesen beiden Polen ist für die Autorin das Unterwegssein entscheidender als die Ankunft. Es geht um Distanz und Nähe in der Sprache und zwischen Menschen überhaupt, so daß die Reise oft durch traumhaftes Gelände führt.

Konkursbuchverlag Claudia Gehrke, Ankündigung

 

Beitrag zu diesem Buch:

Charlotte: „Wo Europa anfängt“ von Yoko Tawada
japanische-literatur.blogspot.com, 20.8.2021

 

 

„Wo die Sprache blitzt“

Yoko Tawada, geboren 1960 in Tokyo, studierte Literaturwissenschaft in Tokyo und in Hamburg, wo sie seit 1982 lebt. Ihr literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, so etwa mit dem Chamissopreis und dem Akutagawa-Sho, dem angesehensten Literaturpreis Japans. Im Mai 2000 hielt sie im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur Vorlesungen.
Das Gespräch mit Yoko Tawada fand am 22. August 2001 im Literaturhaus Basel statt. Die Fragen stellten Martin Gülich und Oliver Lüdi.

Martin Gülich/Oliver Lüdi: Yoko Tawada, Sie sind jetzt nahezu drei Monate „writer in residence“ am Literaturhaus Basel. In einem Ihrer Texte haben Sie einmal die Fahne der Schweiz mit der Japans in engen Bezug gebracht. Haben Sie weitere Ähnlichkeiten entdeckt?

Yoko Tawada: Ja, es gibt einige Gemeinsamkeiten, glaube ich, besonders was die Gesellschaft betrifft. Ich denke, das ist hier auch so eine Gesellschaft, die sehr lange Agrargesellschaft war, in der der Gruppenzusammenhang und das Zusammenleben sehr wichtig waren und die eine sehr schnelle Industrialisierung erlebt hat. Im Unterschied zu England oder auch Deutschland, wo die Industrialisierung sehr viel früher begonnen hat. Dadurch ist die Mentalität, was die Art der Kommunikation oder bestimmte Lebenshaltungen angeht, geprägt. Dass man solide ist und fleißig und schweigsam und lieber arbeitet, lauter solche Sachen. Oder dass man nicht heftig und plötzlich kritisiert, sondern langsam und vorsichtig, damit die Gruppe zusammenbleiben kann. Solche Mentalitätsgeschichten sind wahrscheinlich doch etwas ähnlich. Aber es gibt auch Unterschiede: Basel ist eine sehr internationale Stadt, mit vielen Sprachen, obwohl die Stadt klein ist. Während Tokyo, wo ich herkomme, eine riesige Stadt ist, in der 12 Millionen Leute leben, also doppelt so viele wie in der gesamten Schweiz.
Und trotzdem kann kaum jemand etwas anderes als Japanisch sprechen. Das ist ein großer Unterschied.

Gülich/Lüdi: Sie sind 1979 zum ersten Mal nach Deutschland gekommen und zwar mit der transsibirischen Eisenbahn, eine Reise, die viele Tage in Anspruch nimmt. War das eine bewusst langsame Annäherung an Deutschland bezjehungsweise an Europa?

Tawada: Ich wollte in Russland sein, das ist der Grund. Damals konnte man nicht so einfach mit Leuten in der Sowjetunion reden. Im Zug aber hatte jeder Langeweile. Und da es da keine Polizei gab, konnte ich in Ruhe mit den Russen sprechen. Damals habe ich auch noch sehr gerne russische Literatur gelesen. Da gibt es immer wieder diese Szenen, in denen die Leute tagelang im Zugabteil ihre Lebensgeschichten erzählen. Das wollte ich. Außerdem war das damals auch billiger als der Flug.

Gülich/Lüdi: In ihren Texten hat die Suche nach Europa immer wieder eine große Rolle gespielt. Ein Buch von Ihnen trägt den Titel Wo Europa anfängt, und eine Erzählung in Talisman heißt: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“. Haben Sie Europa in der Zwischenzeit gefunden?

Tawada: Nein, nein, in der Schweiz weiß ich wieder nicht, was Europa ist. In dem Text Wo Europa anfängt geht es ja auch darum, dass es ganz viele verschiedene Europas gibt. Was sich zum Beispiel die Russen darunter vorstellen, ist etwas ganz anderes als das, was sich die Westeuropäer darunter vorstellen. Für die japanischen Touristen bleibt Europa immer noch die Vorstellung von Europa. Das sind Postkarten, das sind Bilder, Landschaften und Stadtbilder, die man sehen möchte als Touristin. Aber das bleibt sehr imaginär. Das ist ähnlich wie mit dem Orient. Also das Bild, das wir in Europa vom Orient haben. Die europäische Kultur oder Kulturen werden nur dann sichtbar, wenn man sie mit etwas anderem vergleicht. Insofern kann man nicht von der europäischen Kultur sprechen, sondern nur von einem Bild einer oder mehrerer Kulturen. Europa gibt es nicht, heißt, dass es eigentlich viele Europas gibt.

Gülich/Lüdi: Können Sie mit dem Begriff Heimat etwas anfangen?

Tawada: Nein, ich glaube nicht. Heimat hat so etwas Ländliches, Idyllisches für mich. Aber Tokyo, wo ich herkomme, ist viel größer als alle andere Städte, in denen ich danach war. Ich kann nicht sagen, dass Tokyo für mich vertraut wäre im Sinne von Heimat. Ich verlaufe mich in Tokyo sehr viel. Viel, viel mehr als in allen anderen Städten. In der Heimat muss man sich auskennen. Das tue ich nicht. Tokyo hat mir schon von Anfang an ein Stadtbild vermittelt, in dem man nichts findet. Und das ist meine Geburtsstadt, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin.

Gülich/Lüdi: Falls es so wäre, dass Sie weder hier in Europa, noch dort in Japan sind, wie es manchmal beim Lesen Ihrer Texte den Anschein hat, wäre das aus freien Stücken so?

Tawada: Ich möchte das sicher so haben. Für mich ist es immer dann qualvoll, wenn man an einem Ort oder in einer Kultur nichts Neues mehr entdecken kann. Wenn mir die Kultur nicht fremd vorkommen würde, wenn man das Gefühl haben würde, man ist zwangsläufig ein Teil davon, man hat keine Chance, sie von außen zu sehen. Das möchte ich nirgendwo haben. Ich möchte mich wohlfühlen in der Stadt, in der ich lebe, auch wenn es nur für kurze Zeit ist. In Basel oder in Hamburg, auch in Tokyo. Deshalb ist es für mich notwendig, dass ich nicht zur Kultur dazugehören muss, aber dass ich sie interessant finden kann.

Gülich/Lüdi: Sie schreiben sowohl auf Deutsch als auch auf Japanisch. Gibt es, wenn Sie beginnen zu schreiben, eine bewusste Entscheidung für die eine oder die andere Sprache, oder sucht sich der Text die Sprache selbst?

Tawada: Eine Idee entsteht meistens schon mit einer Sprache zusammen. Während ich schreibe, wechsle ich manchmal – nur im Kopf, nicht im Text – in eine anderen Sprache, um den Text, den ich gerade schreibe, noch mal anders zu lesen oder zu sehen, was ich da überhaupt tue, was ich überhaupt schreibe. Aber beim Schreiben bleibe ich dann in derselben Sprache.

Gülich/Lüdi: Haben Sie so etwas wie Lieblingswörter?

Tawada: Ja, die gibt es. Mehrere, wechselnd. Im Moment ist mein Lieblingswort Wirbelsäule. Ohne Zweifel.

Gülich/Lüdi: Ist auch schon ein Schweizer Wort hinzugekommen?

Tawada: Ich sehe manchmal witzige Wörter, aber die sind so verrückt, dass ich mir die nicht merken kann.

Gülich/Lüdi: Während einer Ihrer Lesungen, bei der Sie auch einen japanischen Text lasen, schien mir, dass sich Ihre Stimme dabei veränderte, lebendiger wurde. Deckt sich das mit Ihrer Empfindung?

Tawada: Ja. Vor allem dieses Befreitsein von Bedeutung. Weil die meisten den Text nicht verstehen, fühle ich mich auch nicht verantwortlich für den Inhalt. Dann bin ich ganz Stimme, und das ist sehr befriedigend. Bei deutschen Texten denke ich an den Inhalt und bin sehr ernst dabei. Das war wahrscheinlich der Unterschied.

Gülich/Lüdi: In Ihren Texten zeigt sich immer wieder ein Blick auf Deutschland und die Eigentümlichkeiten der deutscben Sprache, der in seinem Staunen wie aber auch in seiner Ernsthaftigkeit an den Blick eines Kindes erinnert. Jetzt leben Sie seit annähernd zwanzig Jahren in Deutschland. Wie hat sich Ihr Staunen verändert in dieser Zeit?

Tawada: Am Anfang, in den ersten zehn Jahren, gab es kein Staunen. Es gab nur Lernen. Man hat keine Zeit. Man kann sich nicht erlauben zu staunen. Denn wenn man etwas falsch sagt, ist es wirklich peinlich, und da gibt es nichts zu lachen. Und man möchte wirklich wissen, was die Wörter bedeuten. Selbst wenn ein Wort komisch ist, ist man so ernst beim Lernen, dass man gar nicht darüber lachen kann. Und erst nach zehn Jahren, wenn man alles ganz normal findet, entsteht ein Raum, ein Freiraum zum Nachdenken. An die Spuren der ersten Empfindungen, dass man irgendein Wort nicht mochte oder nicht aussprechen konnte oder komisch fand, erinnert man sich ganz leicht. Und dann kann man darüber nachdenken, warum das eigentlich so war. Das ist die Phase, die danach kommt, nach zehn Jahren etwa. Dann beschäftigt man sich auch wissenschaftlich damit, linguistisch oder historisch. Und man baut das ein, als hätte man es privat erlebt, aber man hat alles aus Büchern gelernt; was ein Wort oder ein Phänomen für eine Geschichte hat und dass man darüber staunen kann. Die Sprache überhaupt ist sehr erstaunlich, finde ich, auch die Muttersprache. Später habe ich auch mit der japanischen Sprache gearbeitet, also japanische Sprache als Sprache selbst, habe Wörter, die auch seltsam sind, gesammelt, und von dort aus ein Assoziationsnetz gebaut und literarische Texte geschrieben. In meinem nächsten Buch, das nächstes Jahr erscheint, geht es oft darum, dass die deutsche Sprache ins Ausland geht, Sprache auf Reisen also. Zum Beispiel eine Geschichte über eine Deutsche, die vor 40 Jahren nach Amerika ausgewandert ist. Wenn sie jetzt deutsch spricht, versteht man sie immer noch, aber einige Ausdrücke sind verwandelt. Arten von Amerikanismen, überraschende, sehr poetisch inspirierende Ausdrücke. Oder es gibt eine Geschichte über eine Frau, die in einer Sprache träumt, und sie weiß nicht, welche Sprache das ist. Sie hat diese Sprache nie gelernt. Sie ist ähnlich wie Deutsch, aber verschoben und ein bisschen falsch, und sie fragt sich die ganze Zeit, was für eine Sprache das ist. Und eines Tages kommt sie zufällig darauf, dass es Afrikaans ist. Das ist geographisch ein bisschen verschoben nach Holland und historisch nach Afrika. Es geht nicht darum, dass eine Ich-Figur mit der deutschen Sprache etwas erfährt, sondern die deutsche Sprache geht woanders hin und verschiebt sich wie im Traum und erzeugt merkwürdige Bilder.

Gülich/Lüdi: Es ist offensichtlich, dass Sie eine sehr gute und genaue Beobachterin sind. Quält Sie das manchmal?

Tawada: Nein, das nicht. Beobachten geschieht immer aus einer sicheren Position heraus, und nichts geht mich etwas an. Das quält mich nicht. Was mich quält, ist, dass die Leute trotzdem überraschend Sprachgewalt ausüben. Das kommt ja im Alltag vor. Diese Situationen quälen mich. Aber Beobachten nicht, das ist immer schön.

Gülich/Lüdi: Können Sie darüber verfügen, können Sie auch sagen, jetzt beobachte ich mal nicht?

Tawada: Tendenziell beobachte ich immer. Aber da es ja nicht immer etwas Interessantes zu beobachten gibt, habe ich sehr viele Pausen.

Gülich/Lüdi: Hätten Sie Lust, eine eigene Sprache erfinden?

Tawada: Vielleicht nicht im Alltag, dann werde ich ja ganz einsam. Aber so eine musikalische Sprache, die sehr interessant klingt und bei der zwar nicht so klar ist, was sie bedeutet, die aber trotzdem für viele Leute etwas aussagt. Das muss nicht irgendeine Botschaft sein, sondern eher etwas Gefühlsmäßiges. So eine Sprache würde ich gern schreiben und auch vorlesen. Ich lese manchmal japanisch vor in Deutschland, und keiner versteht mich, und trotzdem sagt diese Sprache etwas. Man weiß nicht was, aber sie sagt etwas, und dieses Sagen interessiert mich sehr. In diesem Sinne würde mich interessieren, in einer Sprache zu schreiben, die diese Wirkung für alle hat oder für viele und die nicht auf eine existierende Sprache zurückzuführen ist. Das würde mich schon interessieren.

Gülich/Lüdi: 1987 hatten sie Ihre erste Buchveröffentlichung in Deutschland, 1992 in Japan. Aber bereits mit zwölf haben Sie einen Roman geschrieben haben, den Sie in Kopien verteilt haben. Was war das für eine Geschichte?

Tawada: Die erste Geschichte war eher so eine Abenteuergeschichte, mit Reisen durch Phantasieländer, eine Kindergeschichte. Die anderen waren Jugendliteratur, also was junge Leute in und außerhalb der Schule erfahren, mit Freunden und was weiß ich. Solche Alltagsgeschichten, realistisch geschrieben.

Gülich/Lüdi: Die taz hat einmal über Sie geschrieben: „Yoko Tawada beschreibt die Welt so, wie sie aussähe, könnte man gleichzeitig träumen und hellwach sein.“ Beschreibt das auch ein bisschen Ihren Zustand beim Schreiben?

Tawada: Ja, ich denke schon. Bei mir nützt das nichts, richtige Träume aufzuschreiben. Im Schlaf schlafe ich, und was man einmal geträumt hat, ist schon weggeträumt. Dem nachzuhängen bringt nichts. Aber im hellwachen Zustand kann man etwas Ähnliches erreichen. Man kann versuchen, verschiedene Arten der Logik, also Traumlogik und andere Arten, gleichzeitig zu denken und dadurch einen anderen Zustand zu erreichen als im Wachsein. Und trotzdem ganz anders als im Schlaf.

Gülich/Lüdi: Würde es Sie kränken, wenn man über manche Ihrer Texte sagen würde, sie haben etwas Flüchtiges, oder würden Sie das ganz im Gegenteil als ein großes Lob ansehen?

Tawada: Ja, das finde ich ganz gut. Aber das ist in Deutschland vielleicht ein bisschen negativ. Für mich ist flüchtig ganz gut. Es ist für mich beim Schreiben und auch beim Lesen wichtig, dass ich in jedem Satz oder bei jedem Wort das Gefühl habe, jetzt in diesem Moment entsteht dieses Bild oder dieser Gedanke. Aber es verschwindet natürlich, weil das nächste Bild kommt. Ich möchte keine Bücher lesen und auch nicht schreiben, die nur Zusammenfassungen von fertig gedachten Sachen sind oder mir zumindest so vorkommen. Solche Schreibweisen, bei denen man das Gefühl hat, da ist eine Gedankenlinie von Anfang bis Ende fertig, das steht fest und man hat es nur noch mal erzählt, um eine Art Zusammenfassung zu vermitteln. Die kann man dann gut behalten, aber da ist keine Lebendigkeit mehr drin. Wenn dagegen jedes Detail, jeder Teil und jede Dimension in einem Text beim Lesen blitzt, dann ist das sehr verwirrend. Man kann vielleicht nichts davon behalten, aber jeder Moment der Lektüre ist dann lebendig. Da zeigt sich etwas Sinnlich-Körperliches. Und auch die Vernunft ist nicht ausgeschlossen. Man hat etwas wahrgenommen. Ja, in diesem Sinne. Flüchtig ist gut.

Gülich/Lüdi: Fällt Ihnen das Schreiben leicht oder ist es häufig auch ein heftiges Ringen mit dem Text, bis er diesen leichten, fast schwebenden Zustand erreicht, der Ihre Texte häufig auszeichnet.

Tawada: Ja, das ist meistens schwer, besonders am Anfang. Da muss ich wirklich ganz lange daran arbeiten. Auch wenn ich das Gefühl habe, ganz genau zu wissen, wie der Text aussehen sollte. Das schreibe ich auf, aber die erste Fassung ist wirklich nicht, das, was ich meine. Die Idee ist zwar oft konkret zu spüren, hat aber nichts Konkretes. Und bis sie wirklich eine Form hat, ist es ein sehr langer Weg. Wenn ich nicht genug Erfahrungen hätte, dass so etwas trotzdem zu einem Text führt, würde ich sofort aufgeben. Die ersten vielleicht fünf, sechs Tage bei einem Text sind ganz schwierig. Und komischerweise wird es im Laufe der Jahre nicht leichter. Bei vielen Sachen wird es jeden Tag leichter. Autofahren zum Beispiel, das ich ganz schlecht kann. Trotzdem merkt man, dass man besser wird. Aber beim Schreiben wird man nie besser, nur das Wissen, dass so etwas Schreckliches eines Tages trotzdem zu einem Text führen kann, dieses Wissen tröstet. Aber leichter wird es nicht.

Gülich/Lüdi: Sie haben einige Ihrer deutschen Erzählungen ins Japanische übertragen, soviel ich weiß aber keine japanische im Deutsche. Gibt es dafür einen Grund?

Tawada: Wenn ich Deutsch ins Japanische übertrage, komme ich dadurch auf japanische Sätze, die ich sonst nie so schreiben würde. Das ist witzig, und ich kann neue Möglichkeiten in mir entdecken. Der umgekehrte Weg hat für mich wenig Sinn, mich interessiert das nicht. Vom Japanischen ins Deutsche ist es ein sehr langer Weg, der für mich eher den Fleiß einer Japanologin verlangt als Kreativität und Experimentierfreude. Das ist sehr mühsam. Aber vielleicht werde ich es doch einmal machen. Nicht diese erzählte Prosa, die ich auf Japanisch geschrieben habe. Eher ganz kurze Prosa-Gedichte, die ich zwar auf Japanisch geschrieben, aber im Kopf halb auf Deutsch gedacht habe. Solche Texte würde ich schon übersetzen, denke ich.

Gülich/Lüdi: Als wir den Termin für dieses Gespräch ausgemacht haben, sagten Sie, dass es vormittags nicht gehe, weil Sie da schreiben. Das klingt nach großer Disziplin. Wie wichtig sind solche festen Arbeitsstrukturen für Sie?

Tawada: Sehr wichtig. Weil es sehr, sehr selten ist, dass man wirklich schreiben kann. Ein Zustand, in dem man schreiben kann, hat viele Bedingungen. Oft ist die Idee da, aber man hat keine Kraft. Oder man möchte schreiben, und der Kopf ist leer. Man hat Ideen, ist aber erschöpft. All diese Sachen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit ein bisschen größer, wenn man wenigstens jeden Tag vormittags schreibt. Trotzdem ist es selten, dass etwas zustande kommt, das man nicht wegschmeißen muss. Aber trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich größer. Sonst würde ich nur eine Zeile im Monat schreiben können. Zudem hat regelmäßiges Schreiben ja auch etwas Ritualartiges. Wenn der Körper weiß, man steht auf, und dann ist Schreiben, richtet er sich darauf unbewusst ein. Kopf und Augen, Stimmung oder was weiß ich. Es ist für mich schwer zu schreiben, nachdem ich bereits mit Leuten gesprochen habe. Beim Gespräch versucht man, sich verständlich auszudrücken, kommunikativ zu sein. Das ist ein bisschen eine andere Art, mit der Sprache umzugehen. Man achtet nicht darauf, wo die Sprache blitzt oder lebendig und interessant wird, sondern man versucht etwas zu erklären. Wenn man den Kopf einmal so eingestellt hat, kann man an diesem Tag nicht mehr zurückschalten. Weil der andere Zustand sehr fragil und unbestimmt ist. Und daher möchte ich vormittags asozial sein und erst später unter Menschen gehen.

Gülich/Lüdi: Sie wohnen in einem ehemaligen Lotsenhäuschen mit Sicht auf den Hamburger Hafen. In einem ihrer Texte gibt es einen Hinweis auf die Gebärmutter. Wie wichtig ist Ihnen die Wohnung als Ort zum Schreiben?

Tawada: Weil ich viel unterwegs bin, bin ich nicht immer in meinem Lotsenhäuschen, sondern oft woanders. Aber wenn ich schreibe, dann bildet sich so ein Raum um mich herum, und dieser Raum ist nicht immer sehr groß. Er ist noch kleiner als das Lotsenhäuschen. Auch wenn ich in einem relativ großen Raum bin, wie zum Beispiel hier in Basel, was ja sehr angenehm ist, bin ich beim Schreiben in so einem gebärmutterähnlichen oder kokonartigen Raum, mit unsichtbaren Wänden. Oder auch im Zug oder im Wartesaal eines Bahnhofs. Wenn ich dort schreiben muss, bin ich ganz allein in diesem Raum. Insofern spielt es keine wesentliche Rolle, wie der Raum tatsächlich aussieht.

Gülich/Lüdi: In Opium für Ovid, ihrem jüngsten Buch, steht an einer Stelle, dass alle Bücher durch Adern miteinander verbunden sind. Und in Talisman heißt es in einer Geschichte, dass Bücher wie Betten sind, weil man in ihnen träumen kann. Zu welchen Büchern anderer Autoren führen Ihre lebendigsten Adern, in welchen träumen Sie am intensivsten?

Tawada: Ich habe im Moment keine Lieblingsautoren, die mich ganz stark interessieren oder mit denen ich sehr verbunden bin. Aber im Laufe der Jahre hatte ich natürlich sehr viele Bücher, vielleicht auch nur Teile eines Buches, die mit anderen Büchern und mit meinem Schreiben zusammenhängen. Es gibt schon einige Autoren, die ich durch all die Jahre gern gelesen habe. So wie Franz Kafka, den ich schon als Jugendliche gut fand, und für dessen Bücher ich immer wieder neue Lesarten gefunden habe. Im Gegensatz dazu gibt es Autoren, die nur eine Zeitlang wichtig sind. Im Moment bereite ich mich auf meine Chinareise vor. Dort gibt es ein Treffen mit chinesischen Autorinnen. Ich habe Texte von zwanzig Gegenwartsautorinnen aus der Volksrepublik China mit den japanischen Übersetzungen bekommen. Die sind so überraschend, so überwältigend interessant. In den letzten zwei Wochen habe ich nur darin gelesen. Sie sind sehr modern und sehr archaisch zugleich. Sehr interessante, sehr klare Bilder, die einem realistisch vorkommen, die man aber auch von den chinesischen Klassikern her kennt. Wobei Klassiker fast zu modern klingt. Aus den alten Gedichten von Konfuzius und aus den Schriften, die 2500 Jahre alt sind. Auch Kommunistisches. Diese Kombination fasziniert mich. In den letzten zwei Wochen war ich nur damit beschäftigt. Davor wurde mir immer wieder der alemannische Dichter Johann Peter Hebel empfohlen, von dem ich nie etwas gelesen hatte. Und weil hier seine Statue steht und ich jetzt in Basel bin, habe ich mir Bücher von ihm gekauft. Einige Geschichten kannte ich sogar, ohne dass ich von dem Autor etwas wusste. Der Rhythmus der Sprache kommt mir irgendwie bekannt vor, ohne dass ich wüsste, woher. Dieser Rhythmus hat mich sehr beschäftigt. Das war vor etwa drei Wochen. Eine Geschichte, die bekannte Geschichte mit „Kannitverstan“, ist für mich mit russischen Anekdoten verbunden, in denen man durch kuriose kleine sprachliche Missverständnisse zur großen Erkenntnis kommt. In meinem neuen Buch gibt es einige Prosatexte, in denen es darum geht, dass man Wörter missversteht und dadurch etwas passiert. Die Sprache zwingt die Welt, etwas zu machen. Die Sprachen sind die handelnden Subjekte und nicht die Menschen. Und innerhalb der Sprachen die ganz kleinen Wörter, nicht die richtigen, sondern immer die falsch verstandenen. Das ist ein Thema, das für mich wichtig ist und das ich überraschenderweise überall, in ganz verschiedenen Literaturen aus verschiedenen Ländern und Zeiten entdecke.

Gülich/Lüdi: Man kennt Sie nicht nur über Ihre Bücher und Ihre Lesungen, sondern auch als Performance-Künstlerin. Bauen diese beiden unterschiedlichen Formen des Auftretens für Sie aufeinander auf, oder sind das für Sie ganz eigenständige künstlerische Ausdrucksformen?

Tawada: Schon eine Lesung ist eine eigenständige Form, selbst wenn das keine Performance ist, sondern eine ganz normale Lesung. Ich merke, dass nicht jeder Text dafür geeignet ist. Es gibt viele Texte, die für mich wichtig sind, von denen ich möchte, dass die Leute sie lesen. Trotzdem sind sie überhaupt nicht geeignet zum Vorlesen. Insofern sind Lesung und Bücher schreiben zwei verschiedene Möglichkeiten. Lesungen gibt es ja nicht überall auf der Welt, nur in bestimmten Ländern. Sehr stark im deutschsprachigen Raum, und durch diese Besonderheit, ist mir die klangliche Ebene, das Akustische des Textes sehr bewusst geworden. Insofern hat die Lesung Einfluss auf mein Schreiben. Ich höre meinen Text laut, während ich schreibe, und das war, als ich in Japan lebte, noch nicht der Fall.

Gülich/Lüdi: Eine praktische Frage: Wie schreiben Sie, wenn Sie auf Japanisch schreiben?

Tawada: Also mein Mac kann Japanisch schreiben. Das heißt, man muss das so tippen, wie man es ausspricht. Dann drückt man eine Taste, und es kommt ein Idiogramm. Aber es ist nicht immer das richtige, weil es viele verschiedene Möglichkeiten gibt. Dann muss man solange drücken, bis das richtige kommt. Japanisch schreibe ich die erste Fassung oft per Hand. Weil dieses mehrmalige Drücken mich verwirrt. Da kommen so viele andere interessante Wörter, dass ich plötzlich etwas ganz anderes schreiben will.

Gülich/Lüdi: Noch ein Wort zu Ihrem Verlag. Sie sind seit Ihrer ersten Buchveröffentlichung in Deutschland Ihrem Verlag, dem Konkursbuch Verlag in Tübingen, treu geblieben und das, obwohl man sich durchaus vorstellen kann, dass in der Zwischenzeit auch größere Verlage bei Ihnen angeklopft haben. Durchaus eine Seltenheit im heutigen Literaturbetrieb.

Tawada: Der Konkursbuch Verlag ist für mich sehr, sehr gut. Der Verlag hat viel getan, damit ich im ersten Jahr zu Lesungen eingeladen wurde, so dass das im dritten Jahr schon gar nicht mehr nötig war. Von da aus hat sich das dann weiterentwickelt. Der Verlag begleitet meine Arbeit. Ich schreibe ja ganz verschiedene Texte, auch Theaterstücke und Essays. Und Theaterstücke sind ja besonders schwer zu verkaufen. Aber der Verlag sagt nie, dass ich statt dessen einen Roman schreiben soll. Das sagen viele Verlage. Und ich hasse Romane, zumindest solche, die an der Form des Romans keinen Zweifel haben.

Gülich/Lüdi: Yoko Tawada, herzlichen Dank für das Gespräch.

Konzepte. Literatur zur Zeit, Heft 21, Dezember 2001

,Europa‘ als Schauplatz der Geburt

des Schreib-Ichs aus dem Nichts 

Man kann die Serie der seit bald 25 Jahren in deutscher Sprache publizierten Literatur von Yoko Tawada als einen einzigen langen Kommentar zu ,Europa‘ lesen. Ihre Dichtung beginnt mit der Geste einer Verneinung Europas und gewinnt aus der Mitte des Nichts das Ich, das ihren Texten das ihnen eigene Gepräge gibt.
In einer ihrer Poetik-Vorlesungen beschreibt Tawada, wie die „Zeit der Prosa“, als Schein eines erzählerischen Kontinuums, von der „Zeit des Gedichts“ unterbrochen und gleichsam in einem Bild der Bewegung stillgestellt wird (ZoH, S. 60)1 – ähnlich jener Dialektik im Stillstand, die Walter Benjamin als Augenblick der Erkennbarkeit in der Geschichte gefasst hat. Ebenso wird Tawadas Europa-Diskurs von einzelnen Sätzen skandiert, in denen sich die end- weil ziellose Bewegung, die ,Europa‘ für ihr Schreiben darstellt, verdichtet. „Denn Europa ist ein Denkspiel, keine Zugehörigkeit“ („An der Spree“, SuS, S. 17), ist solch ein Satz. Doch der wohl markanteste von Tawadas Europa-Sätzen, der am stärksten ins Auge springt, ist der Satz:

Europa gibt es nicht.

Er bildet den Auftakt zum Auftritt der Schriftstellerin auf der literarischen Bühne, verbunden mit der Verwandlung von Tawada Yoko in den Autornamen Yoko Tawada, von der, neben anderen Beobachtungen, der Essay über die „Metamorphosen der Personennamen“ handeln wird (SuS, S. 91–102). In ihrer ersten Publikation mit Prosa und Gedichten Nur da wo du bist da ist nichts (1987) beginnt das Rahmengedicht „Touristen“ mit den Versen:

Eigentlich darf man es niemandem sagen
aber Europa
gibt es nicht.

Hier das über das Buch verteilte Gedicht: 

Eigentlich darf man es niemandem sagen
aber Europa
gibt es nicht 

Die Prozession der Kamele folgt
ihren eigenen Fußspuren
rund um den Globus
Die Grenzen ahmen den Himmel nach
Die Wüste ertrinkt im Prädikat
Grünhäutige Kinder springen mit der Horizontlinie Seil
Die Frauen vergessen sie zu gebären
und schlucken den eigenen Körper hinunter
Der Mann sagt: „Europa…“
und der Spiegel aus flimmernder Luft hat Durchfall

Seien wir Touristen und schwatzhaft
Die Reiseleiterin hebt das Heldenfähnchen
und ruft die Namen der Orte aus
Wir bannen den Duft des Daseins auf Fotos
Die Arme voll bepackt mit ausverkauften Souvenirs
gießen wir Tränen und andere Daten
auf die unerreichbare Erde
damit auf der Seite
die unserer Sprache gegenüberliegt
der Baum Europa wieder in die Höhe schießt

Eigentlich darf man es nicht laut sagen
aber wir können
ohne ihn schon nicht mehr leben
(Aus dem Japanischen: Peter Pörtner) 

Das nicht-existierende Europa und der Europa-Baum, ohne den sich nicht leben lässt, am Anfang und Ende des Gedichts sind buchstäbliche Gegen-Sätze, hinter vorgehaltener Hand gesprochen, die den Rahmen für eine wüste Szene bilden, in der es zu einer Diarrhö von Europa-Spiegelungen kommt. Diese spannungsgeladenen Bilder sind der Initialschauplatz von Tawadas Dichtung. Am nachhaltigsten scheint dabei das Nicht-Sein Europas. Denn genau in der Mitte dieser Verneinung hat Yoko Tawada die ihr eigene Schreibposition gefunden:

Eines Tages entdeckte ich das Wort ,ich‘ mitten in dem Wort ,Nichts‘, also das Nichts ist der Raum, in dem das kleine Wort ,ich‘ wohnt. (ZoH, S. 72) 

Was ist das für ein Ich, das sich als Bewohnerin des Nicht-Raums, eines Raums mit Namen Nicht, vorstellt? Und sich uns damit gleichsam als Kundschafterin der Heterotopien ausweist? 

Es wäre ein Irrtum, genauer: eine japonesque Verkennung, diese Art Gewinnung einer Schreibposition aus dem ,Nichts‘ vor dem Hintergrund eines ,asiatischen‘ Denkens erklären zu wollen, etwa mit dem bei europamüden Europäern so beliebten Sūnyatā der Buddhistischen Dharma-Philosophie. Denn vergleichbar verneinende, desillusionierende Aussagen wie über Europa finden sich bei Tawada auch über den Osten – „Den Osten gibt es schon längst nicht mehr“, wie es im Prosatext „Vierundzwanzig“ heißt. Und auch ,Europa‘ als Schauplatz der Geburt des Schreib-Ichs Asien kommt nicht ungeschoren davon, wird oft Gegenstand sogar noch eindeutigerer Diagnosen, in radikalerem Ton formuliert. So kann man in Tawadas postalischem Gedankenaustausch über Europa mit dem ungarischen Schriftsteller László Márton, der 2009 unter dem Titel Sonderzeichen Europa erschien, lesen:

Asien ist das Kind, geboren in der europäischen Geographie, missbraucht vom japanischen Imperialismus, das in der europäischen Fantasie über eine Welt weiterlebt, wo alles anders sein soll als im Westen, manchmal grausam, manchmal meditativ, wie man will. (SE, S. 29) 

Es ist also keineswegs die gern einem vermeintlich asiatischen Denkhabitus zugeschriebene Vorstellung vom Nichts oder der Leere, aus der sich das Schreib-Ich Tawadas ableitet, vielmehr entspringt es den immer wieder neu ansetzenden Bewegungen der Negation einer Europa-Ontologie. 

Vor der Entwicklung von Landkarten, die in virtueller Vogelperspektive einen Überblick über ein ganzes Territorium ermöglichen, indem sie den heterogenen, dreidimensionalen Raum auf eine zweidimensionale Fläche projizieren, benutzte man piktografische Wege-, beziehungsweise Reisekarten. Auf ihnen ist die Route einer Reise quer durch verschiedene Länder über mehrere Stationen hinweg verzeichnet, während die einzelnen Orte durch bildliche Darstellungen markiert sind, die die Reiseroute unterbrechen und gliedern. Ähnlich bilden die Europa-Sätze Stationen in Tawadas Literatur, die sich insgesamt als ein einziges Itinerarium darstellt. Hier nur einige der Stationen: „Eigentlich darf man es niemandem sagen / aber Europa / gibt es nicht.“ – „Wo Europa anfängt“ – „Ich lernte auch einen Schamanen kennen, aber nicht in Sibirien, sondern viel später in einem Völkerkundemuseum in Europa.“ (WEa, S. 77) – „Ich wollte eher behaupten, dass Europa bereits im Ursprung als eine Verlust-Figur erfunden wurde.“ (Ta 49) – „Man könnte Europa nicht nur als eine Figur, sondern auch als eine Summe von Bildern verstehen.“ (Ta, S. 50) – „Wenn meine Zunge Europa schmeckt und Europa spricht, könnte ich vielleicht die Grenze zwischen Betrachter und Objekt überschreiten.“ (Ta, S. 50) – „Europa ist ein Denkspiel, keine Zugehörigkeit.“ (SuS, S. 17) – „Aber ich brauche Asien nicht, um Europa von außen betrachten zu können.“ (SE, S. 29) – „Also was ist Europa?“ (SE, S. 32)
Dass die Passage, der der Befund über Europa als Denkspiel entnommen ist, mit einem leidenschaftslos gesprochenen „Zurück nach Europa“ beginnt, ist symptomatisch. Die Szene spielt in Berlin und handelt von der Prozedur eines Visa-Antrags bei der US-Amerikanischen Botschaft in Dahlem. Mit der Antwort, sie wolle zurück nach Europa, tritt die Erzählerin hier dem Generalverdacht entgegen, sich mit dem Visum eine Einwanderung in die USA ermogeln zu wollen („An der Spree“, SuS, S. 17). Doch wie bei allen derartigen Szenen in Tawadas Texten ist in der alltäglichen Bedeutung der Worte ein hintergründiger Sinn mitzuhören – ähnlich jenen Obertönen, über die der Prosatext „Der Klang der Geister“ spricht, der als Poetologie Tawadas lesbar ist. Denn ihre Schreibweise öffnet den Schriftraum zu jener Mehrstimmigkeit, von der dieser Essay handelt: das Hören von mehreren Stimmen in einer Stimme. Dabei kann der Grundton, das ist der gewöhnliche Sinn der Worte, durchaus in den Hintergrund geraten, wenn nicht manchmal sogar ganz verschwinden:

Wenn ich mich auf die Obertöne konzentriere, so verschwindet der Hauptton. Ich höre keine Melodie mehr, die mein Hören nur in eine Richtung lenkt. (Ta, S. 113) 

In dieser Mehrstimmigkeit wird das ,Zurück‘ zu einer komplexen Konstellation; in ihr wird das ursprüngliche Ziel zu einer Reflexionsfigur:

„Zurück nach Europa“, sagte ich ohne Leidenschaft, denn Europa ist ein Denkspiel, keine Zugehörigkeit (SuS, S. 17).

Nach Europa zu gehen, Europa aufzusuchen, bedeutet immer ein ,zurück‘, eine Rückwendung, eine Umkehr des Blicks zurück auf die Spuren seiner Genese, die sich in den vielfältigen Bildern, Erzählungen und Begriffen verlieren. „Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Leben in Schrift verwandelt“,2 wie Walter Benjamin in seinem wunderbaren Essay über Franz Kafka formuliert hat.
Aus einer solchen Umkehr des Blicks mag sich auch die Schreibweise Tawadas erklären. Die meisten ihrer Prosatexte, ob Roman, Erzählung oder Essay, werden aus der Perspektive eines Ichs erzählt – überflüssig zu erwähnen, dass dieses Ich nicht mit dem Ich der biografischen Person identisch ist –, und die Mehrzahl von ihnen kommen in einer Zeitform der Vergangenheit daher, wobei das Präteritum deutlich dominiert. Auch Beobachtungen und Begebenheiten, die nicht unbedingt vergangen oder abgeschlossen sind, werden in vielen Texten in der Sprach- und Zeitform des Präteritums präsentiert: Das ist Tawadas Zeit der Prosa. Auf diese Weise entsteht keine Illusion von Unmittelbarkeit; stattdessen ist eine zeitliche Differenz zwischen das erzählende ,Ich‘ und die Begebenheiten getreten, wodurch ein Reflexionsraum geöffnet wird. Was das Ich den Lesern als wahrgenommen berichtet, muss also nicht genau so sein. Es kann so gewesen sein, sich nun aber, rückblickend, in einem anderen Licht zeigen. Das erzählende Ich tritt auf diese Weise als Erzähl- und Reflexionsinstanz zugleich auf.
Als Bewohnerin des Nichts ist das Ich von Tawadas Literatur eine Expertin anderer Orte, der Heterotopien. Damit ist sie auch geschult durch jene Spiegelszene, die in Michel Foucaults gleichnamigem Text3 als exemplarischer Schauplatz für jene komplexe Struktur steht, die mit jeder Verortung einhergeht. Anders nämlich als eine populäre Rezeption von Foucaults „Heterotopien“ es will, in der diese als Pathosformeln für Orte außerhalb der sozialen oder symbolischen Ordnung interpretiert werden, reflektiert Foucaults Text die Spiegelszene als Bedingung jeder Verortung. Es ist die Konstellation einer Spaltung zwischen realem und virtuellem Ort, aus der erst die Position des Subjekts entstehen kann. Erst der virtuelle Raum (im Spiegel) ermöglicht ja ein Bild, in dem der Platz des Subjekts, das sich auf andere Weise nicht selbst wahrzunehmen vermag, für dieses selbst sichtbar und wirklich wird, während dieser Platz zugleich als Effekt eines virtuellen Bildes, des Spiegelbildes, und damit als unwirklich erkennbar ist. Nur wenn man an diese Art Spiegelszene denkt, gewinnt die Feststellung, dass Tawadas Europabilder uns einen Spiegel vorhalten, einen wirklichen Sinn. Die Europabilder und -sätze reflektieren die Kulturtechnik des Imaginären, die jene Bilder zusammen mit unserem Ort hervorbringt. Das hat nichts mit Ideologiekritik zu tun, denn es schneidet ins Fleisch. Wie es schon in Tawadas erstem Gedicht hieß: So wie unsere Tränen den Baum Europa wachsen lassen, können wir ohne ihn nicht leben. 

Benjamins Formulierung von der Verwandlung des Lebens in Schrift ließe sich also trefflich als Motto für Tawadas Literatur verwenden. Allerdings, so müsste man umgehend hinzufügen, gibt es die Schrift bei Tawada nicht im Singular. Vielmehr bilden Sprache und Schrift im Plural das Operationsfeld ihres Studiums. Den Klang-, Schrift- und Sprachbildern, denen die Schreibende auf ihren Übergängen zwischen verschiedenen Schriftordnungen begegnet, entlockt ihr studierendes Schreiben eine Fülle an Beobachtungen, die oft an den Grund unserer gewohnten geografischen Ordnung rühren und unseren politischen Kompass durcheinanderbringen. Beispielsweise im Essay „Ist Europa westlich?“:

Man stellt sich gerne die Tradition der ,westlichen‘ Kultur als eine einzige Entwicklungslinie vor. Aber diese Linie ist eine Fiktion, die mühsam gestaltet worden ist. Zum Beispiel betrachtet man gerne die altgriechische Kultur als einen wichtigen Bestandteil dieser Linie, dafür schließt man gerne den Einfluss der arabischen Mathematik und Naturwissenschaften aus. Aber ich habe noch nie eine Spur von der altgriechischen Kultur in Hamburg gesehen. Dagegen kann man in einem Tempel in der japanischen Stadt Nara, der Endstation der Seidenstraße, ein Ornament von Trauben sehen, das aus Griechenland überliefert wurde. Die Früchte aus Stein sind immer noch nicht verfault, obwohl sie über tausend Jahre alt sind und davor über tausend Jahre unterwegs gewesen sind. (IEw, S. 36) 

Oder im selben Essay an späterer Stelle:

Merkwürdigerweise begegnete ich in den USA eher dem Regionalismus als dem Globalismus. Ich meine damit nicht etwa die Minderheiten wie Amish-People, die ,authentisch‘ europäisch geblieben sind, sondern ganz normale Studenten an den Universitäten in der Provinz. (IEw, S. 38) 

In Tawadas Texten ist die Schreibende fast durchweg auf Reisen, vorzugsweise auf umwegigen Routen und mit eher langsamen Verkehrsmitteln. Dafür steht die Ursprungsmythe der Autorin, die Erzählung von ihrer ersten Reise nach Europa im Jahre 1979, die sie mit der Transsibirischen Eisenbahn unternommen hat. Doch bildet diese Reise nur den Anfang unentwegten Unterwegsseins. Dieses führt die Autorin nicht nur auf alle Kontinente dieser Erde, es bringt sie auch wiederholt an dieselben Orte zurück, denen sie sich dann jedoch gern auf anderem Wege als beim ersten Mal nähert. Dazu gehört zum Beispiel die erneute, ein Vierteljahrhundert nach der Erstüberquerung der Grenze zwischen Japan und Russland unternommene Reise mit dem Schiff von Wakkanai nach Sachalin, von der die Erzählung „U. S. + S. R. Eine Sauna in Fernosteuropa“ zu berichten weiß (SuS, S. 124–153). In den Begegnungen und Gesprächen mit den Mitreisenden, überwiegend japanisch sprechende „Bürger der Russischen Föderation“, erscheinen diese weniger als Reisende oder Grenzgänger denn als Bewohner eines Grenzraums. Die Schiffspassage zwischen der nördlichsten Stadt Japans auf der Insel Hokkaido und der größten Insel Russlands im Osten des Kontinents, deren Szenen mit Bildern aus New York überblendet werden, wird in der Erzählung zum Porträt einer globalisierten Welt der Migranten: Diese treten in Tawadas Literatur als Wanderer zwischen den Kulturen auf, während die Räume, die von ihnen bewohnt werden, sich immer weiter über den Globus ausdehnen.
Russland kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu, weil es sich als Grenzraum zwischen Europa und Asien darstellt, ein schier endlos ausgedehnter Raum, in dessen Mitte Europa anfängt beziehungsweise aufhört – je nachdem, ob man mit der Transsibirischen Eisenbahn in Moskau ankommt oder von dort die Reise beginnt. Der Euroasiatische Kontinent ist für Tawada der Raum der Eisenbahn schlechthin; ihm ist ein Buch gewidmet, das zum japanischen Parallelwerk Tawadas gehört. Denn wenn hier, im deutschsprachigen Kontext, über Yoko Tawadas Literatur gesprochen wird, betrifft dies ja überwiegend nur den einen Teil ihres Gesamtwerks, das als Ganzes einem Paar zweieiiger Zwillinge ähnelt. Zu den Besonderheiten ihres Œuvres gehört es, dass es aus zwei weitgehend unabhängigen Teilen besteht: Neben dem deutschsprachig publizierten, derweil an die 20 Titel umfassenden Werk existiert ein in Japan publiziertes, zumeist auf Japanisch geschriebenes Werk. Bei nur drei von dessen 21 Veröffentlichungen handelt es sich um Übersetzungen von Büchern, die auch auf Deutsch erschienen sind. Alles andere sind eigene, andere Titel, von denen bisher keines ins Deutsche, wohl aber einige in andere Sprachen übersetzt worden sind. Insofern ist der Kreis derjenigen Leser, die das gesamte Werk Tawadas kennen, relativ begrenzt. Alle meine Aussagen über ihre Schreibweise und alle Beobachtungen über ihre Literatur müssten also streng genommen stets mit dem Vorbehalt einer nur relativen Reichweite versehen werden.
2002 erschien im Japanischen das Buch Yogisha no yako ressha (ins Französische übersetzt unter dem Titel Train de nuit avec suspects, Nachtzug mit Verdächtigen). Das Buch ist Zugreisen zu verschiedenen Städten auf dem Euroasiatischen Kontinent gewidmet; es bildet den Anfang einer Trilogie. Ihm folgte 2006 das Buch Amerika – Hidoo no tairiku, das vom Reisen durch die USA mit Bus und Auto handelt. Als dritter Teil ist ein Buch geplant, das der Reise mit dem Fahrrad durch China gelten soll. In dieser Trilogie sind das Reisen und die Wahl der Verkehrsmittel, die sich in Gegenrichtung zur allgemeinen Beschleunigungskultur bewegen, zum Programm geworden.
Als Wahlverwandte der Bewohner von Grenzräumen ist für Tawada die Existenz als ,Writer in Residence‘ eine ideale Lebens- und Schreibform – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Residenz sich niemals in einen echten Wohnort, in eine dauerhafte Behausung verwandelt. Vielmehr geht Tawadas Schreiben aus den Bedingungen einer gleichsam globalisierten Existenz als ,Writer in Residence‘ hervor. Auf diese Weise hat die Autorin, die immer noch oft ins Zwangsbild einer deutsch-japanischen Autorin gesteckt wird, eine polyglotte Arbeitsweise entwickelt, die sich als Koproduktion zwischen einzelnen, exterritorial agierenden Personen aus verschiedensten Ländern erweist. Wenn Yoko Tawada beispielsweise eine japanische Adaption von Tschechows Kirschgarten unternimmt, dann läuft das nicht auf ein russisch-japanisches Theater hinaus. Im Brief vom 3. Februar 2009, den sie aus Paris an den ungarischen Briefpartner schreibt, klingt das so: 

Lieber László.
Ich bin in Paris angekommen, werde hier aber nicht fünf Jahre bleiben wie Frau Ranjewskaja in Tschechows
Kirschgarten. Ich bin hierher wegen einer Besprechung über meine japanische Adaption des Kirschgartens gekommen, die nächstes Jahr von einer israelischen Regisseurin inszeniert und von japanischen Schauspielern in Tokyo gespielt werden soll. Die Direktorin eines Theaters in Tokyo, die Regisseurin aus Tel Aviv und ich treffen einander im Haus einer japanischen Theaterkritikerin, die schon lange in Paris lebt. Insofern befinden sich unsere Gedanken ständig außerhalb von Europa oder in einem Grenzgebiet, das für mich durch ,Russland‘ verkörpert wird. Europa oder nicht Europa? – Eine ewige Frage in der russischen Literatur. (ZoH, S. 46) 

Der ständigen Gefahr, in stereotype Vorstellungen eingezwängt zu werden, vor allem in das Bild einer japanisch-deutschen Autorin, die einen fremden Blick auf Europa wirft, begegnet Tawada durch eine Vervielfältigung der Perspektiven, durch eine Vervielfältigung der Blickpunkte im konkretesten, leibhaftigen Sinne, nämlich durch die geografische Verlagerung des Aufenthalt- und Schreibortes. Ihre Texte führen uns in alle Himmelsrichtungen, um uns beispielsweise davon zu erzählen, dass ,der Westen‘ keineswegs im Westen liegt. So entwickelt Tawada in ihrem Essay „Ist Europa westlich?“ eine Kritik der Leitbegriffe des herrschenden kulturellen Koordinatensystems, insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtige Europa-Rhetorik und deren Begriff von der westlichen Kultur. Dabei zeigt sie nicht nur, wie etwa die Rede vom Europäischen sehr häufig als Deckbegriff für tabuisierte nationale Zuschreibungen funktioniert; darüber hinaus richtet sich ihre Kritik auf die dem zugrundeliegende Einteilung der Welt in Tradition und Moderne.

Die Tradition ist immer eine Fiktion. (…) Weil die Tradition fiktiv ist, gibt es keinen Grund, sich einer Tradition genetisch zugehörig zu fühlen. (IEw, S.  38) 

Damit aber stellt sich die Frage einer anderen Art von Zugehörigkeit, beispielsweise die Frage einer Zugehörigkeit zu Europa jenseits von Herkunft und Geburt. Doch im Satz „Europa ist ein Denkspiel, keine Zugehörigkeit“, dem die Leser „An der Spree“ begegnen, verdichtet sich offensichtlich eine Erfahrung des schreibenden Ichs, als Bewohnerin des Nichts im nicht-existierenden Europa, die historische Geltung beanspruchen kann. In dem Gedankenaustausch über Europa teilt Yoko Tawada ihrem Briefpartner László Márton in Budapest folgende Überlegung mit:

Ich frage mich aber, ob eine Person, die die meisten Jahre ihres Lebens in Europa verbracht hat und für immer dort bleiben will, sich als Europäerin definieren kann und will. Keiner würde ihr das verbieten, sie kann auch höchstwahrscheinlich einen Reisepass bekommen, wenn sie möchte. Aber mir kommt es verlogen vor, würde ich mich als Europäerin definieren, denn Europa versucht, im Unterschied zu den USA, seine Identität auf eine ältere Vergangenheit aufzubauen, die die Geschichte der Einwanderung der Nichteuropäer ausschließt. (SE, S. 32) 

Es ist derselbe Brief (vom 25. Dezember 2008), der in der oben zitierten Frage „Also was ist Europa?“ mündet. Dies ist eine Frage nicht nach der Vergangenheit, sondern nach der Gegenwart Europas und richtet sich damit gegen das Konzept der Tradition, das die Vergangenheit zum Identitäts- und Zugehörigkeits-Reservoir macht und diejenigen Anteile der gegenwärtigen Kultur, die sich nicht in ein solches Herleitungsmodell fügen, als „Verfälschungen und ausländische Einflüsse“ definiert (SE, S. 32). Dagegen setzt Tawada ihr Postulat, dass „alles, was in der Gegenwart existiert“, die Gegenwart ausmache. Das heißt keineswegs, dass die Vergangenheit damit aus dem Blick gerät; im Gegenteil. Im folgenden Brief (vom 3. Februar 2009) berichtet Yoko Tawada dem Briefpartner von ihrer Lektüre des „Passagen“-Projekts und zitiert ihm daraus eine Passage, in der Walter Benjamin beschreibt, wie Paris über einem Höhlensystem steht, „aus dem Geräusche der Metro und Eisenbahnen herausdröhnen, in dem jeder Omnibus, jeder Lastwagen langausgehaltenen Widerhall erweckt“. Dieser Widerhall aus dem Untergrund der Stadt wird in Benjamins Beschreibung zugleich zu einem Echo aus der Vergangenheit, wenn er im Folgenden davon spricht, dass dieses technische System sich mit altertümlichen Gewölben kreuze, „den Kalksteinbrüchen, Grotten, Katakomben, die seit dem früheren Mittelalter Jahrhunderte hindurch gewachsen“ seien.4 Tawada nimmt dieses Zitat zum Anlass, um dem Legitimationskonzept von Vergangenheit eine andere Vorstellung entgegenzusetzen: die Vergangenheit als Schallkörper.

Was sich unter den Füßen eines Flaneurs befindet, scheint keine Schatzkammer zu sein, in der die kostbare Vergangenheit unberührt aufbewahrt wird, sondern ein Schallkörper, in dem die moderne Technik die Erinnerungen durchkreuzt und einen großen Lärm produziert. Er schießt aus den Gullys und überfällt das menschliche Gehör. Welche Grammatik müssen wir kennen, um ihn als Sprache zu verstehen, anstatt einen Hörsturz zu erleiden? (SE, S. 47) 

Diese Frage nach einer Grammatik, die den Tönen aus dem Untergrund angemessen wäre, um in die Lage versetzt zu werden, in ihnen den Widerhall des Vergangenen zu erkennen, ergänzt Tawadas Poetologie der Obertöne, der die Fähigkeit, die Obertöne aus dem Grundton der gewöhnlichen Sprache herauszuhören, zugrunde liegt. Der Widerhall der Unterwelt und das Hören der Obertöne bilden zusammen eine Umgangsweise mit der Sprache, die – ohne dass Tawada sich je ausdrücklich einer politischen Rhetorik bedienen müsste – voller politischer Brisanz steckt. In dem Titelessay des Buches Sprachpolizei und Spielpolyglotte wird, ausgehend von einzelnen Versen aus Ernst Jandls Gedichten, ein ganzes Arsenal ordnungspolitischer Funktionen aufgerufen, die sämtlich allein auf dem Schauplatz grammatikalischer Vorschriften und Regeln charakterisiert werden.
Die Sonderzeichen und Umlaute werden auf Tawadas Sprach-Schauplatz dabei zum Symptom jener Merkmale und Eigenschaften, die den Transferwegen der globalisierten Kommunikation zum Opfer fallen – vergleichbar den Fremdwörtern, die nach Adornos Analyse der Fremdwörter-Phobie vieler Deutscher in seinem Essay „Wörter aus der Fremde“ wie Fremdkörper in der deutschen Sprache erscheinen.5 In Sonderzeichen Europa sind es die Sonderzeichen im Eigennamen des Briefpartners László Márton, die für eine Verschleifung des Eigensinns osteuropäischer Kulturen bei ihrer Eingemeindung in die ,westliche‘ Kultur stehen. Oder es sind die Umlaute und Ideogramme, die auf den Transferwegen der elektronischen Post über dem Atlantik und dem Pazifik verloren gehen.

Kann eine Sprache einen Ozean überfliegen? Ich bekam manchmal E-Mails mit Leerstellen. Eine Freundin aus Hamburg schrieb mir, dass die deutschen Umlaute auf dem Weg nach Amerika oft in den Atlantik fallen und darin verschwinden. Japanische Schriftzeichen hingegen fallen in den Pazifik und kommen auch nicht an. Die Ozeane sind wahrscheinlich schon mit Umlauten und Ideogrammen überfüllt. Ob Walfische Umlaute fressen? (ZoH, S. 63)

Während im Bermudadreieck der elektronischen Kommunikation die Sonderzeichen und Umlaute verschwinden und die sprachlichen Eigenheiten auf diese Weise verloren gehen, bringt im Gegensatz dazu Tawadas Schreibarbeit an den Übergängen und in den Grenzräumen der Sprachen und Schriften einen unentwegten Überschuss, einen nie versiegenden Bedeutungszuwachs hervor. Je ferner sie ein Wort anschaut, umso mehr Bedeutungen entdeckt sie darin. Das Schriftbild unbekannter oder ungewohnter Wörter – das können fremde Wörter, aber auch solche Wörter sein, die nicht durch Konventionalisierung eingemeindet sind – wird bei ihr zu einem Territorium, das voller Entdeckungsmöglichkeiten steckt. Die alphabetische Umschrift der japanischen Ideogramme ist dabei das Urbild solcherart Übersetzungen und Umschriften. Der japanisch schreibende Computer, der permanent zwischen Ideogrammen und alphabetischem Zeichen hin- und herübersetzt, wie es in dem kurzen Text „Der Apfel und die Nase“ (Usz, S. 15–17) beschrieben wird, kann als Allegorie dieser Urszene gelten. Er produziert nicht nur ständig Fehlleistungen, sondern auch einen permanten Überschuss an Sinn. Ähnlich wie Walter Benjamin im Fotoapparat die Möglichkeitsbedingung eines ,optischen Unbewussten‘ entdeckt hat,6 entdeckt Yoko Tawada im japanisch schreibenden Computer ein ,elektronisch Unbewusstes‘. Wie der Fotoapparat uns diejenigen unserer Bewegungen vor Augen führt, die wir selbst nicht wahrnehmen können, bringt die Umschrift zwischen Bilderschrift und Alphabet Bedeutungen hervor, die den bloßen Wörtern mit bloßem Auge, das heißt mit einem nur auf ein System eingestellten Auge, nicht anzusehen sind. 

Postskriptum
Der Blick zurück trifft in Tawadas Literatur nicht nur die Bilder Europas; er richtet sich mit zunehmender Intensität und Häufigkeit auch auf Japan, sowohl auf das Selbstbild Japans als auch auf das Bild, das wir uns von Japan machen. Dabei werden auch Erinnerungsbilder aus der Kindheit reflektiert und nun umgekehrt im Licht exterritorialer Spiegelszenen reflektiert. In der aktuellen durch Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall gezeichneten Gemütslage, in der das Unterste zuoberst gekehrt wird, sind sämtliche Bilder und Selbstbilder auf die Probe gestellt. Wenn in der hiesigen Öffentlichkeit nun die tieferen Schichten aus den Bilderreservoirs an die Oberfläche kommen und Deutungsmuster reaktivieren, die längst überwunden schienen; wenn ein Diskurs darüber geführt wird, wie „die Japaner sind“, dann darf man es laut sagen, dass es dieses Japan nicht gibt. Und so schaltet sich Yoko Tawada denn auch in eine Öffentlichkeit ein, zu der ihre Sprache ansonsten eher eine Distanz hält. In einem der Artikel zur post-katastrophischen Lage in Japan, die sie für Zeitungen wie Tagesspiegel, zeitonline, Christ und Welt und den Schweizer SonntagsBlick verfasst hat, schreibt sie:

Ein japanischer Autor schrieb mir, dass es seiner alten Mutter in Fukushima gut gehe. Nach diesen Katastrophen seien einige Bücher für ihn plötzlich uninteressant geworden, ohne dass er den Grund benennen könne. Er hat angefangen, eine Liste der ,erdbebensicheren‘ Bücher herzustellen, das heißt, der Bücher, die nach den Katastrophen weiterhin ihren Wert behalten. (ETR) – Eines ist sicher, Yoko Tawadas Bücher gehören zu denjenigen Büchern, die als ,erdbebensicher‘ gelten können.

Sigrid Weigel, aus TEXT+KRITIK: Yoko Tawada – Heft 191/192, edition text + kritik, Juli 2011

 

 

 

Lilian Peter: HOW TO COOK A PHALLUS #6 Aufforderung zum Zungentanz: Für eine Umwertung der literarischen Werte

Neue Überseezungen. Yoko Tawada

Hana Paseková: Verwandlungen von Tawada Yōko

Jacqueline Gutjahr: Einladung zum Spiel – den Texten von Yoko Tawada auf der Spur

Florian Gelzer: Sprachkritik bei Yoko Tawada

Peter Waterhouse: Laudatio (Manuskript 1–11, Manuskript 12–25) zum 5. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2013 an Yoko Tawada

 

„Überseezungen“: Yoko Tawada und Pia Tafdrup sprechen über „Poesie und Verfremdung“, am 10.10.2014 im Lyrik-Kabinett München, Moderation: Heinrich Detering.

 

 

Humorvoll und mit Tiefgang – Yoko Tawada

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram 1 & 2 +
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Yoko Tawada liest am 5.7.2011 im Koeppenhaus in Greifswald.

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