– Yves Bonnefoy 3 Gedichte und aus seinem Essay „La Poésie française et le principe d’identité“. –
YVES BONNEFOY
Die Schönheit
Jene, die das Sein verdirbt, die Schönheit,
Wird gemartert werden, gerädert,
Entehrt, schuldig gesprochen, in Blut
Und Schrei verkehrt und Nacht, und aller Freude beraubt.
– O Zerfetzte auf allen Gittern vor Tagesanbruch,
O Zerstampfte auf allen Straßen und Überfahrene,
Unsre hohe Verzweiflung wird sein, daß du lebst,
Unser Herz, daß du leidest, unsre Stimme,
Dich zu demütigen in deinen Tränen, Lügnerin dich
Zu heißen, die mit schwarzem Himmel uns sättigt:
Unser Begehren dennoch bleibt dein schwacher Leib,
Unser Erbarmen dies Herz, das in jeglichen Schmutz führt.
Das Ordal
I
Ich war der Wandernde in Sorge um
Ein letztes trübes Wasser. Schön war das Wetter
Im hellsten Sommer. Nacht war
Seit immer und grenzenlos und für immer.
Im Lehm der Meere
Die Chrysantheme des Schaumes und dies war immer
Der gleiche fade Erdhauch des November,
Wenn ich den schwarzen Garten trat der Toten.
Aber es war da
Eine Stimme, die Glauben heischte, und immer
Verkehrte sie sich gegen sich und immer
Erwies sie im Versiegen ihre Größe.
II
Ich weiß nicht, ob ich Sieger bin. Doch ich ergriff
Mit großem Herzen die im Stein verschlossene Waffe.
Ich sprach in der Nacht der Waffe, ich wagte
Den Sinn, und jenseits des Sinns die kalte Welt.
Für einen Augenblick
War alles Mangel,
Der rote Stahl des Seins durchstieß nicht mehr
Das Grau des Wortes.
Doch endlich stob das Feuer auf,
Das heftigste Schiff
Fuhr in den Hafen ein.
Frührot eines Zweiten Tages,
Endlich betrat ich dein brennendes Haus
Und brach das Brot, darin das ferne Wasser fließt.
Das Unvollkommene ist der Gipfel
Dies aber galt: zerstören und zerstören und zerstören,
Kein Heil als nur um diesen Preis.
Das nackte Antlitz tilgen, das im Marmor steigt,
Mit Hämmern alle Form zerschlagen, alle Schönheit.
Das Vollkommene lieben, weil es die Schwelle ist,
Doch kaum erkannt es rasch verleugnen, tot es vergessen,
Das Unvollkommene ist der Gipfel.
aus dem Essay von Yves Bonnefoy „La Poésie française et le principe d’identité“ mag manches an Gedanken erinnern wie Rilke oder Heidegger sie geäußert haben. Zweifellos handelt es sich um verwandte Erfahrungen, Bestrebungen in ähnlicher Richtung; dennoch habe ich terminologische Anklänge, die sich bisweilen fast ungerufen einstellten, zu vermeiden gesucht, weil ich sie für irreführend hielt. Auch bei Yves Bonnejoy – wie bei seinen Freunden Jacques Dupin, Philippe Jaccottet und André du Bouchet – zielt alles darauf, die Kontingenz nicht zu verfehlen, jedes Ding in dem Zufall seines Jetzt und Hier festzuhalten, nicht aber um es, wie Rilke meint, unendlich zu verwandeln in uns, sondern der Nähe, der Transparenz wegen, um einer Hoffnung willen. Auftrag ja, Gründung und Stiftung einer Ordnung, einer Gerechtigkeit ja, aber keiner anderen als einer immer ankünftigen. Was hier présence, Engel, Gesicht heißt, ist immer ein Zeichen des „geheimnisvoll Offenbaren“, für das es des rechten Blickes, des rechten Herzens bedarf; und des Vermögens, Wörter wie Namen zu gebrauchen. Eine Folge ist dann, daß jedes Gedicht zugleich Zeugnis gibt für den in ihm sich vollziehenden Schritt einer Kunst, die uns als Hörende zu Gefährten ihres Weges macht.
Friedhelm Kemp, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
oder erinnere mich – beides läuft vielleicht am Ende auf das gleiche hinaus –, wie ich an einem Sommertag ein zerfallenes Gehöft betrete: plötzlich sehe ich, auf der Mauer, eine Eidechse. Ich habe sie überrascht, erschreckt: reglos sitzt sie da. Und auch ich, der in Gedanken ging, bin wie gebannt. Ich betrachte die Eidechse, ich erkenne ihre besonderen Merkmale wie man sagt, und ich sehe auch den schmalen Hals, das graue Gesicht, das leise pochen Herz. Was weiter. Mehrere Wege stehen mir offen. Ich kann, was meine Wahrnehmung mir vermittelt, analysieren und derart, auf die Erfahrung anderer mich stützend, dieses kleine Leben da vor mir im Geiste für sich nehmen, es von den übrigen Gegebenheiten der Welt absondern es wie das Wort der Prosa täte, einordnen und zu mir sagen „eine Eidechse“, dann meinen Spaziergang fortsetzen, immer noch zerstreut, der Begegnung nicht auf den Grund dringend. Doch sind auch andere, diesem Grunde näherführende Verhaltungsweisen möglich. So kann ich etwa die Augen auf die Eidechse geheftet halten, bei den Einzelheiten verweilen, die hinreichend waren, sie zu erkennen, kann glauben, meine Untersuchung fortzusetzen, die sie mehr und mehr zu einer Eidechse macht, das heißt zu einem wissenschaftlichen Gegenstand, einer von meiner Vernunft durchformten und von Sprache durchdrungenen Realität – dies alles aber, in einem jähen Umschlag, um unter diesen plötzlich gleichsam vereinzelten Teilaspekten, in diesem Umriß einer absoluten, unwiderleglichen, weltlosen Tierhand nichts mehr zu gewahren als ein Bündel bestürzender Rätsel. Diese Dinge haben einen Namen. Aber mit einemmal ist es, als entzögen sie sich diesem Namen. Und diese Begriffe, diese Einzelheiten, diese Teilaspekte, alles dieses bietet mir nur noch etwas sinnlos Zusammenhangloses, unbefragbar, antwortlos.
Was ist das: eine Eidechse? Warum diese Eidechse jetzt, und nicht die Herdstatt, oder die Schwalbe oder die Risse im Mauerwerk? Woher unvermittelt diese „Gegenwart“? Was sich mir aufdrängt, ist die beklemmende Tautologie des gewöhnlichen Wortes, und vor mir, in mir ist nur noch ein Abgrund, aus dem die vergebliche Zeit zurückhallt. Mauvaise présence, schlechte Gegenwart möchte ich dieses jähe Verstummen der Welt nennen. Und es hat auch etwas Dämonisches, weil da am Grunde dieser Leere etwas lauert, eine Macht, die uns lockt und ansaugt. Es ist, als ob das Nichts die wirklichkeitsetzenden Akte der Existenz nachäffte, um die festgefügte Form des Seins mit seiner Nacht zu durchdringen. Ich erliege der Anziehungskraft des Todes, ja, wie dem Blick einer Schlange. Da aber finde ich, zu meinem Glück, jene Freiheit in mir, die es verneint.
Denn dies ist nun der dritte Weg: daß nämlich dieses Wirkliche, das sich da zersetzte, entzog, in einem jeweils unvermittelten Akt sich wieder versammelt, und zwar diesmal in so reichlicher Genüge, daß sie mich hält und rettet. Als hätte ich diese Eidechse erwählt, sie gelebt; und statt anderer Aspekte des Wirklichen zu ihrer Erklärung zu bedürfen, wird sie selber vielmehr, in ihrem Hiersein, als das leise pochende Herz der Erde, der Ursprung des Seienden. Sagen wir – obwohl diese Erfahrung kaum sagbar ist –, sie habe sich entschleiert, in einem reinen Akt des Existierens, der ihr Wesen in sich begreift, sei sie die Eidechse geworden – wie man auch die Fee sagt. Und weiter – denn auch das Wort gilt es zu retten: vor dem schlimmen Verlangen, alles zu definieren, – sagen wir weiter, ihre Wesenhaftigkeit habe sich allen anderen Wesen mitgeteilt, als Ausfluß einer Analogie, dank derer ich alles in der Kontinuität eines Ortes gewahre, und in der Transparenz der Einheit. Die Mauer ist gerechtfertigt, und die Herdstatt, und der Olivenbaum vor dem Haus und die Erde. Und ich, ein Zurückverwandelter in dies alles, ein Erwachter zum Geschmack seines Selbst – denn dieser Raum wölbt sich in mir als das Innere meines Daseins –, ich habe die bloße Wahrnehmung hinter mir gelassen, ich bin aus dem Fluch in die Liebe gelangt, die ein Vorwissen des Unsichtbaren ist.
Des Unsichtbaren – denn wie anders soll man das wahre Wirkliche nennen? Dieses Unsichtbare ist kein neuer Aspekt, der hinter anderen unzulänglichen sich bietet; es ist vielmehr so, daß sämtliche Aspekte, Verhärtungen des Sichtbaren, als besondere Gestaltungen sich aufgelöst haben, wie Schuppen abgefallen sind in einer Mauser der Erkenntnis, und ungehindert tritt nun das Unzerlegbare leibhaftig hervor. Die Eidechse hat sich dieser Welt der Objekte entwunden, die ein Erzeugnis des zerlegenden Verstandes ist, der immer als Unbeteiligter draußen bleiben will. Und vor mir, in mir hat sie nur noch ein Gesicht, das freilich, im materiellen Wortverstande, jenseits aller Sichtbarkeit liegt. Sie ist der Engel, wo sonst unzählige Dämonen sind, und als Engel einzig, denn das Eine ist die große Offenbarung dieses ewigen Augenblicks, wo alles sich mir schenkt, auf daß ich begreife und verknüpfe. „Mein die Sonne“ schreibt der heilige Johannes vom Kreuz, sein Wort so weit vorausschickend auf diesem Weg, der sich da abzeichnet, „mein der Mond und die Sterne, mein die Mutter Gottes“.
Diese wiederhergestellte Einheit, oder die doch zumindest sich ankündigt, nenne ich présence, Gegenwart, Anwesenheit; und zeigen wollte ich, daß in der Einheit, oder jedenfalls unter ihrem Zeichen, es nicht mehr eine Eidechse gibt im Unterschied und Gegensatz zu einer Herdstatt oder zwei oder hundert Schwalben, sondern die Eidechse, anwesend, gegenwärtig im Herzen der anderen Gegenwärtigkeiten. Auf dieser Ebene ist mit der Idee eines Wesens – gleichviel, ob diese uns gegeben oder nur erdacht ist – auch seine Existenz gesetzt, und das zerstört den Begriff, der trennt, um zu bezeichnen. In der Hoffnung auf die Ankunft will man nicht Bezeichnung: man läßt ein Licht sich befreien aus dem Dickicht der Bezeichnungen, die es verbergen.
Das heißt jedoch keineswegs, daß man die Sprache verwirft. Denn diese – und das ist der zweite Punkt, den ich unterstreichen möchte – steht in einem natürlichen Zusammenhang mit der soeben beschriebenen Erfahrung, in ihren beiden Richtungen. Auch in ihr findet eine Spaltung statt, ein klaffendes Auseinandertreten, wenn die Wörter zu bloßen Begriffen werden. In der Sprache, die zergliedert oder beschreibt, lauert gleichsam ein schlechtes Schweigen, gegen welches das Gefühl, das Begehren, der Humor – diese Unruhstifter, in denen Poesie schon andrängt – sich auflehnen. Da aber die Sprache als solche eine Struktur ist, kann sie, so wie sie uns gegeben ist, ehe noch irgend eine Formel ihren Gegenstand veräußerlicht hat, zur Chiffre der Einheit werden, die jeder Struktur innewohnt, und demnach gleichsam mit mir, in diesem Augenblick der Entscheidung, aufsteigen und zurückkehren zur Einheit des Wirklichen. Die Sprache – darum spricht man ja vom Logos, als dem „Wort“ – scheint uns jenseits ihrer Begrifflichkeit die gleiche Einheit zu verheißen wie das Sein jenseits der Teilaspekte, in die sich die sinnliche Wirklichkeit für den Verstand zerlegte. Sie scheint mich aufzufordern, das Wort in sie hineinzusprechen, das dem, was es nennt, zugleich das Sein verleiht – und das Wort dann, in dem die Einheit sich spiegelt, ist wie ein Anerbieten, von nun an die Wirklichkeit nicht mehr in dem Sinn aufzuheben, sondern im Gegenteil den Sinn in meiner Teilhabe am Wirklichen. So ist jede Sprache das Feld, in dem eine Ordnung sich entfaltet: daß hier ein Heiliges gestiftet werde in dem Schicksal dessen, der spricht; daß wenigstens ein Streben sich abzeichne nach Poesie.
Und jetzt kann ich auch eine Definition dessen geben, was ich unter Poesie verstehe. Keineswegs, wie doch heute noch überall zu hören ist, die Herstellung eines Objektes, in dem Bedeutungen zu einer Struktur sich verbinden, sei es, um eine Stimmung einzufangen, oder um der enttäuschenden Schönheit willen, verschiedene Aspekte dessen, was ich bin, flüchtige Parzellen der „Wahrheit“ gleichsam, miteinander verschmolzen zu haben. Selbstverständlich gibt es dieses Objekt, das Gedicht als Gegenstand, aber es ist die äußere Hülle, nicht die Seele des Gedichtes, nicht das, worum es ihm geht; wer sich daran klammert, bleibt in der Welt der Spaltung, der Gegenstände – des Gegenstandes auch, der ich bin, und doch nicht bleiben will; und je mehr man sich bemüht, die Feinheiten des Gedichtes, seine Vieldeutigkeit und deren Ausdrucksreichtum zu analysieren, um so mehr läuft man Gefahr, das Rettende zu vergessen, das Dichtung im Sinne hat, auf das allein das Gedicht gerichtet ist. Es erhebt in der Tat keinen anderen Anspruch als den, das Wirkliche zu verinnern. Es sucht nach dem, was in mir die Dinge zur Einheit bindet. Es soll mir erlauben, mich in der Gerechtigkeit zu leben, und seine höchsten Augenblicke sind bisweilen Notierungen reiner Evidenz, wo es ist, als stünde das Sichtbare im Begriff, sich in ein Gesicht hinein zu verzehren, als habe der Teil – auch ohne jede Metapher – im Namen des Ganzen gesprochen; als brause und atme, was im Weiten schwieg, aufs neue in der Offenheit oder Weiße des Seins. Das Unsichtbare – es muß hier abermals im Hinblick auf das Wort gesagt werden – ist nicht das Verschwinden, sondern die Freisetzung der Sichtbarkeit. Zeit und Raum fallen dahin, auf daß die Flamme wieder sich recke, wo Baum und Wind zum Schicksal werden…
Immerhin, mancherlei Wege führen, das weiß ich wohl, zu dieser Befreiung. Die Sprache ist nicht der Logos. Auch das Wort des höchsten Ernstes, da es je und je dem angehört, was zerlegt und sondert, bleibt dieser Verfremdung ausgeliefert; und immer wieder, ins Unabsehbare hinein, werden ihm Vorarbeiten zugemutet, in denen es leicht erliegt und versiegt. Die offenkundigste Gefahr, die dem Gedicht dann droht, ist eine Neigung, an der Außenseite, dem Schaugepränge zu haften, was mit sehr viel „Kunst“ geschehen kann. Doch es droht ihm noch eine andere, heimlichere Gefahr. Im Rückgriff auf das, was ich la mauvaise présence, „schlechte Gegenwart“, nannte, bin ich wohl berechtigt, eine verdüsterte Einbildungskraft zu fürchten, die, dem äußeren Anblick verhaftet und schaudernd zugleich vor dem Nichts, das darin wohnt, hier, dicht neben uns, sich nun darin gefällt, allem Hiesigen anderswo ein anderes Leben, einen Sinn, eine Fülle anzudichten – immer aber mit allen Merkmalen äußerer Vorhandenheit, die freilich um so verführerischer sind, je mehr sie den Stempel des Rätsels tragen. Dann erheben sie sich hier, gleich magischen Gewalten, die das Sichtbare hindern, in seinen wahren Sinn zurückzufinden: der Zufall, der Raum, die Vielheit. Das immer nur erträumte Gute liegt jenseits dieses Vorhangs der Stofflichkeit. Und weil solches Träumen in das Sein verliebt ist, wirkt es „poetisch“. Da es aber dem Zwang nicht entrinnt, Inneres als Äußeres sich vorzustellen – sei es als scheinhafte Vollkommenheit der meßbaren Gestalt, oder als unbekannte ferne Geliebte, oder als faustisches Erschöpfen aller Möglichkeiten; und derart den einzigen Zugang des Absoluten verfehlend, der das jeweilige Ding ist, wenn es als solches wahrhaft geliebt wird, – so ist diese bloße Sehnsucht nach dem Sein eher das der poetischen Eingebung innewohnende Übel, die großherzige, „luziferische“, darum jedoch nicht minder verderbliche Form ihres innersten und vielleicht unvermeidlichen Versagens.
Sie findet sich in jeder Art Symbolismus, der ein naives Vertrauen in den harten Glanz des Sichtbaren setzt, in das Gold und die Perlen des Wirklichen, in die Schönheit, diesen eitlen Marmor; viele Beispiele dafür ließen sich innerhalb der modernen Dichtung anführen, die unter schillernder Oberfläche oft so narzißhaft und steril ist.
In der dichterischen Form, die ich für die einzig wahre halte, sagen die tiefen Wörter – die für jeden andere sein mögen – uns das Sein zu, schenken sie uns das Licht eines „Wortes“, das die Ordnung erhellt, in der unser Leben Bestand hat. Sogleich aber verzehrt diese Erfahrung der Ordnung, des Heiligen kraft ihrer Innerlichkeit jedes Gefühl, als ließe dieses in der Substanz der Wörter andrängende „Wort“ sich in Formeln fassen. Die Sätze des größten Nachdrucks sagen unsere Nähe zur Transparenz, und gleichsam deren Süße – wie die Frucht in ihren Saft sich löst –, doch weiter nichts. Sie lassen die Ordnung erkennen, ohne sie doch als solche zu ergreifen, und dies darum, weil die wahre Erfahrung, die das Absolute nur auf der Schwelle der Endlichkeit sucht, nichts anderes ist und sein kann als unser unendlich relatives Bewußtsein, das sich bis auf den Grund als solches erlebt. Wer hingegen von einem „Anderswo“ träumt, wo gewisse Erscheinungen des Hiesigen eine neue, höhere Bedeutung gewinnen, innerhalb einer anderen Ordnung, die in sich „wahrer“, „wirklicher“ wäre – so jemand wird auf seltene Wörter aus sein, oder auf die im Treibhaus aller Erlesenheiten gezüchteten, und er wird die Formel zu erklügeln suchen, in der diese geheime Ordnung sich dem Geist enthüllt. Er ist der Überzeugung, der Logos ließe sich in einem zugleich sagbaren und endgültigen Wort verdichten, das es mit dem Sein wohl aufnehmen könnte, dem das traurige Hienieden unterworfen ist. Ein solcher Dichter träumt wie Mallarmé von „dem Buch“; worin nichts anderes sich ausdrückt als das Bestreben, die „Gegenwart“ durch ein Schaustück zu beschwören, wo doch das Außen das Salz ist, das alles zerfrißt.
Abschließend möchte ich sagen, welche Hoffnung das dichterische Bewußtsein in die Wörter – zumindest in einige – gesetzt hat: die nämlich, daß die Götter durch ihren Namen hindurch sich schenken, daß in diesen Wörtern wirkliche „Gegenwart“ sich uns zuspricht.
Ich möchte dem soeben Gesagten noch etwas hinzufügen. Was Friedhelm Kemp Ihnen aus einem Essay von mir vorgetragen hat, war ein Versuch, die Poesie mit Hilfe des Begriffs zu definieren. Aber ich empfinde nur allzu schmerzlich, daß Begriffe nicht genügen können, um die Poesie zu erfassen. Der Mythos, der vereinigt und zusammendrängt, scheint mir sehr viel geeigneter als jede menschliche Rede, in seiner Knappheit das Wesen des dichterischen Aktes zu evozieren. Vielleicht dürfte man sagen, jeder Mythos trage eine Offenbarung über den Sinn der Poesie in sich; aber es gibt doch einen, der es mir besonders angetan hat, und ich möchte mich heute abend damit begnügen, an diesen Mythos zu erinnern, um Ihnen auf einem direkteren Wege verständlich zu machen, als was mir das Gedicht erscheint: es ist die Sage von Demeter und Kore. Kore, die auch Persephone heißt, das göttliche Mädchen, wurde, wie Sie wissen, von dem Gott der Toten in die Unterwelt entführt. Sie entsinnen sich: Kore spielte eines Morgens auf der Wiese der Urwelt im ersten Licht, in der ungestörten Wärme der Welt; plötzlich tat sich die Erde auf, und sie verschwand in den Boden hinein, dem Tageslicht geraubt durch die dunklen Kräfte, die in der unteren Welt sind. Demeter, ihre Mutter, macht sich auf die Suche nach ihr durch die Länder. Überall fragt sie nach ihr und findet sie nicht. Die wirklichen Dinge sind, scheint es, nicht mehr imstande, das Gesicht des göttlichen Mädchens zu bieten. Schließlich wendet die Mutter, die ganz verweinte, sich an den höchsten Gott, Jupiter, und sie erreicht von ihm, daß er mit dem finsteren Gott, dem Gott der Toten, einen seltsamen Handel schließt: sechs Monate wird Kore hinfort bei ihrer Mutter im Sonnenlicht leben und die sechs anderen Monate des Jahres in der Nacht der Tiefe bei Pluto, dem Totengott.
Was bedeutet dieser merkwürdige Mythos? Es gibt, wie Sie wissen, eine traditionelle Auslegung. Nach dieser bedeutet Kore das Samenkorn des Getreides, das ja auch in den Mysterien von Eleusis beschworen wird, die mit diesem Mythos aufs engste zusammenhängen. Dieses Korn, das jedes Jahr in die Erdtiefe hinabsteigt, stirbt seiner pflanzlichen Wirklichkeit ab; sein Tod aber ist um der Auferstehung willen, es geht hervor als das neue Getreide, damit das Leben Bestand hat. Kores Schicksal wäre demnach eine Darstellung der Fortdauer des Lebens; über den Zerfall der Einzelwirklichkeit hinaus offenbarte sich in ihr das Mysterium des pflanzlichen oder tierischen Lebens, des Lebens überhaupt. Und die eleusinischen Mysterien, die alljährlich in Griechenland gefeiert wurden, hätten die Aufgabe gehabt, diese Überlegenheit des Lebens über jede Einzelwirklichkeit im Bilde zu verdeutlichen.
Diese traditionelle Auslegung ist öfters kritisiert worden, und vor einigen Jahren hat ein schwedischer Erforscher der griechischen Religion, Nilsson, verschiedene sehr überzeugende Argumente dagegen vorgebracht. Vor allem hat er darauf hingewiesen, daß die sechs Monate, die das göttliche Mädchen in der Tiefe der Erde verbringt, keinesfalls als Entsprechung für das unterirdische Abenteuer des Saatkorns gelten können, da dieses gar nicht so lange in der Erde bleibt und da es in Griechenland aus seinem unterirdischen Leben eher im Winter als im Sommer aufersteht. In Griechenland sprießt und blüht das Getreide lange vor dem Frühling. Tatsächlich scheinen, dieser neueren Auslegung nach, die Monate unter der Erde, von denen in der Sage die Rede ist, sich – wenn man sieht, was mit dem Korn selber wirklich geschieht – auf jene Zeit zu beziehen, die das Saatkorn bei den Griechen in den Silos, den unterirdischen Speichern, verbrachte, in denen das Getreide nach der Ernte gelagert wurde. Sechs Monate, bis zur nächsten Aussaat, blieb das Korn untätig in diesen Kammern, abgesondert von dem großen Kreislauf der wirklichen Dinge.
Als ich dieser Auslegung begegnete, hatte ich die Empfindung, der Mythos von Demeter und Kore offenbare in einem tiefen Verstande recht eigentlich das Wesen des dichterischen Aktes. Worum geht es denn? Einerseits sehen wir das wirkliche Samenkorn, dieses Korn, das in die Erde geworfen wird, das sich entwickelt, das hervortreibt und so den neuen Weizen liefert – woraus man das Brot bereitet, das der Mensch ißt – oder das künftige Saatkorn, mit dem man die nächste Ernte bestreitet, und so fort; das wirkliche Ding, wie es sein Dasein hat, indem es sich hingibt, wie es dem großen Kreislauf sich einfügt, der allen Dingen mit- und durcheinander ihr Dasein verleiht; das Korn in seinem Verhältnis zur Einheit, in die es sich auflöst. Diese lebendige Wirklichkeit, diese Wirklichkeit, an der wir teilhaben können, ist gewissermaßen das Eine, die tiefe Einheit, die sich in jedem Besonderen manifestiert. Sie ist das, was ich meine, wenn ich von einem Symbol spreche. Das andere Korn hingegen, das man in den Kammern aufhob, das man von dem Leben des Wirklichen trennte, das man gewissermaßen hortete – dieses Korn bedeutet nicht mehr das Sein, sondern das Haben: etwas, das nur noch als Quelle des Reichtums existiert, als Quelle einer delectatio morosa, und das den Menschen veranlaßt, sich zu trennen von der tiefen Einheit der Welt und aus der Immanenz der Einheit herauszutreten. Und hier sehen wir nun, warum Pluto, der Gott der Toten, bei den Griechen auch als Gott des Reichtums galt. Jedes Ding, das man von der Welt trennt, alles, was man zu einem toten Gegenstand macht, zur bloßen Erscheinung, zu etwas, das man für sich und um seiner selbst willen untersucht – das alles ist ein Sein zum Tode, alles das ist ein Anlaß zur Absonderung. Wir könnten auch sagen, dieses gehortete Korn, dieses von der Welt abgesonderte Korn sei ganz einfach das Objekt im Gegensatz zum Symbol, und ich möchte glauben, dieser Mythos von Demeter und Kore sei entstanden, als der Mensch, der zu seinem großen geistigen Abenteuer aufbrach, sich genötigt sah, diese Wirklichkeiten seines In-der-Welt-seins, in deren Mitte er bis dahin glücklich war, nunmehr als scharfbestimmte Erscheinungen zu sehen, um sie zu einem Gegenstand der Erkenntnis, einem besitzbaren Gegenstand zu machen, kurz, um das Objekt im modernen Sinne zu konstituieren.
In der primitiven, in der archaischen Gesellschaft, wie sie uns zum Beispiel noch in den Werken und Tagen des Hesiod begegnet, sehen wir den Menschen inmitten der Dinge, die ihn natürlicherweise zur tiefen Einheit zurückleiten; kaum berührt er seinen Pflug, kaum hat er das Brot gegessen, schon ist er um so wirklicher, weil die Dinge alle ihn wie ein Kranz umfassen, mit ihm sich gleichsam zu der im Augenblick gelebten Wirklichkeit zusammenschließen. Kaum aber nötigt die Erkenntnis uns zu dem Abstand, der uns von der Welt trennt – schon sind wir in eine andere Richtung gebracht: wir beginnen als rationales Bewußtsein zu existieren; aber schon auch beginnen wir zu sterben, wir beginnen in die Welt der Toten überzugehen, wir fangen an, derjenige zu werden, der eine Zeitlang bei dem Gott des künftigen Reichtums wohnt und bei dem Gott des schon gegenwärtigen Todes. Kurzum, die Wirklichkeit hat sich gespalten: hier dieser Gegenstand, der uns zur Abstraktion führt, zu der Abstraktion der Wissenschaft, der Erkenntnis, des praktischen und später auch des industriellen Lebens und zu dieser Welt des Verbrauchs, in der wir heute verarmen; und dort die Erinnerung an dieses Ding und Symbol, durch das hindurch wir an dem Dasein des Einen selber teilhaben. Mit anderen Worten: ich meine, wir haben da einerseits die Äußerlichkeit, den von außen erfahrenen Gegenstand, das zur Erscheinung, Formel, Einzelheit abgespaltene Objekt, das für sich allein existiert und sich mit anderen Einzelheiten nur vereinigen läßt durch die Äußerlichkeit der mathematischen oder physikalischen Formeln oder moralischen Vorschriften; und anderseits die Innerlichkeit, das heißt unseren tieferen Zusammenhang mit dem Ding, in dem nun nicht mehr die Formel des Objekts uns entgegentritt, sondern sein Gesicht, seine unmittelbare Seinsqualität, die sich rascher mitteilt als jede gedankliche Vorstellung, dieses sein Vermögen, zu etwas Unsichtbarem zu werden. Was aber ist das Unsichtbare? Selbstverständlich nichts anderes als jeder wirkliche Anblick; keineswegs etwas Geheimnisvolles, das unseren Blicken verborgen wäre und das sich nur dem Auge des Dichters offenbarte; nein, es ist das Sichtbare selbst, aber das Sichtbare, das als unzerlegbare Einheit gelebt wird, eben als Gesicht und nicht mehr nur als die Gesamtheit der Aspekte des Wirklichen.
So deutet der Mythos von Demeter und Kore auf zwei Bereiche, in denen man denken und das Wirkliche erfahren kann: einerseits die Äußerlichkeit, die das Gesetz unserer modernen Gesellschaft geworden ist; anderseits die Innerlichkeit, die gleichsam der unzerstörbare Kern war, aus dem die archaische Gesellschaft lebte oder zumindest jenes Goldene Zeitalter, nach dem der Mensch sich von jeher gesehnt hat. Und da, wo diese beiden sich berühren, lebt und wacht immer noch die Poesie, die, wie Demeter über die ganze Welt hin nach ihrer verlorenen Tochter forschte, alle Wirklichkeit durchwandert, um das Gesicht dort erscheinen zu lassen, das schon verschwunden ist. Wie Demeter bricht die Poesie in alle Richtungen auf, um das verlorene Heilige wiederzufinden. Niemals gelingt es ihr, seiner gänzlich wieder habhaft zu werden; weil unsere Sprache mit Begrifflichkeit behaftet ist, sind wir genötigt, einen Teil des Jahres in der Region des Begriffs, in der Welt der Wissenschaft und der Formel zu leben; der Dichter aber ist der Mensch, der sechs Monate des Jahres – sagen wir: die Hälfte seiner Zeit – imstande ist, sich dieser geheimnisvollen Gegenwart des Heiligen zu vergewissern, das unverhofft in jedem wirklichen Ding aufs neue erscheinen kann. Für mich besteht die Poesie darin, in Brot und Wein, die uns ernähren, die Gegenwart des Heiligen spürbar zu machen; so hören sie auf, nur das zu sein, was unser leibliches Dasein ermöglicht: sie dürfen das werden, worauf unser geistiges Leben sich gründet und was uns ein Schicksal verleiht. Poesie ist die Überzeugung, daß es nicht genügt, sein Leben als ein Sein zum Tode hinzubringen, sondern daß es darum geht, die verschiedenen Elemente, die unser Schicksal bilden, aufzugreifen, um ihnen einen Sinn zu geben, ihnen eine Form zu verleihen, um aus ihnen die notwendige Gestalt zu gewinnen, durch die unser Leben zu einem Absoluten wird, das wir als Schicksal anerkennen können.
In diesem Mythos von Demeter und Kore erscheint demnach auf eine vielleicht überzeugendere Art als in allen Darstellungen, die man sonst versuchen könnte, dieses Geheimnis der Poesie, die zugleich abwesend und gegenwärtig ist; die sich entzieht, wenn man sie zu besitzen glaubt; die wiedergefunden wird, wo man sie schon verloren glaubt, und die jedenfalls das einzige Ziel des unglücklichen Daseins bleibt. Der moderne Mensch darf auf dieses Heilige nicht verzichten, das aus dem Gesicht jedes wirklichen Dinges in dem Maße verschwindet, als unsere Gesellschaft uns der Gegenwart der Dinge beraubt, um uns statt dessen Gegenstände des Verbrauchs zu bieten. Die Poesie darf, in dem Augenblick, da Kore, das göttliche Mädchen, in der Tiefe verschwindet, den Mut nicht sinken lassen; denn nun erst recht gilt es, diese verlorene Kraft zurückzuleiten.
Ich wollte hier nicht mehr, als diesen Mythos dem Nachdenken empfehlen, weil ich glaube, daß er das ausdrückt, was ich selber und einige andere Dichter in Frankreich heute für die wichtigste geistige Aufgabe des westlichen Menschen in diesem Jahrhundert halten.
Yves Bonnefoy, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
zwischen den Überlegungen zum kybernetischen System und dem Praktizieren engagierter Aufklärungsgeste, zwischen Gustafsson und Rühmkorf, mythisches Gegenüber zu beschwören, mit gleichbleibendem Tonfall das „Äußere“ zu eliminieren, „das Äußere ist das Salz, das alles zerfrißt“, dabei ein Formelsystem zu entwickeln, das die Zeitgenossenschaft von Kalkülsprachen nicht verleugnet, – dieser Versuch war die Anstrengung von Yves Bonnefoy. Versuch, das „Innere“ zu erreichen, – ist es nur Relikt von einst, oder unwandelbarer Kern? In der Sicht Bonnefoys haben sich die Mythen, hat sich das „ungeteilte Sein“ erhalten, wenn auch unter Verwitterungen. Mit der Idee eines Wesens ist auch seine Existenz gesetzt, und die Poesie ist „Notierung reiner Evidenz“. Der Poet hat Teil an der „présence“ – und an der „mauvaise presence“, die es für ihn zu überwinden gilt: nämlich die bloße Sehnsucht nach dem Sein. Diese bloße Sehnsucht ist das dem Poeten innewohnende Übel.
Bonnefoys Übersetzer war Friedhelm Kemp; er stellte den Autor vor:
Zur Kennzeichnung seiner Dichtung, wie der neueren französischen Poesie überhaupt, scheint mir zweierlei erwähnenswert. Erstens der Umstand, daß die französische Lyrik seit dem Kubismus – das heißt, seit Picasso, Braque, Juan Gris einerseits, Guillaume Apollinaire, Max Jacob, Pierre Reverdy anderseits – in enger Nachbarschaft zur bildenden Kunst der Moderne sich entwickelt hat; Probleme der Form werden deshalb nicht nur theoretisch oder doktrinär behandelt, sondern einer ständigen Kontrolle durch die sinnliche Anschauung unterworfen. Zum andern sehen wir Yves Bonnefoy und die Mehrzahl der in den Zwanziger Jahren geborenen Dichter – in der Nachfolge Claudels, der Surrealisten, Pierre Jean Jouves und wohl auch René Chars – an der Überzeugung festhalten, daß es in der Poesie um ein Heil geht; nicht um die Selbstrettung des Dichters durch sein Wort oder in dieses hinein, sondern durchaus um eine Lehre für alle – durch Dinge, Winke, Evokation und Geheiß, in großer Nähe zu den elementaren Gewalten.
Der Ahnherr solcher Haltung, gerade auch für diese Dichter, ist unbestreitbar Hölderlin. Yves Bonnefoys zweiter Gedichtband trägt ein Motto Hölderlins, der erste eines von Hegel. Vorausgesetzt wird ferner, für jeden Franzosen selbstverständlicherweise, die Vorläuferschaft dreier Dichter: Charles Baudelaire, Stephane Mallarmé, Arthur Rimbaud. Sie sind die Klassiker der Moderne; wo man sich auf sie bezieht, braucht dies nicht mehr eigens angemerkt zu werden, und wo einer diese drei oder einen von ihnen als Zeugen anruft, steht er bewußt in einer Tradition, – der Tradition der Revolte.
Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
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