Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte

Herbert–Gesammelte Gedichte

AN RYSZARD KRYNICKI – EIN BRIEF

Nicht viel wird bleiben Ryszard wirklich nicht viel
von der Dichtung dieses Wahnsinnsjahrhunderts
aaaaasicherlich Rilke und Eliot
auch ein paar andre würdige Schamanen die das
aaaaaGeheimnis kannten
der Beschwörung der Worte der gegen die Wirkung
aaaaader Zeit widerstandsfähigen Form
ohne die es keine erinnernswerte Phrase gibt und die
aaaaaSprache wie Sand ist

unsere Schulhefte die ehrlich geschundenen
mit Spuren von Schweiß Blut und Tränen werden
der ewigen Korrektorin wie ein Liedtext ohne Noten erscheinen
edel rechtschaffen nur allzu selbstverständlich

wir glaubten leichthin dass Schönheit nicht erlöse
und die Leichtsinnigen von Traum zu Traum in den Tod führe
keinem von uns gelang es die Dryaden der Pappeln zu wecken
die Schrift der Wolken zu lesen
auf unsern Spuren wird darum das Einhorn nicht wandeln
wir werden den Kahn in der Bucht nicht wiederbeleben den Pfau die Rose
nicht wiedererstehen lassen
uns blieb die Nacktheit wir stehen nackt
auf der rechten besseren Seite des Triptychons
Jüngstes Gericht

auf die mageren Schultern luden wir uns die Sache der Öffentlichkeit
den Kampf gegen Tyrannei Lüge Leidensberichte
doch unsere Gegner – gib’s zu waren erbärmlich klein
lohnt es daher die heilige Sprache zu erniedrigen
zum Gestammel von der Tribüne zum schwarzen Schaum der Presse
so wenig Freude – der Göttertochter – in unsern Gedichten Ryszard
zu wenig strahlende Abenddämmerungen Spiegel Kränze Entzücken
nur düsteres Psalmodieren Stammeln der Animula
Urnen mit Asche im verbrannten Garten

aaaaawelcher Kräfte bedürfte es dem Schicksal zum Trotz
aaaaaden Urteilen der Geschichte dem menschlichen Unrecht
aaaaaim verratenen Ölberg zu flüstern: o stille Nacht

aaaaawelche Kräfte des Geistes müsste man haben
aaaaaum blindlings Verzweiflung an Verzweiflung schlagend
aaaaaein Fünkchen Licht die Versöhnungsparole zu zünden

aaaaadamit auf dichtem Rasen der Reigen ewig währe
aaaaaman die Geburt des Kindes und jeglichen Anfang feiere
aaaaadie Gaben der Luft der Erde des Wassers segne

ich weiß es nicht – mein Teurer – und darum
sende ich Dir in der Nacht diese Eulen-Rätsel
ein herzliches Umarmen
aaaaameines Schattens Verneigung

Übersetzung Oskar Jan Tauschinski

 

 

 

Nachwort

1
Wenn ich seinen Namen höre oder lese, steht sofort sein Gesicht vor mir: der weiße Haarschopf über der hohen Stirn, der verschmitzte, bubenhafte Zug um seine Augen, sein kehliges Lachen, die leicht zitternde Hand, wenn er die Zigarette zum Mund führte, und tausend andere Einzelheiten. Von den vielen „interessanten“ Polen, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – oft auf Vermittlung des Übersetzers Karl Dedecius, der damals noch in der Werbeabteilung der Allianz-Versicherung in München tätig war – zu unserer Verwunderung nach Deutschland kamen, war Zbigniew Herbert der eigentümlichste und auffälligste. Als Lemberger gehörte er ohnedies eher der k. u. k. Welt an, der Kultur des Kaffeehauses und der labyrinthischen Erörterung, als den „zielführenden“ Korridoren des Warschauer Schriftstellerverbandes. Er sprach ein idiomatisch reiches Deutsch, überging mit leiser Ironie die ideologischen Dummheiten seiner deutschen Gesprächspartner, besonders wenn es um Fragen des Marxismus ging, war aufmerksam und hilfsbereit und doch ohne jede falsche Anbiederei, dafür von unverkrampfter Herzlichkeit. Wir haben zu Hause so oft über Marxismus reden müssen, sagte er einmal, dass wir im Ausland stattdessen lieber ins Museum gehen und schweigen. Selbstverständlich begrüßte Zbigniew Herbert Frauen mit einem formvollendeten Handkuss, und als wir einmal das Spiel spielten: Was retten wir aus dem 20. ins 21. Jahrhundert?, kam von ihm die Antwort: die Höflichkeit. Mit anderen Worten, er war nicht zu übersehen und hat alle, die in seine Nähe kamen, mit seiner Aura bezaubert.
Obwohl schon 1964 ein erster Band Gedichte und ein Jahr später die Prosasammlung Ein Barbar in einem Garten in deutscher Übersetzung erschienen waren, lernten wir Zbigniew Herbert erst im Winter 1966/67 richtig kennen, als er als Gast des Literarischen Colloquiums in Berlin in der von Walter Höllerer organisierten Reihe Ein Gedicht und sein Autor zusammen mit dem Gleiwitzer Dichter Tadeusz Różewicz auftrat. Der kleine, liebenswürdige Tadeusz Różewicz, der als junger Mann bei den Partisanen gegen die deutsche Besatzung gekämpft hatte, vertrat eine illusionslose, unpoetische Poesie, die sich damit begnügen wollte, die heruntergewirtschaftete Welt zu beschreiben: „Ich kann nicht begreifen“, schreibt Różewicz, „dass eine Poesie fortbesteht, obwohl der Mensch, der diese Poesie – als Zeichensprache, die das Unsagbare aussagen soll – ins Leben rief, tot ist. … Meine Gedichte betrachte ich mit großem Misstrauen. Ich habe sie aus dem Rest der übriggebliebenen, geretteten Worte gefügt, aus uninteressanten Worten, aus Worten vom großen Müllhaufen, vom großen Friedhof.“ Wer so sprach, konnte mit schuldbewusstem Beifall rechnen, und tatsächlich lösten die kargen, lakonischen Gedichte von Różewicz eine große zustimmende Betroffenheit aus. Hier hatte einer – ganz ähnlich wie wir das von Günter Eich kannten – eine Möglichkeit gefunden, moderne, zeitgenössische Gedichte zu schreiben, ohne die Vergangenheit und deren moralische Bürde für die Gegenwart zu verschweigen.
Zbigniew Herbert, der als junger Mann ebenfalls dem antifaschistischen Untergrund angehörte, formulierte ganz ähnliche Gedanken, auch wenn er zu anderen Ergebnissen kam. Er sagte:

Sehr früh, fast zu Beginn meiner literarischen Arbeit, wurde mir klar, dass ich meinen Gegenstand außerhalb der Literatur zu suchen hatte. Das Schreiben als stilistische Übung fand ich unfruchtbar. Lyrik als Kunst des Worts langweilte mich. Ich begriff auch, dass ich mich von den Gedichten anderer nicht lange hätte ernähren können. Ich musste aus mir und aus der Literatur ausbrechen, mich in der Welt umsehen, andere Wirklichkeiten erobern.

Die anderen Wirklichkeiten, von denen er sprach, bekamen wir dann durch den Vortrag seiner Gedichte zu hören. Zwei davon – „Kiesel“ und „Nike, wenn sie zögert“ – machten damals schnell die Runde: das erste als lakonische Eloge auf einen in der Poesie nicht gerade häufig besungenen Gegenstand, das zweite als Beispiel für den eigenwilligen Umgang des Autors mit der Antike und dem Mythos.

Der Dialog mit der Vergangenheit, das Hinlauschen auf die Stimmen derer, die uns verlassen haben, das Berühren der Steine, auf denen halb verwischte Inschriften früher Schicksale zurückgeblieben sind, das Beschwören der Schatten, damit sie sich nähren von unserem Mitleid… das Verweilen bei der Vergangenheit kann, aber es muss nicht die Flucht aus der Gegenwart, die Enttäuschung bedeuten. Denn wenn wir uneingefroren auf eine Reise in die Zeit ausziehen, mit dem ganzen Gepäck unserer Erfahrung, wenn wir die Mythen, Symbole und Legenden prüfen, um uns aus ihnen das, was gültig ist, herauszufinden – dann kann man dieser Mühe kaum ihr tätiges Verhalten absprechen.

Trotz einer ähnlichen Ausgangslage gab es also zwei sehr verschiedene Poetiken und Poesien, die beide nicht nur in der Bundesrepublik, sondern zunehmend auch in der DDR einen spürbaren Einfluss erreichen konnten. Polen war das einzige Land hinter dem Eisernen Vorhang, das uns beständig und zuverlässig mit neuen Dichtern und originellen Ansichten über die Notwendigkeit der Poesie überraschte.
Der aufwendig hergestellte, sorgfältig gedruckte Band Inschrift, erschienen 1967, von Karl Dedecius zusammengestellt und übersetzt, brachte den Durchbruch: Fortan zählte Zbigniew Herbert nicht nur in Deutschland zu den bewunderten polnischen Dichtern der Moderne, die nach und mit Czesław Miłosz, dem in der Emigration in Berkeley lebenden Dichter und Essayisten, die Sprache der Poesie bereicherten und veränderten. Herbert lebte – wenn er nicht auf seinen kunsthistorischen Reisen war – außer in Warschau in Berlin und Paris und einmal für kurze Zeit sogar als Gastprofessor in Kalifornien, das er allerdings so schnell wie möglich wieder hinter sich ließ: Er war zu sehr Europäer, um dort heimisch werden zu können. Da er mit seinem Schreiben nie reich geworden war, lebte er, trotz zunehmender Bekanntheit und trotz einiger sehr gut dotierter Literaturpreise, immer eine Art bohemehaftes Leben. Und er war, trotz gelegentlicher Klagen, unerhört stolz darauf, sich nie „verkauft“ zu haben. „Die Welt hat keine Aufgabe“, sagte er einmal zu mir, „wir haben die Aufgabe, ihr eine zuzuschreiben. Aber das können wir nur, wenn wir vollkommen frei sind.“ (Dem folgte dann meistens noch der Zusatz: „Vielleicht ist das etwas zu pathetisch ausgedrückt, aber du weißt, was ich meine.“)
Was damals, als die zu jener Zeit modernen Poeten der Welt – von Yves Bonnefoy bis zu Lars Gustafsson, von Lawrence Ferlinghetti bis zu Andrej Wosnessenskij – in Berlin ihre Gedichte präsentierten, sofort auffiel, war der altmodische Habitus von Zbigniew Herbert. Während viele der anderen Dichter im Vortrag, in Mimik und Gestik die Originalität ihrer Verse herauszustellen versuchten bzw. herausstellten – unvergesslich der in Schmerz und Verzweiflung die Hände ringende Wosnessenskij und ebenso beeindruckend der augenrollende Ernst Jandl – oder eben ein raffiniertes Understatement pflegten, ein bewusstes Antipathos, als wären Gedichte in der Moderne nicht mehr dazu geeignet, öffentlich vorgelesen zu werden, verschmolzen bei Herbert Gedicht und Lesung zu einer wundersamen Einheit. Dass Nike, die rechte Hand an die Luft gelehnt, am schönsten ist, wenn sie zögert, und dass die unbezähmbaren Kiesel uns bis zum Schluss mit ruhigen, sehr klaren Augen betrachten – nichts kam uns nach dem Vortrag des polnischen Dichters selbstverständlicher vor. Zbigniew Herbert, so schien es uns jedenfalls, verließ sich ganz und gar auf das poetische Ergebnis seines intensiven Nachdenkens und seiner geduldigen Beobachtung und teilte uns dies so genau und so unprätentiös wie möglich mit. Zum Beispiel was er von Gegenständen hält:

Tote Gegenstände sind immer in Ordnung, und man kann ihnen, leider, nichts vorwerfen. Es ist mir niemals gelungen, einen Stuhl ausfindig zu machen, der von einem Bein auf das andre träte, oder ein Bett, das kopfstünde. Auch Tische, selbst wenn sie müde sind, wagen es nicht, niederzuknien. Ich habe den Verdacht, dass die Gegenstände es aus erzieherischen Gründen tun, um uns ständig unsere Unbeständigkeit vorzuwerfen.

Herbert hat immer wieder in Interviews darauf hingewiesen, dass sein elementares Interesse an den normalen Gegenständen des Alltags dem Wunsch entsprang, in einer Zeit des Durcheinanders und des Zerfalls einer chaotischen Welt eine Ontologie aus einfachen Dingen zu schaffen – Dingen, die sich immer gleich bleiben, die sich nicht verändern:

Ich stehe hinter den Werten. Sie müssen beständig sein, man kann nicht sagen: Ach, wir leben in einer anderen Zeit, heute ist alles anders. Irgendwas muss beständig sein, sonst ist Bewegung sinnlos. Man kann sich entfernen, man kann sich annähern, ich aber liebe beständige Dinge. Und wahrscheinlich hat man deshalb sofort entschieden, dass ich ein Reaktionär bin.

Wie sehr sich diese ironisch-melancholischen Gedichte und lyrischen Prosastücke von der damals in Deutschland üblichen Poesie unterschieden, lag auf der Hand. Wenn zu jener Zeit gelegentlich die dumme Frage auftauchte, ob Gedichte die Welt verändern können, verwies ich immer auf die beiden Texte von Zbigniew Herbert: Wer nach der Lektüre von „Kiesel“ nicht an ihren „steinernen Sinn“ denkt, wenn er über Kiesel geht, oder an das Illusionäre des Sieges, wenn er begriffen hat, dass Nike ihre rechte Hand an Luft lehnt, der ist ohnedies für die Wahrnehmung von Änderungen immun; wer sich dagegen den Blick dieses polnischen Zauberers zu eigen macht, wird bald feststellen, dass sich die Welt auf substantielle Weise verändert: Man lebt anders in ihr.
„Man muss kein großer Kenner der heutigen Literatur sein, um einen ihrer wesentlichen Charakterzüge zu bemerken – den Ausbruch von Verzweiflung und Unglauben. Alle Grundwerte der europäischen Kultur sind heute in Frage gestellt. Zahllose Romane, Theaterstücke und Gedichte sprechen vom unabwendbaren Untergang, von der Sinnlosigkeit des Lebens, von der Absurdität der menschlichen Existenz“, schrieb damals Zbigniew Herbert.

Es ist nicht meine Absicht, den Pessimismus leichterhand zu verspotten, dort, wo er eine Reaktion auf das Böse in der Welt ist. Aber ich meine, dass die schwarze Tonart der Gegenwartsliteratur aus der Einstellung der Autoren zur Realität kommt. Und diese Einstellung wollte ich im Gedicht angreifen. … Gäbe es eine Schule der Literatur, müsste man in ihr vor allem die Beschreibung der Gegenstände üben und nicht die der Träume. Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, dass wir diese Welt ins Wort fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.

2
Mythologie und Dinge also, das Heilige und das Profane, Nike und der Kiesel. Der Kiesel stammt aus einer Zeit, als die Erde noch wüst war und leer, eine Erde ohne Menschen. Welche Kräfte den Kiesel zu dem gemacht haben, als der er in seiner vollkommenen Gestalt vor uns liegt, wissen wir nicht, doch wir ahnen es. Wir wissen, dass es Jahrtausende braucht, um durch Reibung diese Form zu erreichen. Sie ist vollkommen, aber nicht perfekt. Der perfekte Kreis, wie ihn Giotto angeblich aus der Hand malen konnte, die perfekte Kugel, die durch technisches Wissen und entsprechende Geräte herstellbar ist, das alles zeichnet den Kiesel, dieses haltbare Naturgeschöpf, nicht aus. Das heißt, jeder Kiesel hat eine eigene Form, kein Kiesel gleicht einem andern aufs Haar, seine DNA lässt sich nicht übertragen. Auch das macht seine Würde aus, seine Einmaligkeit. Jeder, der einen Sinn für Kiesel hat – und das ist beileibe nicht jeder Steinliebhaber, viele verachten sein proletarisches Aussehen und ziehen Steine vor, in denen die Erdgeschichte sich abbildet –, verspürt sofort Lust, ihn in die Hand zu nehmen, seine Kühle zu spüren, seine Form in der sich schließenden Hand. Und dann? Dann schmeißt man ihn zurück in das Bachbett zu seinen Genossen. Man hat versucht, ihn durch Isolierung aus seinem Kiesel-Sein zu befreien, man wollte ihm gleichsam „menschliche Wärme“ einhauchen, aber man hat eben auch gespürt, dass der Kiesel, der vor uns da war und nach uns da sein wird, sich nicht zähmen lässt. Jetzt liegt er wieder da, wo er hingehört, erfüllt von seinem steinernen Sinn, und starrt nach oben, wo er den Schöpfer vermutet, der, wenn es ihn denn gibt, auch den Kiesel geschaffen hat. Der Kiesel weiß, dass er auch dann noch existiert, wenn die Menschen den Planeten wieder verlassen haben.
Zbigniew Herbert war im strengen Sinne kein religiöser Mensch, aber er hatte ein waches Empfinden für Transzendenz außerhalb des religiösen Bereichs. „Mein Gottesbegriff ist unklar“, schrieb er einmal, „aber Christus und die Passion sind für mich konkrete, ergreifende, zutiefst bewegende Dinge, die Zorn und Liebe wecken. … Gäbe es in der christlichen Religion nicht dieses Zeugnis des Opfers, gäbe es kein Evangelium, würde ich mich in der Welt wohl nicht zurechtfinden.“
Zbigniew Herbert hielt unser Schicksal für ein zufälliges Kuriosum, aber es war ihm alles andere als egal, was wir mit unserem Schicksal anstellen. „Geh aufrecht wo andere knien“, heißt es in einem seiner Gedichte. Und in einem Gespräch mit Renata Gorczyńska sagte er:

Schon den Verdacht von nihilistischen Gefühlen fürchte ich wie den Teufel. Man mag mich bezeichnen, wie man will, aber um Gottes willen nicht als Nihilisten.

Natürlich zweifelte er daran, dass der Mensch ein vernünftig handelndes Wesen sei, dafür kannte er zu viele Gegenbeispiele. Menschen, die immer wissen, was zu tun ist, waren ihm verdächtig, deshalb wurde er, trotz des Risikos zu scheitern, mit Leidenschaft ein Dichter. Kaum einer kannte die griechischen Mythen so genau wie er, und kaum einer wusste so genau um ihre kompensatorische Funktion. Ob er an die Mythen glaubte? Oder waren sie ihm nur Spielmaterial, um mit und an ihnen zu zeigen, zu welchen Verwandlungen der Mensch fähig ist? Um die alte Erzählung der Verwandlung weiterzuschreiben, die durch die strengen Gesetze der Vernunft unterbrochen worden war, aber für diesen Dichter nicht an Bedeutung verloren hatte.
Der Dichter Zbigniew Herbert hatte eigentlich gute Gründe, ein Poet des Aufschreis und der Anklage zu werden. Denn er gehörte zu der Generation polnischer Dichter und Denker, die zweifach geschlagen wurde: 1924 in Lemberg (heute Lwiw) als Sohn eines Bankiers (nicht eines Bankers, wie sich dieser Berufsstand nach Jahren der Häutung nennt) geboren, erlebte er mit fünfzehn Jahren den Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen und mit zwanzig die Ein- und Durchsetzung des sowjetisch gesteuerten Kommunismus. Er war ein Gezeichneter, ein Opfer des Krieges und des Stalinismus, und doch hat er nicht, als er nach dem sogenannten polnischen Oktober 1956 zu publizieren begann, die Sprache der Politik gewählt, die Sprache des Protests gegen eine vielleicht gut gedachte, aber in ihr Gegenteil verkehrte Geschichtsphilosophie, die den Menschen statt ins Glück ins Unglück geführt hat. Seine beiden Schutzengel, der „Engel der Schizophrenie“ und der „Engel der Ironie“, die er so wunderbar porträtiert hat, haben ihn davor bewahrt, noch einmal in die Falle der utopischen Versprechungen einer skandalösen Politik zu laufen. So wurde er, der so gar nichts von einem Lehrer an sich hatte, ein großer Ironiker und Moralist jenseits aller Schulen und Zuschreibungen. Er wollte für sich einen Zustand erreichen, den er das „universelle Mitleid“ genannt hat, ein nicht näher durch Regeln und Gesetze geregeltes, sondern nur durch spirituelle Übung zu erreichendes Verantwortungsgefühl für die Welt, „das Gefühl der Verantwortung für den Zustand des menschlichen Gewissens“:

Das Gefühl der Zerbrechlichkeit und der Nichtigkeit des menschlichen Lebens wirkt weniger deprimierend“, schrieb er einmal, „wenn man es in die Kette der Geschichte einordnet, die ein Weiterreichen des Glaubens an den Sinn unseres Tuns und Wollens ist. Auf diese Weise verwandelt sich sogar der Schrei des Schreckens in einen Ruf der Hoffnung.

Und die Mythologie? Es muss ein Datum in der Geschichte des Dichters Zbigniew Herbert gegeben haben, an dem sein Interesse an dem Himmel der Mythologie und seinen Göttern einen Riss bekommen hat. „Warum liebe ich wohl die griechische Mythologie?“, fragte er einmal und antwortete:

Weil sie ein Mittelding ist zwischen dem Gott der Philosophen, dem Gott Platons und vor allem dem Gott des Sokrates, der bereits parachristlich erscheint, als Präfiguration eines einzigen Gottes. Und dazu all diese Bettgeschichten, diese Jagden, diese Metamorphosen der Götter…

Ganz offenbar hatte er Ende der sechziger Jahre das Bedürfnis, den Himmel der Mythologie zu verlassen. Vielleicht nicht für immer, aber doch wohl für länger. Er suchte nach einem Vergil, der ihn an der Hand nimmt und ihn begleitet. Einen Gesprächspartner, mit dem er auf seine hintersinnige Weise die Geschäfte und Bewegungen der Welt besprechen konnte.
So erfand er sich den eigentümlichen Herrn Cogito, der den Dichter bis zum Lebensende nicht mehr verlassen sollte. Herr Cogito war ein mittelgroßer Herr mit exzellenten Manieren, überaus gebildet und anregend, mit Marotten und Spleens gesegnet, der sein Wissen nicht als sein Eigentum betrachtet, sondern freundlich Auskunft gibt über Stand und Zustand der Welt, wie er sie versteht. Er trägt sein Cogito wie einst der Golem seinen Namen sichtbar auf der Stirn. Aber während jener, der sich ganz einer Laune seines Schöpfers verdankte, mit der Auslöschung seines Namens wieder zu einem Klumpen Lehm zusammensackte, trägt dieser Herr Cogito seinen Namen unauslöschlich bis zum Tode bei sich. Er ist dazu verdammt, zu denken – so skurril und verworren seine Gedanken manchmal auch sein mögen, so abseitig seine Fragestellungen anmuten, die er dann anmutig beantwortet. Er macht sich – und das ist der ins Auge springende Unterschied zwischen den Gedichten vor und mit Herrn Cogito – über alles Gedanken, von der Soziologie der Hölle bis zur Beschaffenheit der Engel, denn „Herr Cogito will auf der Höhe der Situation sein“, als Bürger, Zeitgenosse, Kommentator und Begleiter. Als denkender Dichter bildet er den radikalen Gegentypus zum romantischen Dichter, der sich als Medium versteht. Herr Cogito ist gekennzeichnet von der Erfahrung unserer Epoche, dass nämlich im logischen Durchdenken einer Situation die einzige Möglichkeit des Überlebens liege. Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Cogito besonders glücklich ist mit dieser Erfahrung, die er täglich von neuem machen muss und die ihn konstituiert, weil er ebenfalls täglich der Schwester dieser Erfahrung, der Niederlage des Denkens, begegnet, die verantwortlich ist für die Verwüstung der Welt und des Menschen. Diese tägliche Niederlage, die tägliche Feststellung des Risses, der durch die Welt geht, mit den Bedingungen in Einklang zu bringen, die sein Name, unser aller Name in der westlichen Welt, ihm abverlangt, verschafft Herrn Cogito das melancholische Gesicht.
Was macht den Herrn Cogito so anziehend inmitten der vielen „Ichs“ der modernen Literatur? Warum hört man seine bedächtige, aber wohl artikulierende Stimme sofort, wenn er spricht? Warum sieht man ihn gleich, selbst an bevölkerten Orten und in mannigfachen Verkleidungen, sei es als Landstreicher, Reisender, als Lehrer oder als stiller Beobachter und Zuhörer? Warum ist er, der auf die selbstverständlichste Weise den Satz des Novalis bestätigt, jeder Mensch sei eine kleine Familie, nicht selbst ein Zerrissener, von dem wir jeweils nur Fragmente, Fetzen einer Totalität wahrnehmen? Ich glaube, die Überraschung, die Herr Cogito darstellt, besteht darin, dass er, in welcher Verkleidung er auch immer auftritt, jeweils ganz er selber ist. Wenn wir seine Meinungen hören und von seinen Taten lesen, haben wir nie das Gefühl, durch Selbstüberschätzung, Larmoyanz, falsches Mitleid oder Besserwisserei betrogen zu werden. Herr Cogito hat auf verblüffende Weise sich selbst akzeptiert mit allen Wunden und Verletzungen, die ihm das Jahrhundert beigebracht hat. Seine heitere und trotzdem tiefgehende Sehnsucht, die verschiedenen Erscheinungsformen seiner und unserer Existenz durchdenkend zu begreifen, hat zu einer Einfachheit geführt, deren hervorstechendstes Merkmal die Redlichkeit in der Aussage auch noch dort ist, wo das Unvermeidbare zur Sprache kommt. Wenn er in Form ist, spricht er auf seine kluge Art und Weise für uns alle – Herr Cogito, c’est moi.

3
Ich kannte Zbigniew Herbert seit 1968, bis zu seinem Tod haben wir uns nicht aus den Augen verloren. 1979 verlieh ihm die Jury des Petrarca-Preises – Nicolas Born, Bazon Brock, Peter Handke, Urs Widmer und ich – in Verona den Preis. In seiner Dankrede sagte er:

Bevor Petrarca, dieser unermüdliche Wanderer, sich auf seine letzte Reise begab, korrigierte, verbesserte und vernichtete er seine Manuskripte und Briefe. Die Moral dieser Geschichte ist auch für uns gültig: man soll seine Spuren verwischen. Exhibitionismus ist keine geistige Haltung.

In den darauf folgenden Jahren gehörte er selbst zur Jury, so dass wir uns wenigstens zweimal im Jahr, in München und in seinem geliebten Italien, sahen. Manchmal wohnte er bei mir, wenn er Hilfe bei der Ordnung seiner Verträge brauchte.
Als ich kürzlich seine Bücher wieder zur Hand nahm, fiel aus einer der polnischen Ausgaben seiner Verse das Fragment eines Gedichts heraus, das Zbigniew in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1991 in der Villa Waldberta am Starnberger See geschrieben hat: Do Michaela Krügera. (Es ist in dieser Ausgabe auf S. 629 abgedruckt.)
Ich benutze die einmalige Gelegenheit, mich für dieses unerwartete, beglückende Geschenk zu bedanken.

Michael Krüger, Juli 2016, Nachwort

Nachbemerkung des Herausgebers

Die vorliegende Ausgabe enthält sämtliche Gedichte, die Zbigniew Herbert in seine neun Lyrikbände aufgenommen hat. Sie folgt der chronologisch angeordneten polnischen Originalausgabe der Gesammelten Gedichte (Krakau 2008). Ausnahmen sind ein frühes Gedicht aus dem Band Lichtsaite sowie zwei oniristische Gedichte aus Studium des Gegenstands, die Herbert später konsequent überging.
Die meisten Gedichte kennt der deutschsprachige Leser aus den acht bisher im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Lyrikbänden. Der erste, ausgewählt und übersetzt von Karl Dedecius und 1964 unter dem Titel Gedichte in der renommierten Reihe edition suhrkamp erschienen, war das erste im Ausland publizierte Buch Herberts überhaupt. Es enthielt Texte aus Lichtsaite (1956 dank des Tauwetters erschienen), Hermes, Hund und Stern (1957) und Studium des Gegenstands (1961). Einige davon übernahm Dedecius drei Jahre später in die umfangreiche Sammlung Inschrift. Gedichte aus zehn Jahren 1956–1966, die 1973 und 1979 in leicht veränderter Form wieder aufgelegt wurde. Der nächste Band, Herr Cogito, ebenfalls von Karl Dedecius zusammengestellt und übersetzt, erschien 1974 zum fünfzigsten Geburtstag des Dichters.
Nach diesen Sammlungen, die Herbert zu einem der bekanntesten polnischen Dichter im deutschsprachigen Raum machte, publizierte der Suhrkamp Verlag (mit Ausnahme der Elegie auf den Fortgang) auch die drei weiteren Gedichtbände: Bericht aus einer belagerten Stadt und andere Gedichte (1985) in der Übersetzung von Oskar Jan Tauschinski, Rovigo (1995) in der Übersetzung von Klaus Staemmler, Gewitter Epilog (2000) in der Übersetzung von Henryk Bereska. Unter dem von Herbert erfundenen Pseudonym Guido von Birkenfeld hatte Bereska für die Zeitschrift Akzente bereits einige der mythologischen Erzählungen aus dem Band König der Ameisen übersetzt, an dem der Dichter bis zu seinem Tode arbeitete. Bei Suhrkamp erschienen ferner zwei Anthologien, Das Land, nach dem ich mich sehne. Lyrik und Prosa (1987), herausgegeben von Michael Krüger, als Band der von Dedecius gegründeten Polnischen Bibliothek, und im Jahr 2000 Herrn Cogitos Vermächtnis. 89 Gedichte. Dieser Band, von Herbert selbst unter dem asketischen Titel 89 Gedichte zusammengestellt, war in Polen im April 1998 erschienen. Ich brachte ihm das Buch an Karfreitag direkt aus der Druckerei nach Warschau. In dieser Zeit konnte Herbert – nach einer Tracheotomie – einige Monate lang nicht sprechen, er bewegte stumm die Lippen, und nur sein Schutzengel, seine Frau Katarzyna (Kasia), konnte an seinem Mund ablesen, was er sagen wollte. Mit größter Anstrengung gelang es ihm manchmal, ein einzelnes Wort zu flüstern. Erst Anfang Mai erlangte er wie durch ein Wunder die Sprache zurück. So kam es noch zu der denkwürdigen Aufzeichnung Zbigniew Herbert liest seine Gedichte.
Ungeachtet dieser Publikationen haben die deutschen Leser bisher einen etwas anderen Herbert gelesen als die polnischen. Viele der älteren Gedichte aus den ersten drei Bänden konnten sie nicht kennen, weil sie nur in einer Auswahl auf Deutsch erschienen sind. Der deutsche Band Inschrift trägt zwar denselben Titel wie der in Polen (erst zwei Jahre später!) erschienene, die beiden Bücher unterscheiden sich aber sowohl der Form als auch dem Inhalt nach gravierend. Karl Dedecius, ein Meister seines Fachs, hat eine kunstvoll gebaute, thematisch angeordnete Anthologie aus zehn mal zehn Gedichten vorgelegt. Das Titelgedicht „Inschrift“, das aus dem Band Lichtsaite stammt, ist als Prolog vorangestellt, während das letzte Gedicht von Inschrift, mit dem programmatischen Titel „Warum Klassiker“, als Epilog fungiert. Von diesen hundert Gedichten stammen mehr als vierzig aus Herberts früheren Büchern, etwa dreißig aus dem in Polen unter dem Titel Inschrift erschienenen Band, die übrigen sind den späteren Bänden Herr Cogito und Bericht aus einer belagerten Stadt entnommen, ergänzt um Gedichte, die Herbert in keines seiner Bücher aufnahm (so dass der polnische Leser sie nur in deutscher Übersetzung lesen konnte). Manche dieser Gedichte mussten somit Jahre oder Jahrzehnte auf ihre polnische Publikation warten, manche blieben für immer in der Schublade.
Der ersten Auflage von Inschrift gab der Verlag eine sechsseitige Broschüre von Dedecius mit auf den Weg: Zbigniew Herbert. Sein Werk im Suhrkamp Verlag. Sie enthielt unter anderem Herberts programmatische Aussage „Lyrik heute“, eine Kompilation aus der Selbstinterpretation des Gedichts „Warum Klassiker“ und dem Essay „Die Wirklichkeit zu berühren“. Letzteren hatte Herbert 1966 im Literarischen Colloquium Berlin auf dem von Walter Höllerer organisierten Symposium Ein Gedicht und sein Autor vorgetragen. In Polen sind diese beiden wichtigen Texte zu Herberts Lebzeiten unbekannt geblieben.
In der zweiten Auflage von Inschrift (Band 384 der Bibliothek Suhrkamp) wurden einige Gedichte ausgetauscht; am stärksten zeigt sich das im Epilog, wo das Gedicht „Warum Klassiker“ durch das Gedicht über den heiligen Hieronymus (den Patron der Übersetzer) ersetzt wurde: „Colantonio – S. Gierolamo e il leone.“ Auf Polnisch hat Herbert es nur einmal (mit einer Reproduktion des Bildes von Colantonio) 1971 in einer Zeitschrift publiziert.
Herr Cogito erschien in Polen Anfang 1974, in Deutschland ein paar Monate später; auch in diesem Fall unterscheiden sich die deutsche und die polnische Ausgabe stark voneinander. Die deutsche hat Dedecius seinem Autor als „Gratulation, Geburtstagsgeschenk, Zuspruch. Als Widerspiegelung (Echo), als Rückblick auf ein vollendetes halbes Säkulum, als Bilanz“ übereignet, wie es im Nachwort heißt. Aus den ihm von Herbert anvertrauten Manuskripten sowie aus Zeitschriftenpublikationen hat er fünfzig Gedichte ausgewählt und auf fünf Kapitel mit den Überschriften „Tuskulum“, „Die Beschaffenheit der Dinge“, „Meditationen“, „Kummer“, „Gegenwärtigkeit“ verteilt. Im Nachwort-Brief an Herbert schreibt Dedecius:

So stellte ich fünfzig Gedichte zusammen und ordnete sie in Zehnergruppen an. Auf diese Weise fiel es mir leichter, Dich architektonisch zu begreifen und begreifbar zu machen: als Bauwerk, das sich symmetrisch auf die zehn Säulen der musischen und der philosophischen Weisheit stützt.

Am Ende erläutert er auch einige übersetzerische Entscheidungen: „Meine translatorischen Eigenmächtigkeiten – um Dir auch das noch zu bekennen – sind diesmal nicht häufiger als sonst: sie überschreiten das eine zulässige Prozent nicht“ – was vermutlich auf frühere Gespräche mit dem Dichter über Probleme der Übersetzung seiner Werke anspielt.
In der deutschen Ausgabe von Herr Cogito fehlen sechs Gedichte. Dafür enthält sie neun Gedichte, die Herbert erst in dem 1983 (im Pariser Exilverlag Instytut Literacki) erschienenen Band Bericht aus einer belagerten Stadt publizierte, unter anderem „Heraldische Betrachtungen des Herrn Cogito“ – ein Gedicht, das von der polnischen Zensur aus dem Band Herr Cogito entfernt worden war, sowie sieben Gedichte, die Herbert in keinen seiner polnischen Lyrikbände aufgenommen hat.
Mit der Arbeit am Zyklus Herr Cogito hat Herbert in den sechziger Jahren begonnen. „Herr Cogito – ein Gedichtzyklus über die Abenteuer des Bewusstseins“, so formulierte er seine Grundidee bereits 1962 in seinem Notizbuch. Die ersten Gedichte entstanden im Herbst 1965 in Wien, später vor allem während längerer Aufenthalte in Berlin und Los Angeles, wo Herbert 1970/1971 eine Gastprofessur innehatte. Ende Juni 1971 kehrten Katarzyna und Zbigniew Herbert nach Europa zurück. In Amsterdam und Frankfurt legten sie einen Zwischenstopp ein, kauften sich ein Auto und transportierten ihre bescheidene Habe nach Berlin, wo sie die nächsten zwei Monate verbringen sollten. Kurz nach der Ankunft in Berlin besuchten sie Freunde und ließen das Auto auf einem unbewachten Parkplatz stehen. Als sie nach ein paar Stunden zurückkamen, stellte sich heraus, dass das gesamte Gepäck gestohlen worden war – alle Koffer waren weg, auch der wichtigste mit den Handschriften von Herr Cogito. Herbert versicherte seiner verzweifelten Frau:

Mach dir keine Sorgen. Ich schreibe neue.

Zum Glück wurde ausgerechnet dieser Koffer am nächsten Tag auf einer Baustelle gefunden. Der Finder rief in der Akademie der Künste an (deren Telefonnummer sich in dem Koffer befand), und so kehrten die Handschriften zu ihrem Autor zurück. Während des kurzen Aufenthalts in Berlin schrieb Herbert, wie versprochen, weitere Gedichte über Herrn Cogito, darunter „Georg Heym – ein metaphysisches Abenteuer“, „Herr Cogito erzählt von der Versuchung Spinozas“ und „Herr Cogito sucht Rat“.
Im Unterschied zu den von Karl Dedecius komponierten Bänden Inschrift und Herr Cogito wurden die nächsten drei Bände direkt aus den polnischen Ausgaben übersetzt; sie unterschieden sich daher nicht von den Originalausgaben. Nur in Gewitter Epilog fehlte das letzte Gedicht – „Gewebe“. Vielleicht hatte Henryk Bereska es versehentlich nicht erhalten. Herbert arbeitete bis zuletzt an dem Band, korrigierte einzelne Gedichte und schrieb neue; er hatte aber keine Kraft mehr, zu älteren Gedichten zurückzukehren, die er wahrscheinlich aufgenommen hätte. Manche Texte sind nur als schwer zu entziffernde Entwürfe oder abgebrochene Skizzen erhalten geblieben.
Es hätte vermutlich ein etwas anderes Buch werden sollen. Erst einige Jahre nach seinem Tod fand man in Herberts Archiv den Entwurf zu dem Titelgedicht „Gewitter Epilog“, geschrieben in Form eines Monologs von Prospero aus Shakespeares Sturm (und in Anlehnung an Das Meer und der Spiegel von W.H. Auden, einem der für Herbert wichtigsten Dichter des 20. Jahrhunderts). Ebenso wie dieses Gedicht sind andere nur als handschriftliches Manuskript erhalten geblieben, die man sich in dem Band Gewitter Epilog vorstellen könnte: „Aus einer ungeschriebenen Theorie der Traumes (der Erinnerung an Jean Améry gewidmet), „Die Generation“, „Herr Cogito und die Utopien“, „An Michael Krüger“, „Brevier. Kleinkram“ und viele andere, die er nicht vollenden konnte.
Elegie auf den Fortgang (wie auch Bericht aus einer belagerten Stadt bei Instytut Literacki in Paris erschienen) ist der einzige Lyrikband Herberts, der noch nicht vollständig ins Deutsche übersetzt wurde. Er erscheint integral erstmals in der vorliegenden Ausgabe. Die bisher nicht auf Deutsch vorliegenden Gedichte aus diesem und den früheren Bänden wurden von Renate Schmidgall übersetzt.

An einigen Stellen wurden inhaltliche Korrekturen oder Veränderungen an den bereits veröffentlichten Übersetzungen vorgenommen. So hieß es zum Beispiel in „Sie legte ihr Haar“ (das Dedecius aus der Handschrift der ersten Version dieses schönen Gedichts übersetzt hat): „Soldaten der Dritten Legion“ – anstatt „Soldaten der Zweiten Legion“; in dem Gedicht „Sequoie“ wurde „Der kupferne Stamm des Westens“ in „Der kupferne Stamm des Untergangs“ geändert, weil Herbert hier, ähnlich wie in dem Gedicht „Der Holzfäller“, den Stamm des Baums mit der untergehenden Sonne vergleicht. In dem Gedicht „Herr Cogito erzählt von der Versuchung Spinozas“ wurde „er fragte nach dem ersten Grund“ durch „er fragte nach der ersten Ursache“ ersetzt, entsprechend „nach dem letzten Grund“ durch „nach der Endursache“ (denn Spinoza fragt Gott als Philosoph und nicht als Linsenschleifer). „Die einstigen Meister“ wurden zu den „Alten Meistern“ (auf diesen Fehler hatte bereits Peter Hamm vor Jahren hingewiesen), in dem Gedicht „Herrn Cogitos Kalender“ wurde das Wort „Halle“ durch „Halina“ ersetzt (Hala ist im Polnischen ein Diminutiv von Halina). Die Übersetzung von Namen ist in den Gedichten Herberts übrigens ein Problem für sich, denn er hatte die Angewohnheit, fremdsprachige Namen zu polonisieren, vor allem die Namen von Freunden. So in dem Gedicht „Die letzte Attacke. Für Nikolaus“ aus dem Band Gewitter Epilog, woraufhin sich ein polnischer Dichter angesprochen fühlte. Doch das polnische Mikołaj ist in diesem Fall eine Polonisierung des Namens Nikolaus/Klaus, und das Gedicht, eine brüderliche Botschaft in der Krankheit, ist an Klaus Staemmler gerichtet, den Übersetzer und Freund des Autors.

Ryszard Krynicki, August 2016, Nachwort

Editorische Notiz

Die Ausgabe basiert auf der von Ryszard Krynicki edierten Ausgabe der Wiersze zebrane (Gesammelte Gedichte], die 2011 in seinem Verlag a5 in Krakau erschienen ist. Sie folgt den polnischen Originalausgaben: Struna światla [Lichtsaite]. Warszawa: Czytelnik 1956; Hermes, pies i gwiazda [Hermes, Hund und Stern]. Warszawa: Czytelnik 1957; Studium przedmiotu (Studium des Gegenstands]. Warszawa: Czytelnik 1961; Napis [Inschrift]. Warszawa: Czytelnik 1969; Pan Cogito [Herr Cogito]. Warszawa: Czytelnik 1974; Raport z oblężonego miasta i inne wiersze [Bericht aus einer belagerten Stadt und andere Gedichte]. Paris: Instytut Literacki 1983; Elegia na odejście [Elegie auf den Fortgang]. Paris: Instytut Literacki 1990; Rovigo [Rovigo]. Wrocław: Wydawnictwo Dolnośląskie 1992; Epilog burzy [Gewitter Epilog]. Wrocław: Wydawnictwo Dolnośląskie 1998.
Bis auf das erst kürzlich in einer polnischen Zeitschrift publizierte Gedicht an Michael Krüger sind die drei Gedichte im Anhang dem Band Utwory rozproszone [Verstreute Werke], Krakau 2010, entnommen. Er enthält Gedichte, die Herbert in keine seiner Ausgaben hatte aufnehmen wollen.

Unser Band enthält 402 Gedichte, von denen 144 noch nicht auf Deutsch vorlagen. Sie wurden von Renate Schmidgall übersetzt.

Eingegangen sind sämtliche Gedichtbände Herberts, die im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main erschienen sind: Gedichte. Aus dem Polnischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Karl Dedecius. 1964 (= edition suhrkamp 88); Inschrift. Gedichte aus 10 Jahren 1956–66. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. 1967; Inschrift. Gedichte. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. 1973 (= Bibliothek Suhrkamp 384); Herr Cogito. Gedichte. Edition, Übersetzung und Nachwort von Karl Dedecius. 1974 (= Bibliothek Suhrkamp 416); Bericht aus einer belagerten Stadt und andere Gedichte. Übertragen von Oskar Jan Tauschinski. 1985; Das Land, nach dem ich mich sehne. Lyrik und Prosa. Auswahl und Vorwort von Michael Krüger. Nachwort von Jan Błoński. Aus dem Polnischen von Guido von Birkenfeld, Karl Dedecius, Klaus Staemmler, Oskar Jan Tauschinski, Walter Tiel. 1987 (= Polnische Bibliothek); Rovigo. Gedichte. Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler. 1995. Gewitter Epilog. Gedichte. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska. 2000. Herrn Cogitos Vermächtnis. 89 Gedichte. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius, Oskar Jan Tauschinski und Klaus Staemmler. 2000.

Die Übersetzungen wurden anhand der polnischen Ausgaben von Ryszard Krynicki und Renate Schmidgall durchgesehen, korrigiert und, wo nötig, redaktionell überarbeitet.

 

Inhalt

Ein Buch, das in keiner Bibliothek der Weltliteratur fehlen sollte: Das lyrische Gesamtwerk des großen polnischen Dichters erstmals in einem Band
„Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, dass wir diese Welt in Worte fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.“ Zbigniew Herbert hat Lyrik nie als bloße Wortkunst verstanden. Von der „nackten Poesie“, den kargen Versen des Debütbandes Lichtsaite (1956), bis zum Bericht über eine belagerte Stadt (1983) spricht er von der Zerbrechlichkeit des Menschen und der Übermacht einer gewaltverfallenen Geschichte. Doch nicht die Klage bestimmt den Ton, denn Herbert verfügt über eine Vielzahl von Tonlagen und Formen, vom ironischen Epigramm bis zum erzählenden Poem. Unter den Gestalten, die in seinen Rollengedichten auftreten, ist auch „Herr Cogito“, ein Verwandter von Valérys „Monsieur Teste“, der sich auf die Kunst versteht, Schmerz und Ratio miteinander zu verschmelzen.
Hermes, Hund und Stern, Studium des Gegenstandes, Inschrift und weitere sechs Gedichtsammlungen, die Zbigniew Herbert zwischen 1956 und 1998 veröffentlicht hat, erscheinen hier erstmals vollständig und in ihrer ursprünglichen Gestalt und Reihenfolge. Mehr als hundert Gedichte wurden noch nie ins Deutsche übersetzt. Ein neuer Flügel im Museum der modernen Poesie ist eröffnet.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

Die Feinde lösen einander ab

– Er verabscheute die Vulgarität und fiel nie auf die Versprechungen der Politik herein: Die Gesammelten Gedichte des polnischen Lyrikers Zbigniew Herbert. –

Was für ein Vermächtnis! Fast zwanzig Jahre sind seit dem Tod von Zbigniew Herbert vergangen, seine Gedichte aber haben nichts eingebüßt von ihrer Gedankenklarheit und Grazie, ihrer Anschauungskraft und ihrer Menschen- und Weltzugewandtheit. Abgerungen wurden diese Gedichte einem Katastrophen-Jahrhundert, das alles daransetzte, einem polnischen Dichter das Leben schwer, ja fast unmöglich zu machen. Der 1924 in Lemberg geborene Herbert, der während der deutschen Besatzung eine Untergrundschule besuchte und sich 1943 mit seinem Vater, einem Bankier, dem polnischen Widerstand anschloss, nach der Befreiung in Warschau Jura, Ökonomie, Philosophie und Kunstgeschichte studierte und daneben Gedichte schrieb, hat in diesen schon früh seinen Abscheu vor der Geschichte und dem „Bazillus der Politik“ bekundet:

niemals habe ich an den Geist der Geschichte geglaubt
das erfundene Ungeheuer mit dem tödlichen Blick
die dialektische Bestie an der Leine der Häscher

Deshalb erlag Herbert, im Gegensatz etwa zu Czesław Miłosz oder Leszek Kołakowski, die das später bitter bereuten, auch keinen Augenblick lang der kommunistischen Verheißung. In der Stalin-Zeit verbot er sich das Publizieren von Gedichten und schlug sich als Gelegenheitsarbeiter und als Angestellter eines Anzeigenblattes und einer katholischen Revue durch.
Erst 1956, in der Tauwetter-Zeit, erschien Herberts erster Gedichtband Lichtsaite, der verrät, wie sehr dieser Dichter quer zur Zeit stand, verweigerte er sich doch ebenso dem offiziell propagierten Aufbau-Pathos wie der „schwarzen Tonart der Gegenwartslyrik“, bot aber auch keinerlei Stimmungslyrik (kein einziges Liebesgedicht!) oder verwegene „Kunststücke der Phantasie“, denen Herbert lebenslang misstraute. Stattdessen wiederbelebte er in seinen Gedichten antike Figuren und Mythen, Apoll und Athene, König Midas, Arion und Ikarus, die er als seine Zeitgenossen begriff. „Am schönsten ist Nike / wenn sie zögert“ darf als sein erstes dichterisches Meisterwerk gelten, es endet mit dem Tod des von Nike begehrten Jünglings, der gefunden wird „mit offener Brust / geschlossenen Lidern / und mit dem herben Geschmack des Vaterlands / unter der steifen Zunge“.
Das Gedicht ist auch ein Denkmal für die vielen jungen Polen, die für ihr „wehrloses Vaterland“ ihr Leben gaben – ohne es je gelebt zu haben. „Das Murmeln der Gedichte ist so viel wert / wie Atem in ihnen ist von jenen“, den Toten, heißt es in Herberts zweitem, 1957 erschienenem Gedichtband Hermes, Hund und Stern. In ihm wagt der „vertriebene Arkadier“ Herbert es erstmals, die neue Staatsmacht, vor allem aber deren „Ornamentatoren, Verzierer und Stukkateure“ unter den Dichter-Kollegen, scharf zu attackieren. „Fort sind die Hirtenflöten / das Gold der Sonntagstrompeten / der Waldhörner grüne Echos / und auch die Geige ist fort – / nur die Trommel blieb“, so beginnt sein Lied von der Trommel , das eine grässliche Zukunft voraussagt:

endlich marschiert die ganze Menschheit
endlich fand jeder diesen Gleichschritt
……….
totgetrampelt ist das Schweigen

Dass auch Zbigniew Herbert nicht als Meister vom Himmel gefallen ist, wirkt fast tröstlich. Einige seiner frühen Gedichte belastet noch eine Genitivmetaphorik, die ihre Herkunft aus dem Paris des Surrealismus verrät, andere gefallen sich zu sehr im Allegorischen. Auffallend ist aber, dass sich schon in vielen jenes ureigene Thema Herberts ankündigt, die Liebe zu den Gegenständen und zur „Treue der Dinge“ („man kann ihnen, leider, gar nichts vorwerfen“). Schon 1961 wird ein dritter Gedichtband Herberts ausdrücklich Studium des Gegenstands betitelt sein. Er enthält nicht nur das rasch berühmt gewordene Gedicht „Der Kiesel“, dessen Botschaft lautet: „Kiesel lassen sich nicht zähmen“, sondern preist etwa auch die Tische und Stühle („Sie haben niemanden niedergetrampelt, niemanden hochgehoben“), die Schublade oder das Knarren des Fußbodens. In einer Schule der Literatur, so Herberts poetologisches Credo, „müsste man vor allem die Beschreibung der Gegenstände üben und nicht die der Träume“.
Herbert hat inzwischen Polen den Rücken gekehrt, hat Frankreich, England, Italien, die Niederlande und Griechenland bereist, wovon so wunderbare Reisebücher zeugen wie Im Vaterland der Mythen (ein griechisches Tagebuch), Ein Barbar in einem Garten (Essays zur französischen Gotik und toskanischen Renaissance, zu Lascaux, den Etruskern und zu Montaignes Reise nach Italien) und Stilleben mit Kandare (über die holländischen Maler und Kleinmeister des Goldenen Zeitalters, die auf ihren Bildern das „heilige Ritual der Alltäglichkeit“ feiern).
Auch hat Herbert eine verlässliche Hilfe im Kampf gegen die Zumutungen der Welt und insbesondere jene seines Vaterlands gefunden: den „Gott der Ironie“. Dieser Gott hat auch „Herrn Cogito“ erschaffen, jenes Alter Ego Zbigniew Herberts, mit dem der Dichter erst ganz bei sich selbst angekommen ist.
„Herr Cogito“ ist, wie sein Descartes entliehener Name verrät, ein philosophischer Dichter, der über die unterschiedlichsten Themen meditiert: über den „reinen Gedanken“, die Entfremdung, die Magie der Träume, die Erlösung („ER hätte den Sohn nicht senden sollen“), die Hölle (hier ein luxuriöses kommunistisches Künstlerasyl, denn „Beelzebub liebt die Kunst“), über die aufrechte Haltung, die Fantasie, den Pop, die „derzeitige Position seiner Seele“, eschatologische Ahnungen, die Musik („sie betrübt ohne Grund / erfreut ohne Ursache“), das Verschwinden der Freunde, über Spinoza, Maria Rasputin („Tochter des letzten Dämons“), das Blut, die Tugend, die Langlebigkeit. Wenn „Herr Cogito“ sich im Spiegel sieht und seine beiden Beine betrachtet, ähnelt er auffällig seinem Erfinder:

das linke
sprungbereit
tänzerisch
das Leben zu sehr liebend
um sich zu gefährden

das rechte
edel steif
aller Gefahr zum Hohn

so also
auf beiden Beinen
dem linken mit Sancho Pansa vergleichbaren
und dem rechten
das an den irrenden Ritter erinnert
geht
Herr Cogito
durch die Welt
leicht taumelnd

Ein polnischer Ritter von der traurigen Gestalt.
Im Massiv der Cogito-Poeme markieren zwei Gedichte Gipfelpunkte: „Herr Cogito meditiert über das Leiden“ (man muss „spielen mit ihm / sehr behutsam / wie mit einem Kinde / das krank ist / und das man am Ende / mit albernen Kunststücken doch / zu einem schwachen Lächeln / zwingt“) und „Herrn Cogito, des Reisenden, Gebet“, das den frommen, weltfrommen Dichter zeigt, dessen Dankgesang für so viele belebende Begegnungen mit Menschen, Kunstwerken und Naturwundern in franziskanischer Frequenz ertönt. In seinen letzten Lebensjahren, wenn Zbigniew Herbert bereits an die Warschauer Matratzengruft gefesselt ist, wird er in seinen Brevier-Gedichten noch einmal ein ergreifendes Dankgebet anstimmen, das nun den alleralltäglichsten Dingen gilt, die dem Schwerkranken geblieben sind, jenem „Lebenskrempel, worin ich ewiglich rettungslos versinke“. Dazu zählen für ihn nicht nur Knöpfe, Stecknadeln, Hosenträger und Brillen, sondern auch „all die Spritzen mitsamt Nadeln, Bandagen, Heftpflaster, schmiegsame Kompressen“ und sogar „all die Schlaftabletten mit Namen, wohllautend wie die der Römernymphen“.
Im Jahr 1981 hatte der nach Polen zurückgekehrte Dichter die Ausrufung des Kriegsrechts erleben müssen. Er reagierte darauf 1983 mit dem in einem polnischen Exilverlag in Paris erstveröffentlichten Gedichtband Bericht aus einer belagerten Stadt, in dessen Titelgedicht er klagt:

Bin zu alt um Waffen zu tragen zu kämpfen wie die andern –
man bestimmte mir gnadenhalber den minderen Part des Chronisten

Wenn dieser Chronist feststellt: „die Belagerung dauert lange die Feinde lösen einander ab“, erweist er sich angesichts des heutigen Polen, wo wieder „der Heimatteufel, der alle überlebt“, und die Feinde der mühsam erkämpften Demokratie triumphieren, als Prophet. Helga Hirsch hat Herbert 1986 (in einem Gespräch für die ZEIT) gefragt, ob im Widerstand gegen das Regime Prosa nicht eine bessere Waffe gewesen wäre als Poesie. Herberts Antwort:

Auf deutsch gibt es das schöne Wort ,Dichtung‘, also etwas komprimieren, eine Erfahrung kristallisieren. Wenn man komprimiert, kann man es sich nicht leisten, einen Parteisekretär zu beschimpfen, zu dem man zwei Jahre später eine Anmerkung schreiben muß, wer er war. […] Es gäbe keine Weltliteratur, wenn die Menschen nicht versuchten, ihre Probleme auf höherem Niveau darzustellen.

Herberts Werk stellt gern Fragen, auch die Fragen nach Gut und Böse, Ehre und Unehre, Treue und Verrat, Schuld und Vergebung, Fragen, die sich nur stellen, wo es um Leben und Tod geht. Heute, wo es nur noch ums Hoch- und Weiterkommen und um Ablenkung zu gehen scheint, mögen solche Fragen befremdlich wirken, fast so befremdlich wie Herberts Abscheu vor jeder Art Vulgarität und sein Bekenntnis zur Schönheit. Wie Dostojewski war Herbert tief überzeugt, dass die Welt nur durch Schönheit erlöst werden könne – durch Schönheit und „universelles Mitleid“. An beidem ist das nun endlich komplett vorliegende Lebenswerk des polnischen Dichters überreich, und es zählt damit zweifelsohne zu den sehr wenigen Nachkriegswerken, die Goethes Begriff der Weltliteratur ernsthaft für sich beanspruchen dürfen.
Herausgegeben hat dieses Werk Herberts polnischer Freund Ryszard Krynicki (selbst ein bedeutender Dichter, an den Herbert ein programmatisches Gedicht gerichtet hat). Michael Krüger (der zur Jury gehörte, die Herbert 1979 den Petrarca-Preis verlieh) hat ein sehr persönlich gehaltenes Nachwort beigesteuert, in dem er auch an eine Eigenschaft dieses polnischen Herrn erinnert, die hierzulande fast ausgestorben scheint: die Höflichkeit. Die Höflichkeit gegenüber dem Leser hätte es geboten, dem vom Suhrkamp Verlag vorbildlich gestalteten Band auch einen Anmerkungsteil beizugeben, ohne den einige gelehrte Anspielungen Herberts dunkel bleiben müssen.

Peter Hamm, Die Zeit, 11.4.2017

Eine Antwort geben auf die Einflüsterungen der Angst

– Dichten unter der Cogito-Maske: Das Gesamtwerk des großen polnischen Lyrikers Zbigniew Herbert liegt nun in einer vorzüglichen Edition auch auf deutsch vor. –

In einem späten Gedicht schreibt Zbigniew Herbert über „das Buch“:

Dieses Buch mahnt mich sanft es erlaubt mir nicht
schnell zu laufen im Takt der rollenden Phrase
es heißt mich zum Anfang zurückkehren immer von neuem beginnen.

Ein solches Buch hat man mit Herberts Gesammelten Gedichten vor sich. Es ist ein wahrhaft bedeutendes Buch, die deutsche Version eines großen Lebenswerks. Es umfasst fast 700 Seiten mit 402 Gedichten, die von fünf namhaften Übersetzern übertragen wurden. Aus ihnen spricht die deutsche Stimme eines Dichters, dessen Traum ein anonymes Schaffen war und der dennoch die Versuchung des Ruhms kannte. Auch wenn er seinem Herrn Cogito eines seiner Bücher überließ, stand doch immer der Name Zbigniew Herbert auf dem Cover. Auf dem dicken Block des Sammelbandes zündet er sich eine Zigarette an – die anachronistische Geste des alten Meisters, der Herbert geworden war.
Die polnische Ausgabe der Gedichte erschien 2008, zehn Jahre nach Herberts Tod. Der Lyriker Ryszard Krynicki, der sie besorgte, hat nun auch die deutsche Edition herausgegeben. Sie enthält die Texte des lyrischen Werks vollständig und in ursprünglicher Reihenfolge, darunter 144 Gedichte, die noch nicht auf Deutsch vorlagen, vor allem frühe Gedichte in der Übersetzung Renate Schmidgalls.
Man muss das erwähnen, weil sich erweist, dass die deutschen Leser bislang oft unvollständige oder redigierte Bände in Händen hatten. Der hochverdiente Karl Dedecius etwa hatte als Übersetzer eigenen gestalterischen Ehrgeiz. So wählte er aus Herr Cogito fünfzig Gedichte aus und ordnete sie in Zehnergruppen an:

als Bauwerk (wie er dem Dichter schrieb), das sich symmetrisch auf die zehn Säulen der musischen und der philosophischen Weisheit stützt.

Das war gut gemeint, nur Herberts Bauwerk war es nicht. Ähnlich folgte Dedecius seiner Zahlensymbolik bei der Sammlung Inschrift, die Herbert in Deutschland berühmt machte. Andererseits konnte der polnische Leser manche Gedichte, die Herbert in keines seiner Bücher aufnahm, nur in deutscher Übersetzung lesen. Mit den beiden Ausgaben Ryszard Krynickis gibt es nun endlich ein verlässliches Corpus für beide Sprachen.
Die Musen waren dem Dichter zeitlebens günstig. Herbert war ein so passionierter wie verlässlicher Dichter, doch publizierte er nie um jeden Preis. 1924 in Lemberg als Sohn eines Bankiers geboren, war der junge Herbert im Krieg im antifaschistischen Untergrund aktiv. Seit seiner Jugend schrieb er Gedichte. In der Stalinzeit veröffentlichte er nichts, weil er keine Kompromisse eingehen wollte. Im Tauwetter von 1956 aber war Herbert – wie dem Haupt Apolls entsprungen – die große literarische Entdeckung. Seine ersten drei Bände erschienen in rascher Folge: Lichtsaite (1956), Hermes, Hund und Stern (1957) und Studium des Gegenstands (1961). Die polnische Kritik rühmte Herberts „Poetik der ausgewogenen Waagschalen“ und nannte den Dichter den Klassiker unter den jungen Poeten.
Herberts Ruhm überschritt sehr bald die Grenzen seines Heimatlands. Der eben Vierzigjährige erhielt 1965 als Erster den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Karl Dedecius brachte 1964 eine deutsche Auswahl seiner Gedichte, und Walter Höllerer gewann Herbert und seinen Landsmann Tadeusz Rózewicz für seine internationale Lesereihe Ein Gedicht und sein Autor. Damals, im Berliner Winter 1966/67, gab Herbert erstmals Auskunft über seine poetischen Intentionen. Er fand die bloße Wortkunst langweilig und schlug den Lyrikern vor, sich in der Welt umzusehen. Aus der Philosophie könne man lernen, einen Gedankenprozess zu offenbaren, und der Künstler müsse sich in seinem Schaffen verstecken wie der Schöpfer in der Natur. Maximen, die für Herbert wichtig blieben.
Die wichtigste Frucht seiner Poetik war die Erfindung des Herrn Cogito, einer Persona, die bereits in einem Notizbuch von 1962 auftaucht:

Herr Cogito – ein Gedichtzyklus über die Abenteuer des Bewusstseins.

Diesem Alter Ego widmete Herbert 1974 einen Band und ließ ihn bis zuletzt in seiner Lyrik auftreten. Herr Cogito, dem Denken Descartes’ entsprungen, ist ein Geschöpf eigenen Rechts. Er ist Skeptiker und Moralist, ein Melancholiker, der beten kann. Anders als Valérys Monsieur Teste darf Herr Cogito sich um den Zustand der Welt bekümmern.
Unter der Cogito-Maske konnte Herbert die Probleme mit dem Vaterland abhandeln. Herbert, der Reisende und Reisebuch-Schreiber, war von dem Emigranten Herbert kaum zu unterscheiden. Er widerstand der Macht, indem er auf den Wechsel der Tauwetter und Kältewellen reagierte. Er hatte Stipendien in Griechenland und West-Berlin, lehrte in Los Angeles und lebte in Paris. 1981 kehrte er mit seiner Frau Kasia nach Polen zurück.
Eines der späteren Cogito-Gedichte beginnt so:

Herr Cogito
beschloss die Heimkehr
auf den steinernen Schoß
des Vaterlandes.

Am Schluss heißt es quasi prophetisch:

Vielleicht kehrt Herr Cogito heim
um Antwort zu geben

auf die Einflüsterungen der Angst
auf ein unmögliches Glück
einen unerwarteten Hieb
eine tückische Frage.

Dieses Gedicht findet sich in dem Band Bericht aus einer belagerten Stadt und andere Gedichte (1983). Er musste, wegen des polnischen Kriegsrechts, in einem Pariser Exil-Verlag erscheinen. Herbert spricht hier aus der Perspektive dessen, der zu alt ist, „um Waffen zu tragen zu kämpfen wie die andern“, und dem man „gnadenhalber den minderen Part des Chronisten“ bestimmte. Doch eben der mindere Part ermöglicht eine Perspektive, in der die Wahrheit sichtbar wird. Sie erscheint als die Grunderfahrung der polnischen Geschichte:

die Belagerung dauert lange die Feinde lösen einander ab
nichts verbindet sie außer dem Trachten nach unsrem Untergang.

Wie aktuell! Auch aktuell, ja zeitlos möchte man den Schluss des Gedichts nennen:

und nur unsre Träume sind nicht gedemütigt worden.

Der zurückgekehrte Dichter, damals ein Mann von Anfang sechzig, hatte sein Alterswerk noch vor sich, die Bände Elegie auf den Fortgang (1990), Rovigo (1992) und – in seinem Todesjahr – Gewitter Epilog. Schon früher hatte er geschrieben:

Ich rufe euch Alte Meister
macht mich ertauben
für die Versuchung des Ruhms.

Nun war er selbst ein alter Meister, und der Ruhm hatte ihn längst ereilt – wenn auch nicht der Nobelpreis. Die Kollegin Wislawa Szymborska erhielt ihn 1996, zwei Jahre vor Herberts Tod. Im Frühjahr 1998 litt Herbert einige Wochen unter dem Verlust seines Sprechvermögens, doch Anfang Mai kam ihm wundersamerweise noch einmal die Sprache zurück.
In seinen letzten Jahren schrieb der Autor noch einige Gedichte, die nicht mehr zur Publikation bestimmt waren. Sie stehen in dieser Edition am Schluss des Bandes. In ihnen waltet eine Frömmigkeit, die sich in alltäglichen Paradoxen ausspricht, im Kleinkram, in täglichen Problemen, zum Beispiel im Lob der Schlaflosigkeit. Herbert kommt in diesen Texten nun ohne Cogito aus, wenn er dem Herrn für das Wunder der Schlaflosigkeit dankt, „ohne dass ich den Schlaf der Gerechten schliefe“. Im Nachwort dieses schönen Bandes lenkt Michael Krüger, der den Dichter seit 1968 kannte, den Blick auf den Menschen Herbert, auf dessen unverkrampfte Herzlichkeit und Höflichkeit:

Mit anderen Worten, er war nicht zu übersehen und hat alle, die in seine Nähe kamen, mit seiner Aura bezaubert.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.2016

Der raffinierte Eroberer Zbigniew Herbert

– Bei Suhrkamp sind die Gesammelten Gedichte des polnischen Lyrikers Zbigniew Herbert erschienen. Er zeigt sich darin als der geduldigste, empathischste und freundlichste Eroberer, den man sich vorstellen kann. –

Für Joseph Brodsky kam, was das 20. Jahrhundert und vor allem dessen zweite Hälfte anging, die mit Abstand beste Lyrik der Welt aus Polen. Ein Urteil, das man für einen Russen, der zudem noch selbst ein Lyriker von Weltrang ist, zumindest ein klein wenig überraschend finden mag. Was es aber natürlich nicht wirklich ist.
„Polen war das einzige Land hinter dem Eisernen Vorhang, das uns beständig und zuverlässig mit neuen Dichtern und originellen Ansichten über die Notwendigkeit der Poesie überraschte“, konstatiert da auch der Schriftsteller, Übersetzter und Herausgeber Michael Krüger in seinem schönen Nachwort zu Zbigniew Herberts Gesammelten Gedichten. Einem Kompendium, zu recht schon als „Ereignis“ bejubelt, das auf weit über 600 Seiten ein lyrisches Lebenswerk ausbreitet, welches seinesgleichen sucht.
Das Schreiben als stilistische Übung fand er unfruchtbar. Lyrik „als Kunst des Worts“ langweilte ihn: „Ich musste aus mir und aus der Literatur ausbrechen“ beschreibt Zbigniew Herbert seine Poetik:

mich in der Welt umsehen, andere Wirklichkeiten erobern.

Das heißt auch: andere Wirklichkeiten als jene, die die Erfahrungen des 1924 in Lemberg geborenen Dichters früh prägten. Die Wirklichkeiten des Krieges, der deutschen Besatzung, des Widerstands, dem Herbert angehörte. Wirklichkeiten, die sich in seinem Schreiben aber weniger als dezidiertes „Thema“ entäußern, nicht als Aufschrei, Anklage, Leidensprotokoll in Erscheinung treten, sondern verinnerlichter, als Erfahrungssubstrat, gleich Strudeln und Unterströmungen, in den Gedichten pulsieren.
Deren schon früher Zugriff – Mitte der 50er Jahre, in denen Herbert literarisch reüssierte – gerade auch auf antike, mythologische Sujets, dann eben keine bloße, modernistische Spielerei künstlicher Verklausulierung, keine Fluchtbewegung (auch vorm realsozialistischen Zensor) ist, sondern im Gegenteil jenes fast schon kontemplativ konzentrierte „aus sich selbst ausbrechen“ übt, nach dem Herbert strebte. Poesie auch als Instrument des „andere Wirklichkeiten erobern“ begreifend – und sie damit nicht zuletzt vor Instrumentalisierungen, zumal ideologischen, rettend.
Wobei Herbert, das muss man sagen, der geduldigste, empathischste und freundlichste Eroberer ist, den man sich nur vorstellen kann. Ein raffinierter allerdings ebenfalls. Dass der Künstler sich in seinem Schaffen verstecken müsse, wie der Schöpfer in der Natur, ist eine Maxime die auch Herbert teilt – und der sich dann gerade eine Schöpfung wie die des berühmten Herrn Cogito zumindest mit verdankt.
Eine Figur, halb Imagination, halb Maskerade, halb Alter Ego des Dichters. Ein melancholischer Ironiker und skeptischer Moralist, ein luzide klarer Verquer-Denker, für den der Philosoph Descartes, quasi Patenonkel im Geiste, mit seinem berühmten „cogito ergo sum“ Namen und Weltwahrnehmungsmotto lieferte.
Welches dann Herr Cogito auf freilich sehr eigenwillige und darin oft bitterkomisch treffende Art zur Anwendung bringt: „… und rings herrscht das herrliche Leben / rosig wie ein Schlachthaus am Morgen“ ist da nur einer jener vielen exemplarischen Sätze, die ahnen lassen, welche Erfahrungssubstrate eben auch Cogitos Weltwahrnehmungen formen.
1974 betrat der erstmals die öffentliche literarische Bühne („Herr Cogito – ein Gedichtzyklus über die Abenteuer des Bewusstseins“) um sich fortan, mal mehr, mal weniger, aber immer eindrücklich, in Herberts Gedichtbänden zu Wort zu melden. 1998, im Todesjahr des Dichters, erschien deren letzter. Gewitter Epilog betitelt, ein Abschied:

ich weiß meine Tage sind gezählt
es bleiben nicht mehr viele
gerade so viele dass ich es schaffe den Sand zu raffen
mit dem mein Gesicht bedeckt werden wird

Nein, Brodskys Urteil ist nicht überraschend. Und bei aller großartigen polnischen Dichterdichte – gäbe es diese nicht, allein Zbigniew Herbert hätte das Zeug, dieses Urteil zu legitimieren. Klingt zu euphorisch? Dann lese man einfach in diesen Gedichten, deren Herausgeber Ryszard Krynicki ist. Übersetzt haben: Henryk Bereska, Karl Dedecius, Renate Schmidgall, Klaus Staemmler und Oskar Jan Tauschinski.
In einem Gedicht sind jene wenigen „würdigen Schamanen“ (Rilke, Eliot) dieses letzten „Wahnsinnsjahrhunderts“ beschworen, die ihrerseits „das Geheimnis kannten / der Beschwörung der Worte der gegen die Wirkung der Zeit widerstandsfähigen Form…“ Zbigniew Herbert ist einer dieser Schamanen.

Steffen Georgi, Leipziger Volkszeitung, 5.7.2017

Geballte Fülle, mangelnde Intensität

– Zbigniew Herbert (1924–1998) war einer der wortführenden polnischen Dichter seiner Generation. Bekannt wurde er mit seiner Alter-Ego-Kunstfigur Herr Cogito. Beim Wiederlesen offenbaren sich Schwächen. –

Die internationale Hochkonjunktur der polnischen Nachkriegslyrik wurde 1996 mit der Vergabe des Nobelpreises an Wisława Szymborska eindrucksvoll beglaubigt. Unter den damals wortführenden Dichtern – Milosz, Rozewicz, Bialoszewski – fand namentlich Zbigniew Herbert (1924–1998) grosse Beachtung und weitreichende Sympathie: Allein in deutscher Übersetzung lagen bis zum Jahr 2000 rund ein Dutzend Gedichtbücher von ihm vor.
Mit seinem „Herrn Cogito“ – einem polnischen Nachfahren von Paul Valérys „Monsieur Teste“ – ist Herbert der seltene Exploit gelungen, einen lyrischen Helden zu etablieren, der sich als elitäre wie als populäre Kunstfigur gleichermassen zu behaupten vermochte. „Herr Cogito“, vulgo „Herr Denkich“, hatte seinen ersten grossen Auftritt 1974, als unter seinem Namen Herberts gleichnamiges Gedichtbuch erschien, und er blieb als unverkennbares Double des Autors in allen nachfolgenden Bänden (bis 1998) zumindest am Rand präsent mit bald elegischen, bald komischen Lyrismen über Gott und die Welt, man könnte auch sagen: über alles und noch viel mehr; nicht zuletzt über sich selbst.
Manche von Zbigniew Herberts Gedichten sind Zueignungen an Künstler, Poeten und Philosophen der Vergangenheit (von Cicero über Spinoza bis hin zu Georg Heym), aber auch an Verwandte und Freunde, vorzugsweise an schreibende Kollegen. Das verleiht seinen Versen insgesamt eine kolloquiale Intonation und damit eine Leichtigkeit, die selbst bei schweren Themen – Krieg, Krankheit, Alter, Tod – überwiegend heiter wirkt. Sie bleibt indes allzu häufig an der Oberfläche und begnügt sich mit impressionistischen Momentaufnahmen:

… um das helle Wasser der Sintflut
bittet der Pinsel.

Das eigene Ableben imaginiert der Dichter, schwankend zwischen Selbstgewissheit und Selbstironie, wie folgt:

Fortan werde ich auf keinem
Gruppenfoto zu sehen sein (stolzer Beweis meines Todes in allen Literaturblättern der Welt) wenn einer
sagt – seht das ist Zbigniew – und mit dem Finger
auf einen Mann zeigt der mit dem Koffer kämpft
(…).

Ein Gleiches lässt der Autor seinem bevorzugten Helden, Cogito, „in gewissem Alter“ widerfahren:

Ein verblühender Dichter
ist eine seltsame Erscheinung
er sieht sich im Spiegel
zerschlägt den Spiegel
in der mondlosen Nacht
ertränkt er seinen Geburtsschein
[…]
ein Dichter in einer unklaren Zeit
zwischen dem Eros der abtritt
und Thanatos der noch nicht aufstand vom Stein…

Dass der „verblühende“ Dichter unbedingt auf eine „mondlose Nacht“ angewiesen ist, um seinen Geburtsschein zu „ertränken“ (sic – statt zu „versenken“), und dass er vorm Exitus „übermannt wird von unaufrichtigem (sic) Lachen“, ist ebenso obsolet wie sein Geständnis, er „beobachte heimlich die Jungen“, um deren „wiegende Hüften nachzuahmen“ – denn nachahmen kann man (könnte er) wohl das Wiegen der Hüften, keineswegs aber die Hüften als solche. Doch bei Herbert sind derartige Ungenauigkeiten sowohl der Beobachtung wie auch des sprachlichen Ausdrucks gang und gäbe.
Eine oftmals forciert wirkende Heiterkeit – vermutlich als Widerstand gegen die Erhabenheit gedacht − durchzieht die allermeisten zwischen 1956 und 1998 entstandenen Gedichte von Zbigniew Herbert, die neuerdings in einer umfangreichen Textsammlung auf Deutsch vorliegen: mehr als 400 Einzeltexte auf weit über 600 Druckseiten. Man mag die Zusammenführung der Herbertschen Lyrik in einem stattlichen Band begrüssen, man darf für die beflissene Vermittlungsarbeit des Herausgebers und der fünf Übersetzer dankbar sein – dennoch hinterlassen die Gesammelten Gedichte einen zwiespältigen Eindruck.
Die geballte Fülle der Texte korrespondiert in keiner Weise mit ihrer lyrischen Leichtfüssigkeit, ja Beiläufigkeit, und umgekehrt fehlt es dem Gesamtwerk trotz strenger Bündelung über weite Strecken an struktureller und emotionaler Intensität, so dass man mit leiser Wehmut auf die schmalen Bände des Autors aus früheren Jahren zurückgreifen möchte, deren Publikationsform mit dem lockeren Konversationsstil seiner Dichtung weit besser harmonierte.

Felix Philipp Ingold, Neue Zürcher Zeitung, 22.4.2017

Wo das Denken taumelt

– Der große polnische Dichter Zbigniew Herbert hat Reisen, Freunde und Bücher in seine Verse geholt und mit der Philosophie um die Gedanken gerungen. Jetzt sind seine Gesammelten Gedichte auf Deutsch erschienen. –

Es könnte so einfach sein mit der Fantasie. Man klopft an die Wand, und ein Kuckuck springt aus dem Holz. Ein kurzer Pfiff – schon beginnt ein Fluss zu laufen. Einmal Räuspern, und eine ganze Stadt faltet sich vor den Augen auf. Doch zugleich gibt es da die Gedanken. Und die Gedanken, jedenfalls in Zbigniew Herberts Gedichten, machen es der Fantasie nicht leicht. Sie stehen reglos in der Landschaft oder drehen sich fortwährend im Kreis, „auf der Suche nach Körnern“.
Das Denken ist so etwas wie die glimmende Hintergrundschicht in den Versen des großen polnischen Dichters Zbigniew Herbert. Es ist ein schiefes und zugleich vergebliches Denken, wie es George Steiner einmal skizziert hat. Ein Denken, das in den wichtigen Fragen, nach dem Sein oder nach dem Nichts, nicht weiterkommt, das machtlos ist gegenüber dem Tod. Nicht von ungefähr hat sich Zbigniew Herbert einen lyrischen Stellvertreter geschaffen, der ganz auf die Gedanken setzt, allen Kreisbewegungen und fehlenden Zielen zum Trotz.
Dieser Herr Cogito traut niemals den Kunststücken der Fantasie. Wie sein Erfinder mag er Reisen, Freunde und Bücher. Er liebt die Stille, Erinnerungen und die Weltgeschichte ebenso wie das „herrliche Empfinden von Schmerz“. Vor allem aber setzt er sich der grundlegenden Widersprüchlichkeit des Denkens aus. Er weiß, das Denken gleicht immer einer Pendelbewegung, „leicht taumelnd“ wie der Gang des Herrn Cogito, der mit einem kurzen, muskulösen und einem mageren, steifen Bein durch die Welt wandert und gerade so der „ungewissen Klarheit“ treu bleiben kann.
Das klingt nach einem dialektischen Denken. Doch überraschenderweise stand Herbert mit der Dialektik auf Kriegsfuß. Zumindest was die Vorstellungen von Geschichte angeht. An einen „Geist der Geschichte“ im Sinne Hegels hat er nie geglaubt, nicht an die Idee des Fortschritts, nicht an die „dialektische Bestie an der Leine der Häscher“. Vielmehr funktioniert das „einfältige Triebwerk“ der Geschichte für Herbert immer gleich:

die monotone Prozession und der ungleiche Kampf
der Räuber an der Spitze verdummter Massen
gegen das Häuflein der Rechtschaffenen und der Vernünftigen

Vielleicht hat ihn die frühe Konfrontation mit den großen ideologischen Heilsversprechen des 20. Jahrhunderts derart ernüchtert. Herbert wurde 1924 in Lemberg geboren. Sein Vater, der für die polnische Unabhängigkeit gekämpft hatte, war Bankier. Die Familie erlebte den Einmarsch der Roten Armee und später den Überfall der Deutschen auf Polen. Nicht nur der Vater, sondern auch Herbert selbst musste für einige Zeit in den Untergrund. Er ging in den Widerstand und begann nebenher zu studieren, polnische Literatur zunächst, im Laufe der Jahre kamen so unterschiedliche Fächer wie Jura oder Wirtschaft hinzu. Seine große Leidenschaft indes war die Philosophie.
Sie habe ihm Mut gemacht, hat er einmal geschrieben, wesentliche Fragen zu stellen, ob die Welt existiere etwa oder ob sie erkennbar sei:

Wenn man aus dieser Disziplin einen Nutzen für die Lyrik stiften kann, dann nicht dadurch, dass man Systeme beschreibt, sondern dass man den Gedankenprozess offenbart.

Wie genau diese Offenbarung aussieht, kann man jetzt in einer wuchtigen Ausgabe der Gesammelten Gedichte nachverfolgen. Gut 400 Texte hat der Herausgeber, Herberts Dichterkollege und Freund Ryszard Krynicki, vereint, von denen mehr als ein Viertel zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt.

Von Beginn an ist die Philosophie in den Gedichten anwesend, gerade indem sie sich gegen die Philosophen wenden. Schon in dem Erstling Lichtsaite von 1956 ironisiert Herbert die Art, wie sich Philosophen Begriffe ausdenken und sie zu Systemen verbinden, zu „Walzen“ mit Schalen und Pendeln. Es ist spannend zu sehen, wie er mittels dieses kritischen Impulses selber philosophisch wird. Tatsächlich offenbart er den Gedankenprozess dadurch, dass er sein poetisches Denken aus einer ganz eigenen Beweglichkeit des Verses heraus entwickelt. Meist sind es in sich verschränkte, über mehrere Zeilen gleitende Sätze, die zugleich das reflektieren, was sie in ihrer Form zeigen: das Verhältnis von Ruhe und Unruhe etwa, die „erdrückende Leichtigkeit des Scheins“ oder die nur auf den ersten Blick klare Trennung in Ich und Welt.
Vor allem aber skizziert Herbert das Zusammenspiel von Schöpfung und Auflösung, das sich im Schicksal des Schreibenden spiegelt, „Gebilde ohne fertige Form“ zu sein. Auch wenn er in diesen frühen Gedichten bisweilen dem Zeitgeschmack folgt und so manche Genitivmetapher verwendet – trocken oder gar abstrakt sind seine Verse nie. Im Gegenteil, ihr Denken entspinnt sich immer in enger Tuchfühlung mit den Dingen.
Sei es in lyrischen Stillleben, sei es in der Beschreibung von Interieurs, sei es in tatsächlichen Dinggedichten, die so verschiedene Phänomene wie das Herz, den Schornstein, die Zunge oder die Uhr ihren poetischen Metamorphosen unterziehen. Dabei dreht Herbert die bekannten Perspektiven ein ums andere Mal. Nicht wir sehen die Dinge, sondern die Gegenstände betrachten uns.

So mischt sich, so mischt sich
in mir
was ergraute Herren
ein für allemal trennten
wovon sie sagten
das sei Subjekt
und das Objekt

In ihrem Innersten jedoch ist die Dichtung für Herbert eine Tochter der Erinnerung. Der Schreibende lauscht den Stimmen der Vergangenheit, sondiert eigene Erinnerungsbilder, historische Reste und Mythen. Manchmal wird er fast ausgesaugt von den Toten. Tatsächlich aber begibt er sich „auf eine Reise in die Zeit, mit dem ganzen Gepäck unserer Erfahrung, wenn wir die Mythen, Symbole und Legenden prüfen, um aus ihnen das, was gültig ist, herauszufinden“. Doch nicht nur das Gültige hat Herbert interessiert. Er nutzt die Mythen und Legenden auch, um konkrete politische und historische Erfahrungen in ihnen zu durchdenken. Prokrustes etwa wird ihm zum Beispiel, wie sich der Glaube an den Fortschritt und das Streben, die Menschen „gleichzumachen“, in sein Gegenteil verkehren kann. Die Geschichtsbücher des Livius wiederum liest Herbert gegen den Strich, indem er in den Versen den Untergang eines Imperiums aufscheinen lässt.
Bei so vielen Anspielungen und Namen wäre ein kleiner Kommentarteil durchaus nützlich gewesen. Auch ist es ein wenig schade, dass man all dem nicht in den polnischen Texten nachhorchen kann. Oft verwendet Herbert Klänge und rhythmische Verschiebungen, die man sich gerne im Original angesehen hätte, und sei es nur in kleiner Auswahl. Die deutschen Versionen aber lassen erahnen, dass die Übersetzungen äußerst gelungen sind. Fünf Übersetzer für neun Gedichtbände, besonders Renate Schmidgall hat immer wieder schöne Lösungen gefunden. Wie jene Hummel der Übersetzung, die Herbert in einem Gedicht besingt, schenkt sie uns einen Eindruck vom Inneren der Blüte – „wo Süße und Aroma sind“.
Eine reine Feier des Schönen sind Zbigniew Herberts Gedichte aber keineswegs, so sehr sie sich auch für die Süße und Vielschichtigkeit der Welt aussprechen. Herr Cogito versteht nur zu gut, der „Sieg des Wissens“ bringt keinen Grundsatz des Handelns, keine moralische Norm hervor. Doch entgegen allen Widersprüchen und ironischen Brechungen schreibt Herbert bis zu seinem Tod im Jahr 1998 davon, dass wir die „Hüter unsrer Brüder“ sind. Ein moralisch-ethischer Impetus durchzieht die Gedichte, der das Bewusstsein für jeden einzelnen Menschen wachhält. Aus der Fantasie, heißt es einmal, müsse man im Gedicht mit seinem ungeraden Denken ein „Werkzeug / des Mitgefühls“ machen. Ein schöneres Plädoyer für die Empathie lässt sich kaum denken.

Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 16.12.2016

„Was irdischem Maß und Urteil unterliegt“

„Auch Schatztruhen brauchen Schlüssel: Gesammelte Gedichte von Zbigniew Herbert. –

Herr Cogito
wehrte sich immer
gegen den Rauch der Zeit

er schätzte konkrete Gegenstände
die still im Raum stehen

er verehrte beständige
fast unsterbliche Dinge

Träume von der Zunge der Cherubim
ließ er im Garten der Träume

er wählte
was irdischem Maß und Urteil
unterliegt

um wenn die Stunde schlägt
ohne Murren zuzustimmen

der Probe von Lüge und Wahrheit
der Probe von Feuer und Wasser

Zbigniew Herbert, neben dem älteren Czesław Miłosz, neben Wisława Szymborska, Tadeusz Rozewicz und dem jüngeren, 1945 geborenen Adam Zagajewski, einer der großen modernen Dichter aus Polen, „traute niemals / den Kunststücken der Phantasie… er wollte restlos begreifen“: „die Nacht Pascals“ oder „die Melancholie des Propheten“ ebenso wie „den Wahn der Völkermörder“.
Deshalb liebte er tautologische Erklärungen wie die, dass „das Messer ein Messer / der Tod der Tod“ seien. In Lemberg, das bis 1918 noch zur habsburgischen Doppelmonarchie gehört hatte, nun zu Polen gehörte, wurde er 1924 geboren. Sein Vater, der Bankier, liebte Anatole France und rauchte mazedonischen Tabak. Seine frühen Jahre verbrachte er in einer weißen Villa im Wald:

das Haus ist der Kubus der Kindheit
das Haus ist der Würfel der Rührung

Als Zbigniew gerade anfing, erwachsen zu werden, waren mörderische Zeiten ausgebrochen. Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee ein, Ende Juni 1941 folgten die Deutschen. Der erste Gedichtband Lichtsaite konnte erst 1956 im „Polnischen Oktober“ erscheinen. Es war das Jahr des niedergeschlagenen Arbeiteraufstands in Poznan (Posen) und des Regierungsantritts von Wladislaw Gomulka. Der Dichter war damals aus Protest schon wieder aus dem Schriftstellerverband ausgetreten.
Mit nüchterner Gelassenheit und einer Prise Selbstironie tritt uns das lyrische Gesamtwerk dieses europäischen Dichters entgegen, der sich gerne in Anspielung auf Descartes’ „Cogito“ als den denkenden, also nicht träumenden Dichter bezeichnete:

Herrn Cogitos Phantasie
hat Pendelbewegung

sie verläuft präzise
von Leiden zu Leiden

in ihr ist kein Raum
für künstliche Feuer der Dichtung

er möchte treu bleiben
der ungewissen Klarheit

Auf diese vorsichtige, gleichsam gewissenhafte Distanz zur „Kunst des Worts“ hat schon Peter Hamm hingewiesen. Dass der „Klarheit“ dann doch ein Rest von Ungewissheit innewohnt, setzt der Distanz zur Kunst ihre Grenzen.
Genau 402 Gedichte umfasst Zbigniew Herberts Werk, von denen 144 nun erstmals auf Deutsch vorliegen; Renate Schmidgall hat letztere für diese Gesamtausgabe aus dem Polnischen übersetzt. Die anderen Gedichte Herberts sind im Suhrkamp Verlag seit 1964 in neun Einzelbänden erschienen, die in der Anordnung und Vollständigkeit nicht immer den Originalausgaben entsprochen haben. Umgekehrt hat es auch Gedichte gegeben, die in Polen vor 1989 nicht erscheinen durften. Die Vielzahl der Übersetzer beschränkt sich nun auf die eigentlichen Kenner und Freunde des Werks: Es sind Henryk Bereska, der in diesem Jahr verstorbene Karl Dedecius, Klaus Staemmler, Oskar Jan Tauschinski und eben Renate Schmidgall, die zusammen mit dem polnischen Dichter und Verleger Ryszard Krynicki alle Gedichte „durchgesehen, korrigiert und, wo nötig, überarbeitet“ hat.
Der deutschen Ausgabe ist eine knappe editorische „Nachbemerkung“ des Herausgebers Krynicki beigegeben sowie ein sehr persönliches Nachwort von Michael Krüger, das Herbert in die Nähe des nur um drei Jahre älteren Tadeusz Rozewicz rückt. Dieser, der 1943/44 als Partisan gegen Hitler gekämpft hatte, galt in Polen als der Dichter des „Kahlschlags“ und vertrat, so Krüger, „eine illusionslose, unpoetische Poesie“, die so unpoetisch denn doch nicht ist, wenn sie „das Rot mit dem Grau“ und „die Sonne mit dem Regen“ beschreiben will oder das Brot mit dem Hunger.
Herbert, der während der deutschen Besatzung zunächst ein illegales Gymnasium, dann eine Untergrunduniversität besucht hatte, schloss sich der polnischen Heimatarmee an, war also wie Rozewicz Teil der großen bewaffneten Widerstandsbewegung. Kein Wunder, dass auch er nicht bruchlos an alte polnische Lyriktraditionen anknüpfen konnte und wollte. Michael Krüger stellt dar, wie Herbert auf der Suche nach „anderen Wirklichkeiten“ einen ganz eigenwilligen Zugang zur antiken Kunst und zum Mythos gefunden habe, bis er in Herrn Cogito – einem Monsieur Teste der Lyrik – seinen neuen Vergil gefunden und sich mit ihm wieder der Gegenwart der Dinge und des Denkens zugewandt habe. Die skurrilen und zugleich anmutigen Züge dieses intellektuell unermüdlichen Alter Ego haben wohl auch das Bild des viel gereisten Dichters geprägt, an das sich ältere Berliner erinnern.
So hilfreich Michael Krügers nachgereichte Anleitung zum Lesen auch ist, so wenig befriedigt die Kurzbiografie des Dichters, die knapper gehalten ist als die seiner Übersetzer Bereska, Dedecius und Staemmler. Auch zum Herausgeber Krynicki, einem bedeutenden Lyriker der Generation 68 und Freund Herberts, hätte man sich durchaus nähere Angaben gewünscht. Etwa seinem Geburtsort, dem Lager Wimberg bei St. Valentin (NÖ). Es handelt sich dabei um ein Außenlager des KZ Mauthausen. Zu St. Valentin gehörte das Nibelungenwerk, das um 1943 das größte deutsche Montagewerk für Panzer gewesen ist; unter seinen rund 8.500 Arbeitern waren sehr viele Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge.
Zeitgeschichtliche Hinweise wie diese sind gerade auch bei Zbigniew Herbert, dessen politische Erfahrungen so grundlegend und stilbildend für sein Werk waren, ganz unerlässliche Hilfen zum Verständnis der Gedichte. Die Hinzufügung einer ausführlichen Zeittafel wäre sehr verdienstvoll gewesen. Ganz entschieden aber fehlen Erläuterungen zu den sachlichen und personalen Bezügen vieler Gedichte. Nicht wenige bleiben ohne ein Vorwissen, ohne eine zusätzliche Erklärung zu Personen oder Sachen verschlossen wie Schatztruhen ohne Schlüssel. Deshalb haben die 2007/2008 bei Harper Collins beziehungsweise bei Atlantic Books erschienenen Collected Poems 1956–1998 ganz selbstverständlich einen solchen Anmerkungsteil, dem man durchaus vertrauen kann. Übrigens gibt es darin eine hervorragende Einführung von Adam Zagajewski und zusätzlich die 79 Gedichte, die Czesław Miłosz und Peter Dale Scott ins Englische übersetzt haben.
Zbigniew Herbert hat selbst in seinem Gedicht „Herr Cogito über die Notwendigkeit der Präzision“ die zu Herzen gehende Motivation für einen Anmerkungsapparat geliefert:

wie schwer ist die Ermittlung der Namen
jener die gefallen sind
im Kampf gegen eine unmenschliche Macht
… man darf sich nicht verzählen
auch nicht um einen
… Mangel an Wissen über die Vermissten
bringt die Realität der Welt ins Wanken

Gleich auf Seite 15 stoßen wir auf einen Mangel an Wissen. Wir lesen das Gedicht „Den gefallenen Dichtern“, und niemand sagt uns die Namen der 1944 gefallenen Krzysztof Kamil Baczynski und Tadeusz Gajcy. Wer war Henryk Elzenberg, über den Adam Zagajewski geschrieben hat? Und wo findet man „unseren Ardenner Wald“, den Kriegsschauplatz polnischer Partisanenkämpfe? Im Gedicht auf den „17. IX.“ in Lemberg sollte man wissen, dass der „Aggressor“ zur Zeit des Nichtangriffspaktes zwischen Hitler und Stalin 1939 die Sowjetarmee war. Auch dass das Gedicht „Mitteleuropa“ schon im Original den deutschen Titel trug, wäre keine unwichtige Information.
Ganz im Geheimnis bleibt das Gedicht „Eine Episode aus Benoît“, wenn man auf einem der Kapitelle (in der Übersetzung fälschlich „auf einer der Kapitelle“) vor der Abtei nicht den nackten Max Jacob erkennt, den jüdischen Malerpoeten. Um ihn ringen Satan und „der vierflügelige Erzengel“. Max Jacob lebte dort an der Loire wie ein Eremit, wurde verhaftet und kam im Durchgangslager Drancy am 5. März 1944 ums Leben. Zagajewski hat in seinem Tagebuch „Die kleine Ewigkeit der Kunst“ über ihn geschrieben. Unter den wunderbar klaren Gedichten Zbigniew Herberts ist diese „Episode“ eines der dunkelsten und zauberhaftesten zugleich.

Herbert Wiesner, Die Welt, 19.11.2016

Nicht mitzuhassen… bin ich da

Endlich liegt das lyrische Lebenswerk des polnischen Dichters Zbigniew Herbert (1924–1998) in einem Band vor. Er enthält sämtliche Gedichte, die Herbert in seine neun Lyrikbände aufgenommen hatte, mehr als hundert von ihnen erstmals in deutscher Übersetzung. Manche konnten einst aus Gründen der Zensur in den polnischen Originalausgaben nicht erscheinen, wurden in ihren deutschen Übersetzungen vor den erst nach seinem Tode möglichen Originalausgaben veröffentlicht. Ryszard Krynicki geht dieser europäischen Ungleichzeitigkeit in seiner Nachbemerkung minuziös nach. Michael Krüger setzt dem Freund in seinem Nachwort ein sehr persönliches Denkmal.  Die Gedichte des Bandes sind von verschiedenen Übersetzern ins Deutsche übertragen worden. Schön ist dabei die „Vereinigung“ der beiden großen Wegbereiter polnischer Literatur in Deutschland, Karl Dedecius im Westen und Henryk Bereska aus der DDR. Nachzulesen und neu zu entdecken ist ein überwältigender lyrischer Kosmos, den der in europäischer Kultur gebildete, kritische und intellektuelle Dichter geschaffen hat.
In einem Prosagedicht befürchtet Herbert:

In der schwarzen Erde werden verstreute Laute von uns bleiben. Akzente über dem Nichts und dem Staub.

Ganz so gering wird der Nachlass auch auf Grund dieses Bandes nicht beachtet bleiben. Vor allem nicht dank des erst in der Mitte seines Schaffens in den Gedichten auftauchenden „Herrn Cogito“, dessen Mission Menschenmögliches fast übersteigt. Dennoch gilt ihm der mahnende Vers:

hüte dich dennoch vor Hochmut
betrachte dein Narrengesicht im Spiegel
und wiederhole: ich wurde berufen – gab’s denn nicht bessere
hüte dich vor der Dürre des Herzens…

Herbert schließt „Herrn Cogitos Vermächtnis“ mit dem poetischen Appell „bleib treu Geh“.
Wie sehr Herbert, der von einem Stipendiaten-Aufenthalt in Kalifornien desillusioniert zurückkehrte, in Europa zu Hause war, das er bereisen konnte, wie sehr er aus der europäischen Kultur seit der Antike als seinem selbstverständlichen lyrischen Fundus schöpfte, zeigen viele Gedichte. Das mythische Griechenland und die Renaissance Italiens vertiefen manch aktuellen Gedanken.

Die Alten Meister
kamen ohne Namen aus.

In einem der späten Gedichte erinnerte sich Herbert an sein Jura-Studium:

Mein Professor der Gerichtsmedizin der alte Manczewicz
verneigte sich wenn er die Leiche eines Selbstmörders aus dem Formalinteich holte
und wollte um Vergebung bitten
und öffnete dann mit geübter Hand den herrlichen Thorax

um am Ende des „Scham“ überschriebenen Gedichts zu Sophokles’ Antigone zu finden:

Darum – den Toten treu ihre Asche ehrend – verstehe ich
den Zorn der Griechenprinzessin ihren verbissenen Widerstand
sie hatte recht – ihr Bruder verdiente ein würdiges Begräbnis
das Grabtuch der Erde sorgsam
über die Augen geschoben.

Der Ausruf der Antigone „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ steht als Ausdruck abendländischer Humanität über dem Werk dieses großen polnischen Europäers.

Harald Lorch, neues deutschland, 13.7.2017

Lyrikwerk eines der bekanntesten polnischen Dichter

„Du schaust auf meine Hände / und sagst sie sind schwach wie Blumen / du schaust auf meinen Mund / zu klein um zu sagen: Welt“ – heißt es in einem der ersten Gedichte dieses gewichtigen Bandes, der erstmals die Gedichte des polnischen Schriftstellers Zbigniew Herbert (1924–1998) versammelt in deutscher Übersetzung bringt. Auf den reichlich 600 Seiten spannt sich der Bogen von dem Debütband Lichtsaite (1956) bis zu Gewitter Epilog (1998), der kurz vor seinem Tod erschien.
Der Leser kann deutlich die lyrische Entwicklung über vier Jahrzehnte verfolgen und wird dabei feststellen, dass Anschauungskraft und Gedankenklarheit über diesen Zeitraum eine Konstante in den Gedichten geblieben sind. Herbert war ein Lyriker, dem es in seinen Gedichten nicht um modernes Gepräge oder nihilistische Attribute ging, bei ihm ging es nicht um bloße Wortkunst, vielmehr stand „das poetische Ergebnis seines intensiven Nachdenkens und seiner geduldigen Beobachtung“ im Mittelpunkt. Herberts Gedichte sind im Gegensatz zu vielen Lyrikprodukten der Neuzeit zum Lesen, Vortragen und Nachdenken geeignet.
Herbert gehörte zu der Generation polnischer Dichter, die die Hitler-Diktatur und den sowjetisch gesteuerten Stalinismus erlebt haben, so fand er in der Lyrik die Sprache seines Protestes. Und wo diese nicht ausreichte, griff er zum Prosagedicht. Eine lyrische Erfindung ist sein eigentümlicher „Herr Cogito“, der über den Zustand der Welt sinnierte und Auskunft gab. „Herr Cogito“, der den Dichter bis zum Lebensende begleitete, war gewissermaßen ein zeitgenössischer Kommentator und Kritiker – so in „Herr Cogito liest die Zeitung“:

Auf der ersten Seite
die Meldung vom Tod der 120 Soldaten
der Krieg dauerte lange
man kann sich daran gewöhnen

Komplettiert wird der Sammelband durch ein Nachwort von Michael Krüger, in dem er auch das mythologische Interesse Herberts beleuchtet und der Frage nachgeht „Was mach den Herrn Cogito so anziehend inmitten der vielen ,Ichs‘ der modernen Literatur?“ Dank an den Suhrkamp Verlag, der mit diesem Sammelband das Lyrikwerk eines der bekanntesten polnischen Dichter im deutschsprachigen Raum in die Hand gibt.

Manfred Orlick, amazon.de, 26.11.2016

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Heinrich Detering: Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte
lyrik-empfehlungen.de, 2017

Monika Vasik: „Die Dichtung ist die Tochter der Erinnerung“
fixpoetry.com, 2.5.2017

Meteorologie des Herzens
kulturkirchen.org

Bernd Leukert: Zuweilen bissig
faustkultur.de, 4.1.2017

 

 

Jan Wagner: Im Königreich der Dinge. Insbesondere über Zbigniew Herbert. Dritter Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur

 

IN FREMDEN STÄDTEN
Für Zbigniew Herbert

In fremden Städten wohnt unbekannte Freude,
das kalte Glück eines neuen Blicks.
Der gelbe Häuserputz, den die Sonne
wie eine flinke Spinne hinaufklettert, ist
nicht für mich. Nicht für mich sind
Rathaus, Hafen, Gericht und Gefängnis gebaut.
Das Meer fließt durch die Stadt mit salziger
Flut und überschwemmt die Keller, die Veranden.
Auf dem Markt stehen die Prismen der Äpfel
wie Pyramiden für die Ewigkeit eines Nachmittags.
Und sogar das Leiden ist nicht mehr
so sehr meins: der Stadttrottel brabbelt
in einer fremden Sprache, und die Verzweiflung des einsamen
Mädchens im Café ist wie ein Stück
Leinen im dunklen Museum.
Die großen Fahnen der Bäume flattern
im Winde genauso wie an den bekannten
Plätzen und dasselbe Blei hängt davor, eingenäht
in den Saum der Bettlaken, der Träume,
der rasenden und unbehausten Phantasie.

Adam Zagajewski
Übersetzung Karl Dedecius

 

 

Aus dem Archiv von Polskie RadioOb in Polen oder im Ausland – man kennt Zbigniew Herbert

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDbPIA +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 1/8.

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 2/8.

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 3/8.

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 4/8.

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 5/8.

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 6/8.

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 7/8.

 

Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 8/8.

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