TESTAMENT
Ich vermache den vier elementen
was ich zur kurzen verfügung hatte
dem feuer – meine gedanken
möge das feuer blühen
der erde die ich zu sehr geliebt
den körper das taube korn
und der luft die worte und gesten
die sehnsucht das heißt nutzlose dinge
was übrig bleibt
ein wassertropfen
mag zwischen himmel und erde
kreisen
mag es durchsichtiger regenfall sein
farnkraut des frosts flocke des schnees
mag es den himmel niemals erreichend
zum jammertal meiner erde
zurückkehren treu als reiner tau
geduldig die harte scholle zu rühren
bald gebe ich den elementen zurück
was ich zur kurzen verfügung hatte
ich kehre nicht wieder zur quelle der ruhe
Man muß kein großer Kenner der heutigen Literatur sein, um einen ihrer wesentlichen Charakterzüge zu bemerken – den Ausbruch von Verzweiflung und Unglauben. Alle Grundwerte der europäischen Kultur sind heute in Frage gestellt. Zahllose Romane, Theaterstücke und Gedichte sprechen vom unabwendbaren Untergang, von der Sinnlosigkeit des Lebens, von der Absurdität der menschlichen Existenz. Es ist nicht meine Absicht, den Pessimismus leichterhand zu verspotten, dort, wo er eine Reaktion auf das Böse in dieser Welt ist. Aber ich meine, daß die schwarze Tonart der Gegenwartsliteratur aus der Einstellung der Autoren zur Realität kommt. Und diese Einstellung wollte ich im Gedicht angreifen.
Die romantische Konzeption vom Dichter, der seine Wunden bloßlegt, der das eigene Unglück besingt, hat heute immer noch, trotz der Wandlung der Stile und des literarischen Geschmacks, viele Anhänger. Man glaubt, die betonte Selbstbezogenheit, das Manifestieren seines wunden „Ich“ sei des Künstlers heiliges Recht.
Gäbe es eine Schule der Literatur, müßte man in ihr vor allem die Beschreibung der Gegenstände üben und nicht die der Träume. Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, daß wir diese Welt ins Wort fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.
Sehr früh, fast zu Beginn meiner literarischen Arbeit, wurde mir klar, daß ich meinen Gegenstand außerhalb der Literatur zu suchen hatte. Das Schreiben als stilistische Übung fand ich unfruchtbar. Lyrik als Kunst des Worts langweilte mich. Ich begriff auch, daß ich mich von den Gedichten anderer nicht lange hätte ernähren können. Ich mußte aus mir und aus der Literatur ausbrechen, mich in der Welt umsehen, andere Wirklichkeiten erobern.
Die Philosophie machte mir Mut, erste wesentliche Fragen, Grundsatzfragen zu stellen: ob die Welt existiert, wie ihr Wesen ist und ob sie erkennbar ist. Wenn man aus dieser Disziplin einen Nutzen für die Lyrik stiften kann, dann nicht dadurch, daß man Systeme beschreibt, sondern daß man den Gedankenprozeß offenbart.
Ich wende mich nicht an die Geschichte, um aus ihr eine leichte Lektion der Hoffnung abzuleiten, sondern um meine Erfahrung mit der Erfahrung anderer zu konfrontieren, um für mich etwas zu gewinnen, was ich das universelle Mitleid nennen würde, auch Verantwortungsgefühl, Gefühl der Verantwortung für den Zustand der menschlichen Gewissen.
Alt ist der Traum des Dichters davon, daß sein Werk zum konkreten Gegenstand werde, wie der Kiesel oder der Baum, daß es, aus der Materie der Sprache gebildet, die einer ständigen Wandlung unterliegt, ein dauerhaftes Leben erlange. Für eine der möglichen Methoden halte ich diese: sich selbst zu überwinden, die Beziehungen, die das Gedicht mit dem Autor hat, zu verwischen. So verstehe ich die Empfehlung Flauberts: „Der Künstler sollte sich in seinem Schaffen verstecken, ähnlich wie sich der Schöpfer in der Natur versteckt.“
Und Paracelsus sagte, die Erschaffung der Welt durch Gott sei unvollendet geblieben, der Mensch sei berufen, den Schöpfungsakt zu vollenden. Ich halte es für einen sehr schönen humanistischen Glauben.
Das Gefühl der Zerbrechlichkeit und der Nichtigkeit des menschlichen Lebens wirkt weniger deprimierend, wenn man es in die Kette der Geschichte einordnet, die ein Weiterreichen des Glaubens an den Sinn unseres Tuns und Wollens ist. Auf diese Weise verwandelt sich sogar der Schrei des Schreckens in einen Ruf nach Hoffnung.
Zbigniew Herbert, Vorwort
Zbigniew Herbert ist in Lemberg am 29. Oktober 1924 geboren. Sein Vater – Jurist – war Bank- und Versicherungsdirektor. Den größten Einfluß im Elternhaus hatte die Großmutter, eine Armenierin der Herkunft nach und eine fromme Christin. An ihr hing die Liebe des Knaben. Die Mutter hatte zwischen den Gegensätzen zu vermitteln.
Das eigentliche Elternhaus Herberts lag im Walde: eine weiße Villa unweit von Lemberg, in der die Ferien verbracht wurden; ein Reich mit einem selbstgebastelten „astronomischen Observatorium“ auf dem Dachboden, mit Nestern wilder Wespen und Fledermäusen. Man konnte von hier aus phantastische – einsame – Ausflüge unternehmen, Streifzüge ins hohe Gras und in den Wald, zu den „türkischen Gräbern“ wo es Gespenster gab und Fichten, „den Baum meiner Kindheit“.
Dieses Leben ging in Trümmern, als Herbert vierzehn war. Die Familie wurde auseinandergetrieben; Terror, Hunger und die Verschleppung nach Rußland wurde allerdings überstanden. Das Jahr 1941 brachte mehr „Ordnung“ ins Leben: Gymnasium, dann Universität, die illegal waren, Posten eines Blutspenders, Teilnahme an der Widerstandsbewegung.
Danach kam das Leben in Krakau. Herbert begann an der Handelsakademie zu studieren; darauf folgten das Studium der Rechte in Thorn und der Philosophie in Warschau, die Teilnahme an literarischen Diskussionen und politischen Versammlungen, seine Kontakte mit der Akademie der Schönen Künste und der Schauspielschule. Ruhelose Lehr- und Wanderjahre.
Herbert redigierte die Kaufmännische Rundschau und war Angestellter an der Nationalbank. Dabei fand er noch Zeit genug, um die Abschußarbeit über den Ästhetischen Aspekt der philosophischen Systeme vorzubereiten. 1951 trat Herbert aus dem Schriftstellerverband aus, zwei Jahre später in die Redaktion des katholischen Allgemeinen Wochenblatts ein, das bald darauf liquidiert wurde. Das Jahr 1956 brachte endlich die ersten Publikationen und die erste Anerkennung – Herbert debütierte mit dem Lyrikband Lichtsaite, dem ein Jahr darauf ein zweiter folgte: Hermes Hund und Stern. Der dritte Gedichtband, Studium des Gegenstandes erschien 1961, der vierte Inschrift, 1969.
Im Jahre 1971 gab sein Verlag (Czytelnik in Warschau) die Gesammelten Gedichte, ein Jahr davor das Staatliche Verlagsinstitut (PIW in Warschau) seine Dramen heraus.
Reisen durch Frankreich, England, Italien und Griechenland entsprang ein Buch bester polnischer Prosa – Ein Barbar in einem Garten (1962). Historische Betrachtung, Kunstbeschreibung, Reisebericht und lyrische Impression verbanden sich hier zu einer klassischen Einheit.
1965 erhielt Zbigniew Herbert den Nikolaus-Lenau-Preis: „Ich bin froh, daß das dichterische Werk heute Grenzen passiert und Gespräche mit anderen Bewohnern dieser Erde führt … Die Poesie ist dazu berufen, ein Verständigungsmittel der Welt zu sein, weil sie der Menschheit wirkliche Erfahrungen übermittelt.“ (Aus Herberts Rede bei der Preisverleihung in Wien.)
Herbert wurde 1966 zum korrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste gewählt, 1971, nach seiner Heimkehr von mehrjährigen Auslandsreisen – Bundesrepublik, USA, Holland, Österreich – vom Polnischen Schriftstellerverband in den Vorstand aufgenommen. 1973 verlieh ihm die FVS-Stiftung Hamburg den Gottfried-von-Herder-Preis in Wien.
In deutscher Sprache liegen (alle im Suhrkamp Verlag) folgende Bücher Herberts vor.
Gedichte (es 88, 1964), Ein Barbar in einem Garten, Essays (es 111, 1965), Inschrift, Gedichte aus zehn Jahren (1967), Ein Barbar in einem Garten 2 (es 365, 1970), Im Vaterland der Mythen, Griechisches Tagebuch, Gedichte, Dialoge, Essays (BS 339, 1973), Inschrift, Gedichte (BS 384, 1973). Als vervielfältigtes Manuskript liegen im Theater Verlag Suhrkamp folgende Stücke Herberts deutsch vor: Das andere Zimmer (1966), Die Höhle des Philosophen (1966).
Dieses Buch ist eine revidierte Ausgabe der Inschrift von 1967: das Konzept, die Anordnung, die Zahl der Gedichte (100) blieb, es sind nur einige Übersetzungen gegen neuere ausgetauscht. Die Auswahl, vom Herausgeber thematisch geordnet, ist ein Querschnitt durch Herberts lyrisches Gesamtwerk.
Obwohl Herbert in der englischen und französischen Dichtung zu Hause ist und sich zuweilen an der deutschen (vor allem an Benn) orientiert, schuf er ein in der polnischen und wohl auch europäischen Lyrik durchaus originelles, in Tonfall, Tendenz und Temperament spezifisches Gedicht, das eine zurückhaltende und deshalb um so wirksamere Entzauberung der klassischen und der modernen Mythologie betreibt; im Namen der Ratio, die nach einem philosophisch und moralisch vertretbaren Erkenntnissystem fahndet. In dieser Lyrik finden wir das poetische Postulat von MacLeish – das Gedicht habe nicht zu bedeuten, es habe zu sein – verwirklicht, aber auch mehr: Herberts Gedichte sind und bedeuten. Metapher, Gedanke, Moral, die Phantasie und die Realien widersprechen in ihnen einander nicht. Sie bilden einen harmonischen Sinn- und Klangkörper, in dem keins der Teile das andere, auf Kosten des anderen, überfordert. Sie schaffen die von Przyboś so häufig apostrophierte Stimmungseinheit des Gedichts. Diese Meisterschaft in der Komposition eines Ganzen aus sehr unterschiedlichen Elementen und Stilen macht Herbert, wie der Warschauer Kritiker J.J. Lipski feststellte, „zu einer der intellektuell reichsten künstlerischen Erscheinungen der heutigen Lyrik“. Es gelingt ihm wie keinem seiner Altersgenossen, die Konfliktsituation des modernen Menschen mit gedanklich wie ästhetisch gleichermaßen gültigen Parabeln zu bestimmen.
Biblische, historische und mythologische Stoffe sind Herbert ein Idealgelände für Meditationen, für seine subtil ironisierenden Vergleiche.
Herbert ist Dichter eines Jahrtausendealten und zugleich ewig aktuellen Gleichnisses von der Grausamkeit der Götter und der Verlorenheit des Menschen. In diesem Kampf – zwischen Apollo und Marsyas – steht Herbert auf der Seite der Erniedrigten und Beleidigten, ohne den Kampf um die Befreiung aus den Zwängen der alten und der neuen Mythen aufzugeben, ohne das Loblied des Lebens zu versäumen.
Karl Dedecius, Nachwort
sind ein gültiger Querschnitt durch Zbigniew Herberts lyrisches Gesamtwerk. „Ich glaube, das macht die Gedichte des Zbigniew Herbert so bedeutsam, daß in jeder Zeile der Zweifel an der Sprache wohnt, aber zugleich die Bejahung der Sprache als Mitteilung von Welt.“ Horst Bieneck
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1973
Aus dem literarischen Debütanten des Jahres 1956 Zbigniew Herbert ist inzwischen einer der angesehensten polnischen Lyriker geworden. Herberts Dichtungen werden von der Kritik in Warschau und von den Emigranten gleicherweise gerühmt, sie sind in viele Sprachen übersetzt worden und qualifizierten den Lyriker als Kandidaten für den Nobelpreis. In Deutschland wurde der heute 43jährige Poet erstmals 1963 mit einem Hörspiel vorgestellt, 1964 erschien in der edition suhrkamp eine Gedichtauswahl, und 1965 folgte ein Prosaband (Ein Barbar in einem Garten), in dem Reiseimpressionen mit geistvollen Reflexionen über Kunst und Geschichte verbunden sind. Der neue Gedichtband Inschrift, in den etliche Texte aus dem Lyrikbuch von 1964 übernommen wurden, ist wiederum von dem mit Herbert befreundeten Karl Dedecius herausgegeben und übertragen worden. Zbigniew Herbert schreibt eine klare, nüchterne Lyrik, in der weder Platz für pseudopoetischen Schwulst noch für aufdringliche Zeigefinger-Didaktik ist; Herberts Sprache ist unprätentiös, bisweilen lapidar, die Bildhaftigkeit ist eingeschränkt und vom Intellekt gezügelt. Diese Dichtung ist von der Ratio gelenkt und auf der Suche nach Erkenntnis: Herbert – ein Pole, der die Schrecken der Okkupationsjahre bewusst erlebt hat – will die Welt nicht lyrisch verklären, sondern durchschaubar machen. In seinen mehrschichtigen Gedichten sind die Dinge zwar ganz konkret gesehen, doch zugleich werden sie transparent, gewinnen Zeichencharakter. Auch die Wendung zur Mythologie ist bei Herbert kein Fluchtsymptom, vielmehr variiert er die hellenischen und biblischen Mythen so, dass sie zum Spiegel der Gegenwart oder zur Chiffre für Archetypisches werden. Zbigniew Herberts Lyrik bringt keine formalen Revolutionen; Herberts eigenständige Leistung ist die Synthese: die Verbindung von Deskription und Reflexion, von Engagement und Artistik, polnischer Literaturtradition und „Weltsprache der modernen Poesie“. Die heterogenen Elemente sind in den besten Gedichten Herberts – weniger in den schwächeren Prosa-Miniaturen, die sich ebenfalls in dem Band finden – nicht kontrastierend nebeneinander gesetzt, sondern im Kunstwerk zu einer harmonischen Einheit verschmolzen. Diese Gedichte bestätigen das Urteil des Krakauer Kritikers Jerzy Kwiatkowski, der in Zbigniew Herberts Lyrik eine „Poetik der ausgewogenen Waagschalen“ erkannte.
„Versuch einer Auflösung der Mythologie“ ist eines der Stücke dieses Bandes, ein Gedicht in Prosa betitelt: die griechischen Götter versammeln sich in einer Vorortbaracke, um ihre „Organisation“ aufzulösen – „genug der sinnlosen konspiration, man muß der rationalistischen gesellschaft beitreten und irgendwie überleben“. Der 1924 in Lemberg geborene Zbigniew Herbert –mit Tadeusz Rozewicz der bedeutendste polnische Lyriker der mittleren Generation – berichtet in klaren Lettern von dieser Abdankung, auch wenn sein Herz spürbar der im Winkel schluchzenden Athene gehört. Bildung und Kunstverstand, vor allem sein hochentwickelter Sinn für ,Gestalt‘ binden ihn ans Vergangene. Aber da er sich der Kraft der Veränderung nicht verschließt, hält er dem Vergangenen die Treue, indem er dessen Verwandlungen nachspürt. Diese Balance zwischen Tradition und Modernität, Poesie und Entzauberung ermöglicht immer wieder die „fast klassischen Proportionen“, die Czeslaw Milosz am Gedicht Herberts rühmt.
Da dieses prekäre Gleichgewicht in jedem Gedicht aufs neue gewonnen werden muß, gehört zu dieser Lyrik unabdingbar der Aspekt von Arbeit und in eins damit der von Bewußtheit und Helle. Dunkles Raunen ist dem Gedicht Herberts fremd, noch das Verborgene wird ins Licht gehoben:
Sag nicht es sei nicht wahr es gäbe die engel nicht
vertieft im teich des trägen körpers du
die du alles im farbton deiner augen siehst
und satt von der welt bei der schranke der wimpern verharrst.
Verse von einer fast programmatischen Deutlichkeit, wie sie sich einstellt, wenn die Wirklichkeit nicht eigentlich entziffert, sondern eine Meinung oder eine Wahrheit vorgetragen wird – nicht von ungefähr, und nicht nur wegen der ,Engel‘, erinnern diese Verse an Rilke (auch, wenn ein anderes Gedicht – „Niemals von dir“ – mit den Versen schließt: „Wundert euch nicht, daß wir die welt nicht beschreiben können / wir nennen die dinge nur zärtlich beim namen“). Hier dominiert dann im Gedicht das ,Sagen‘: eine Gefahr dieses Lyrikers, der er nicht immer ganz entgeht. Erklärtes Ziel Herberts ist die Erkundung der Wirklichkeit:
Gäbe es eine Schule der Literatur, müsste man in ihr vor allem die Beschreibung der Gegenstände üben und nicht die der Träume, Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt.
Diese Erkundung der Welt, Herbert weiß das, ist von verschiedenen Seiten bedroht, und der Lyriker muß nach verschiedenen Richtungen kämpfen, um das Gedicht, sein Gedicht, zu retten. Einmal gegen die Philosophen, die zweifellos in dem schönen und sehr aufschlußreichen Gedicht „Hocker“ gemeint sind, wo von „Scharlatanen“ die Rede ist, die sagen:
es lüge die hand es lüge
das auge wenn es die formen berührt die leer sind
Zbigniew Herberts Liebe gilt dem Sichtbaren, den Gegenständen, gerne den unscheinbaren.
Der kiesel ist als geschöpf
vollkommen
sich selber gleich
auf seine grenzen bedacht
Was er liebt – fast möchte man mit Rilke sagen „rühmt“ –, ist die Identität des Gegenstandes mit sich selber (eine unmoderne Liebe vielleicht in einer Zeit, der gerade die Identität zum Problem geworden ist), sein Für-sich-Sein, die klaren Konturen. Indem Herbert sein Gedicht an die ,Moralität‘ des Gegenstandes bindet, gewinnt sein Gedicht selber so etwas wie moralische Dignität: Der Weg des Künstlers führt weder in den Elfenbeinturm noch ins Chaos.
Freilich bleibt diese Rechtfertigung des Gedichts immer gefährdet. „Ornamentatoren“ – der Titel eines Gedichts – bemalen die grauen Gefängnismauern, und mit schönen Worten können „dunkle mühlen… betrieben werden“. Und in dem Prosagedicht „Klassiker“ heißt es von dem Stilisten Cicero:
Nur kam er niemals darauf, daß die marmoräderchen in Diokletians thermen geplatzte blutgefäße von sklaven aus den Steinbrüchen sind.
Das vielzitierte Wort Brechts, daß in einem „Gespräch über Bäume“ die Untaten verschwiegen werden, ist auch in der Lyrik Zbigniew Herberts als Sorge gegenwärtig.
Angefochten wird schließlich das Gedicht, Herbert kann da wohl aus unmittelbarer Erfahrung sprechen, auch von jenen, die vom Lyriker eindeutige und sofortige (politische) Entscheidung fordern in einer Welt, in der es angeblich nur zwei Blöcke, zwei Wege gibt:
autoren der in linke und rechte Seiten geteilten leinwand
die nur zwei farben kennen
die farbe ja und die farbe nein
erfinder einfacher symbole
offener hände und geballter fäuste
des gesangs und des gewimmers…
Herberts Gedicht versagt sich dieser schrecklichen Vereinfachung, obschon das Problem der Legitimation der Kunst nicht aufhört, ihn zu beunruhigen, wie etwa dem Gedicht „Die fünf“ zu entnehmen ist: fünf Männer, Partisanen vielleicht, die in der Nacht vor ihrer Hinrichtung von weltlich-unpolitischen Dingen reden, von Mädchen, Früchten, vom Leben – woraus Herbert, nicht ganz zwingend, den Schluß ableitet, es dürfe „also“ auch die Lyrik von der Natur und von der Liebe schreiben. (Leider vermerkt der Band nicht die Entstehungszeiten der Gedichte, die zum größeren Teil polnischen Publikationen Herberts nach 1956 entstammen; möglich also, daß dies Gedicht „Die fünf“ ein älteres ist.)
Dem solchermaßen eingegrenzten und gesicherten Terrain entwächst die Lyrik Herberts. Eine Lyrik des Erwachens, nachdem der Zweite Weltkrieg seine Müllhaufen hinterlassen hat, auf dem die Überlebenden sitzen und nun wie in einer zweiten Geburt die Welt erleben:
Dann lauschten wir auf das zwitschern der trambahn die
schwalbenstimmen der fabriken
und neues leben legte sich uns vor die füße.
In diesem Erwachen entdeckt Herbert die zarte Poesie der Alltäglichkeit, die Hinfälligkeit der geschichtlichen Größe, die Würde der unscheinbaren Gegenstände und, vor allem, den verschütteten und wieder frei zu legenden Reichtum der europäischen Überlieferung. Herbert ist ein gebildeter Dichter, der nicht nur das Hier und Jetzt zum Sprechen bringen kann, sondern auch mythologische und biblische Gegenstände, Literatur (wie in dem herrlichen Gedicht „Fortinbras’ Klage“) oder, wie schon gesagt, die zur Sichtbarkeit verführte Welt der Engel. Wobei er, was diese Engel betrifft, sich einen unbekannten, imaginierten wählt: keinen strahlenden, sondern einen unvollkommenen – „schwarz nervös / im alten ausgefransten glorienschein“.
Eine für Zbigniew Herbert charakteristische sanfte Ironisierung und Entzauberung, man könnte auch sagen: Modernisierung. Mehr als die Triumphe und Herrlichkeiten bedeuten diesem Dichter die kleinen verläßlichen Gewißheiten, die Augenblicke des Zögerns, der Verfall der Größe: russische Emigranten, die im Exil ihren Glanz einbüssen und verkommen und von denen es in zwei herrlichen Versen heißt: „abends fuhr sie der samowar mit der pfeife / zu den stationen der heimat“; „Nike wenn sie zögert“ (der Titel eines berühmten Gedichts) und den in die Schlacht ziehenden todgeweihten Jüngling zurückhalten möchte; König Midas, der die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Irdischen begreift.
In dem schon zitierten Gedicht von den russischen Emigranten steht das Wort vom „zwang der geschichte“. Zbigniew Herbert erinnert Geschichte, aber in erster Linie interessiert ihn die geschichtliche Gestalt; der menschliche, nicht der politische Aspekt, das Anschaubare und nicht die Idee. Dieses Anschaubare macht er auf suggestivste Weise gegenwärtig: die besten seiner Gedichte stehen mit klaren und in ihrer Klarheit leuchtenden Umrissen vor uns, vollkommen wie das Bild des toten Jünglings auf einer griechischen Vase, dem ein kongeniales Gedicht Herberts gilt. Herausgegeben und übertragen wurde dieser schöne Band Inschrift von Karl Dedecius. Was der deutsche Leser also liest, sind vorab Gedichte dieses großartigen Übersetzers; denn nur ein Ignorant könnte meinen, daß etwa ein so wunderbarer Vers wie „und dieses wasser die worte was sollen was sollen sie prinz“, der letzte des Gedichts „Fortinbras’ Klage“ –: daß ein solcher Vers sich schlichtem handwerklichem Übersetzen verdanken könnte. Hier spricht ein Künstler, der aus Bescheidenheit oder welchen Gründen immer nur im Dienst an einem anderen sein Gedicht gewinnt. Womit nicht mit einem Wort die vom Rezensenten nicht einsehbare Genauigkeit dieser Übertragungen in Zweifel gezogen werden soll.
Rudolf Hartung, Neue Rundschau, Heft 4, 1968
Während die moderne Lyrik des Westens mit der Sache des Menschen offenbar nicht mehr viel anzufangen weiß, sind für die Lyrik der anderen Seite die anthropologischen Fragen nach wie vor von zentralem Rang. Nicht wenige tonangebende Kritiker hier halten die Zersetzung des Stofflichen und Gedanklichen, also des „Inhalts“, für unerläßlich und machen die Fortschrittlichkeit eines Gedichts davon abhängig, inwieweit es sich als fähig erweist, aus sich selbst oder durch sich selbst zu existieren, das heißt, sein eigenes formales Problem als Sprachgehalt in Erscheinung treten zu lassen. In den sozialistischen Ländern ist man anderer Ansicht. Dort lassen die Lyriker nicht gelten, daß poetische Progressivität mit Sprach- und Formmonomanie identisch sein muß. Nach ihrer Meinung kann ein Gedicht von heute durchaus noch etwas bedeuten, das außerhalb der formalen Sphäre liegt, ja, sein literarischer Wert ist auf ein großes menschliches Thema geradezu angewiesen. Nicht, daß diese jugoslawischen, polnischen, russischen Dichter keine Sprachprobleme und Ausdruckskrisen hätten. Dennoch haben sie eine zeitgerechte Lyrik geschaffen, die sich nicht gewillt zeigt, auf die humane Bedeutung des Gedichts zu verzichten.
Vor allem die polnische Lyrik ist ein Beispiel. Seit dem Oktober 1956, dem „polnischen Oktober“, hat sie mit Elan und Radikalität einen neuen „Kurs in Richtung Wahrheit“ eingeschlagen. Einziges Dogma, das sie zuläßt: die Menschlichkeit. Ihr wahrscheinlich berühmtester Vertreter ist Zbigniew Herbert. In einem Zeitraum von nur zehn Jahren und mit einem relativ schmalen Œuvre von drei Lyrikbänden und einem Band Reiseprosa hat er sich einen Namen gemacht, den man überall in der Welt mit Bewunderung und Verehrung ausspricht. Der Ruhm Herberts ist ein anderer als etwa der von Dylan Thomas zu Lebzeiten. Er ist viel stiller, reiner, vollkommen aufs Werk bezogen, fast unabhängig von der Biographie des Dichters.
Was wir über die Person wissen, hat der Übersetzer Karl Dedecius aufgezeichnet. Zbigniew Herbert ist Jahrgang 1924. Er wurde in Lemberg geboren, als Sohn eines Bank- und Versicherungsdirektors. „Den größten Einfluß im Elternhaus“, schreibt Dedecius, „hatte die Großmutter, eine Armenierin der Herkunft nach und eine fromme Christin“. Als der Krieg ausbrach, war Herbert vierzehn. Seine Familie wurde nicht geschont. Aber sie überstand „Terror, Hunger und die Verschleppung nach Rußland“. Herbert absolvierte das Gymnasium, studierte illegal, war Blutspender, beteiligte sich am Widerstand. Nach dem Krieg setzte er sein Studium in Thorn und Warschau fort, nahm Kontakte zu Literaten und Künstlern auf und reiste viel. Dann folgten Jahre, in denen er sich vor allem als Redakteur umtat, bei der Kaufmännischen Rundschau, später bei dem kurzlebigen katholischen Allgemeinen Wochenblatt. 1956 erschien sein erster Lyrikband Lichtsaite, 1957 Hermes Hund und Stern. Die Gedichte wurden rasch bekannt, brachten ihm Anerkennung und ermöglichten ihm neue Reisen: durch Frankreich, England, Italien, Griechenland. In dem vortrefflichen Prosabuch Ein Barbar in einem Garten hebt er die großen Augenblicke seiner Reisen, hervor. 1961 veröffentlichte Herbert seinen bisher letzten Gedichtband Studium des Objekts. Heute redigiert er die Monatsschrift Poezja in Warschau.
Sein berühmtestes Gedicht ist „Die Heimkehr des Prokonsuls“, ein sogenanntes Rollengedicht. Herbert erzählt in der ersten Person von den Überlegungen eines römischen Prokonsuls, der es nicht länger in der Provinz aushält und an den Hof des Kaisers zurückzukehren gedenkt. Es ist ein lebensgefährlicher Entschluß:
man wird sich aufs neue einrichten müssen mit dem gesicht
der unterlippe damit sie lernt die verachtung zu zähmen
den augen damit sie vorbildlich leer sind
und mit dem verhängnisvollen kinn dem hasen meines gesichts
der zittert sooft der garde befehlshaber eintritt
Und dann:
der kaiser übrigens mag die civilcourage
bis zu gewissen grenzen gewissen vernünftigen grenzen
im grunde genommen ist er ein mensch wie alle
und schon sehr müde der kunststücke mit dem gift
er kann sich nicht satttrinken wegen des ewigen schachspiels
der linke pokal ist für Drusus am rechten die lippe netzen
danach nur wasser trinken Tacitus im auge behalten
zum garten hinausgehn und wiederkommen wenn die leiche schon entfernt ist
Die Vorliebe für die Parabel wie die für Geschichte kennzeichnen Herberts Lyrik, bestimmen sie weitgehend. Es ist klar, daß es sich im Falle des „Prokonsuls“ um ein eminent politisches Gedicht handelt. Man könnte von Verkleidung sprechen, Verschlüsselung, davon, daß hier jemand den Machthabern die Wahrheit sagt, ohne sie auszusprechen. Auch ein Gedicht kann lebensgefährliche Folgen haben. Doch wer sich mit diesen Erwägungen zufriedengibt, schließt zu kurz. Ich glaube eher, daß für Herberts Begabung die Parabel vorgegeben ist, sie bildet das Fundament seiner Poesie, von List allein ist sie jedenfalls nicht herzuleiten. Dieses Reden in Gleichnissen heißt auch nicht, daß der Dichter, die Vergänglichkeit aktueller Anlässe für Gedichte bedenkend, sich aufs „Gültige“ zurückzöge, sich „klassisch“, richtiger: klassizistisch absicherte. Der geborene Poet Herbert wählt die Parabel instinktiv: als etwas, das keine plumpe Analogie, das nicht auszudeuten ist und doch von allen, die bestimmte Erfahrungen gemacht haben, sofort verstanden werden kann. Darin unterscheidet sich seine Dichtung von sogenannter Bildungslyrik. Aus der Zeit kommend und doch zeitunmittelbar: das ist Poesie.
Zbigniew Herbert begnügt sich nicht mit Stoffen aus der griechisch-römischen Geschichte. Ebenso oft verankert er die Erzählgedichte in der klassischen Mythologie oder in der biblischen Vorstellungswelt. Aber Namen wie Marc Aurel, Seneca, Thukydides sind ihnen doch am allergemäßesten. Vielleicht, weil sie mit den Wesenszügen der Herbertschen Lyrik korrespondieren: Zurückhaltung, Tapferkeit, Würde, Lakonität. Immer, wenn die großen Namen des Altertums fallen, kulminiert das dichterische Gelingen. „Warum Klassiker“, „Reife“, „An Marc Aurel“ sind Exempel dafür.
Mit den Stücken aus dem Umkreis der russischen Revolution kommt Herbert unserer Zeit schon sehr nahe. Auch sie wieder bezeichnend für die Perspektive des Dichters. Nicht die glorreichen Taten, sondern die Untaten beschäftigen ihn. „Das Ende der Dynastie“ beginnt so:
Damals wohnte die ganze königliche familie in einem zimmer. Hinter den fenstern war die mauer, vor der mauer die abfallgrube. Dort bissen die ratten die katzen tot. Das sah man nicht. Die fenster waren mit kalk bestrichen.
Als die Schinder eintraten, sahen sie die alltägliche szene…
Es folgt die verhalten ironische Beschreibung des Königs und seiner Familie; unschwer zu erkennen, daß hier die Romanows Modell gestanden haben.
Seine Hoheit korrigierte das reglement des regiments der wandlung des Herrn, der okkultist Philippe versuchte durch suggestion die nerven der königin zu beruhigen, der thronfolger schlief zusammengerollt zum knäuel im sessel, und die großen (und mageren) prinzessinnen sangen fromme lieder und stopften die garderobe.
Der Schlußsatz lautet:
Der lakai aber stand an der wand und gab sich mühe, die tapete nachzuahmen.
Für den Dichter also kommt die ideologische Betrachtung der Geschichte nicht in Frage. Der Herrscher ist in seinen Augen kein Popanz, seine Familie keine Horde von Ungeheuern. Es sind Einzelne, Menschen mit Schwächen und Schrullen, angesichts des gewaltsamen Todes, der ihnen droht, haben sie fast etwas Rührendes. Herbert vermeidet sowohl den sentimentalen als auch den brutalen Effekt. Die düstere Szenerie am Anfang, der unheimlich-komische, lautlose Schluß: das genügt ihm. So kommt ein Gedicht zustande, aus dem man „einen gedämpften Ruf nach Güte“ heraushört. Dasselbe Motiv wird noch einmal in den Versen der „Kronprinzessin“ variiert:
Ich die kronprinzessin
Alexandra
tochter des zaren
heut eine kleine greisin
die letzte der Romanows
weiß alles…
Was folgt, ist das Porträt einer Irrsinnigen. Wirklichkeit, Erinnerung und Angsttraum durchdringen einander. „Die Erzählung von den russischen Emigranten“ führt dann bis in jene Jahre, in die schon Herberts Kindheit fällt: eine alltägliche Geschichte vom Bewundert- und Vergessenwerden adliger Flüchtlinge, mit ruhiger klarer Stimme vorgetragen, erst ganz zum Schluß spürt man das unterdrückte Beben:
Dies erzählte mir Nikolai
der den zwang der geschichte kennt
um mich zu entsetzen das heißt zu überzeugen
Entsetzen – damit sind wir bei den zeitgeschichtlichen Gedichten angelangt. Spätestens hier wird uns deutlich, wie reich die Skala der Motive ist, die Herbert zur Verfügung hat, und wie groß seine Kraft, die einen solchen Bogen in Spannung hält. Nun meldet sich der Augenzeuge zu Wort. „Warschauer Friedhof“, „Unsere Angst“, „Zwei Tropfen“, „Die Fünf“, alles Versdichtungen aus der Besatzungs- und Untergrundzeit, deutlich scharf und doch gar nicht im Stil lyrischer Wochenschauen, auch keine Anklagen eines Gerechtfertigten, sondern Klagen eines überlebenden, Menschlichkeit heischend für die geschundene Kreatur Mensch. Noch in die privateren Gedichte wie etwa jenes über einen Lehrer bricht der Schrecken der Zeit ein:
im zweiten kriegsjahr
wurde der für naturkunde
von den strolchen für geschichte
erschlagen
„Der für Naturkunde“ gehört zu Herberts schönsten Gedichten, ja es ist singulär durch die Zartheit eines Humors, der sich dem Schmerz überlegen zeigt:
Ich kann mich an sein gesicht
nicht erinnern
er pflegte stehenzubleiben
hoch über mir
auf langen gespreizten beinen
ich sah
das goldene kettchen
den aschgrauen rock
den mageren hals
daran die tote krawatte
geheftet
als erster zeigte er uns
das bein vom krepierten frosch
das von der nadel berührt
sich heftig zusammenzog
er führte uns
durch den goldenen kneifer
ins heimliche leben
unseres urgroßvaters
des pantoffeltierchens
er brachte
ein dunkles korn
und sagte: mutterkorn
von ihm ermuntert
wurde ich vater
im zehnten lebensjahr
als die ins wasser getauchte kastanie
nach spannungsvoller erwartung
den gelben keim zeigte
und alles ringsum
sang
im zweiten kriegsjahr
wurde der für naturkunde erschlagen
von den strolchen für geschichte
wenn er in den himmel kam –
vielleicht spaziert er jetzt
auf langen strahlen
in grauen strümpfen
mit riesigem netz
und grüner botanisiertrommel
die lustig baumelt
doch kam er nicht hinauf –
wenn ich auf dem waldpfad
einem käfer begegne
der über den sandhügel klettert
trete ich näher
scharre mit den füßen
und sage:
– guten tag herr lehrer
erlauben sie daß ich ihnen helfe –
ich hebe ihn vorsichtig hinüber
und sehe ihm lange nach
bis er verschwindet
im dunklen lehrerzimmer
am ende des laubkorridors
Es gibt einen poetologischen Essay des Dichters, in dem er erklärt:
Es ist nicht meine Absicht, den Pessimismus leichterhand zu verspotten, dort, wo er eine Reaktion auf das Böse in der Welt ist. Aber ich meine, die schwarze Tonart der Gegenwartsliteratur komme aus der Einstellung der Autoren zur Realität. Und diese Einstellung wollte ich im Gedicht angreifen.
Das heißt: Für Herbert ist die Erfahrung der „Verstümmelung“, marxistisch: der Entfremdung des Menschen eine Grunderfahrung, jedoch sie ist nicht die volle Wahrheit. Das Wahrheitsproblem wird dem Dichter zum Realitätsproblem; er bringt vor, was sich „in Wahrheit sagen“ läßt. Hier nimmt der philosophisch geschulte Herbert einen Gedankengang der modernen Philosophie auf. Einmal heißt es:
es ist nicht wahr was in den zeitungen steht.
Oder:
wundert euch nicht daß wir die welt nicht beschreiben können.
Das, was der Schreiber von Gedichten aber versuchen soll, ist das Namhaftmachen der ihm zugänglichen Welt. Auch ihre dem Leben abgewandte Seite muß in der Dichtung erscheinen. So wirft Herbert immer wieder die Frage nach dem Tod auf. Nach dem eigenen fragt er so:
was wird mit den gedichten
wenn der atem fortgeht
…
es müßte egal sein
doch es ist es nicht
Die Befragung der Erscheinungen und Objekte bringt bei Herbert zweierlei ans Licht. Erstens die Erkenntnis, daß die Wirklichkeit nicht dort endet, wo wir „satt von der welt bei der schranke der wimper“ verharren – wie es in seinen Versen über die Existenz der Engel heißt („Sieh mal“). Dieser offene Horizont des Wirklichen, der die konkreten Objekte wie der nicht abzusehende Raum unseren Planeten umgibt, ist in Herberts Lyrik stets gegenwärtig, für ihn verbürgt er sich. Dichtung, so sagt er in seinem schon erwähnten Essay, müsse selbstverständlich „auf anderen Wegen als die Wissenschaft“ die Wirklichkeit zum Sprechen bringen. Zweitens macht diese Lyrik klar, daß wir („aus blut und täuschung“) in dieser Welt nicht ohne Zuversicht bleiben. Dabei setzt Herbert seine Hoffnung nicht auf ein Jenseits. Er glaubt an einen „Sinn unseres Tuns und unseres Wollens“. Er versteht sich selber als Moralist, bezeichnet seine Hervorbringung als „das trockene gedicht des moralisten“:
meine vorstellungskraft
ist ein stück brett
mein instrument
ein kurzer stock
ich klopfe ans brett
und es antwortet mir
ja – ja
nein – nein
Was kann der Künstler tun, um der Hoffnung einen Weg zu bahnen? Human sein. Das bedeutet wiederum für seine Arbeit und besonders für die Herberts: Anteilnahme an den Beladenen, Geringen, den „geprügelten und betrogenen“, an den Zu-kurz-Gekommenen der Gesellschaft. In einer typisch Herbertschen Parabel beklagt der Dichter nicht Hamlets Tod, sondern das Schicksal des Fortinbras, in dessen Rolle er sich versetzt:
du wähltest den leichteren teil den effektvollen stich
aber was ist der heldentod gegen das ewige wachen
mit kaltem apfel im griff auf erhöhtem stuhl
mit sicht auf den ameisenhaufen und auf die scheibe der uhr
Leb wohl mein prinz mich erwartet das kanalisationsprojekt
und der erlaß in sachen der dirnen und bettler
ich muß auch ein besseres gefängnissystem erfinden
denn wie du richtig meintest Dänemark ist ein gefängnis…
Im Gedicht auf einen Maler („In der Werkstatt“) fällt am Schluß jenes vielsagende Wort von der „harmlosen hand / die die welt verbessert“.
Formal bedient sich Zbigniew Herbert abwechselnd des metrischen Gedichts, des freien Verses und des Gedichts in Prosa. Auf deutsch hat seine Sprache viel von jener Tugend, die der Übersetzer Dedecius „erhabene Einfachheit“ nennt. Ähnlich wie bei Piero della Francesca, dem von Herbert über alles gestellten Maler, herrscht in dieser Sprache „die Ordnung des Lichts und Gleichgewichts“. Nur in den mythologischen Grotesken ist Herbert manchmal nicht auf der Höhe seiner Kunst. Er selbst meint, Lyrik als Kunst des Wortes langweile ihn. Das dürfen wir nun keineswegs so verstehen, als käme es ihm in den Gedichten allein auf das Was, nicht auf das Wie an. Doch seine Ausdruckskraft hat einen Grad erreicht, wo das Kunstvolle wieder so natürlich geworden ist, daß es sich „von selbst“. Wer genauer hinschaut, sieht freilich, daß auch in diesen Gedichten Wort für Wort von einem gediegenen Kunstverstand gewogen wurde, ehe es seinen Platz erhielt. Man spürt polnische, französische Einflüsse, etwa den Surrealismus, hört Anklänge an Traditionen heraus – Herbert ist in vielen europäischen Literaturen bewandert. Als Arbeitsprinzip greift er die Forderung Apollinaires „Ordnung und Abenteuer“ auf:
fügt zu der idee der ordnung
die idee des abenteuers
Was ihm vorschwebt, formuliert er so:
ich gäbe alle metaphern hin
für einen ausdruck
der geschält wäre aus der brust wie eine rippe
Das ist ein melancholisch stimmendes Paradox. Brennend wünscht sich der Dichter die metaphernfreie Rede, aber diesen Wunsch kann er präzis wieder nur durch eine Metapher ausdrücken. Das Elend des Dichtens. Und doch liegt in der Metapher etwas, das sie an den Höhepunkten der Dichtung dem nackten Ausdruck überlegen macht. Das Bild ist widerstandsfähiger als das Argument. Herbert wünscht für seine Gedichte „das dauerhafte leben“ beispielsweise „eines kiesels“. Nicht wenige werden ihn überdauern. In seinem „Testament“ erklärt er:
Ich vermache den vier elementen
was ich zur kurzen verfügung hatte
dem feuer – meine gedanken
möge das feuer blühen
der erde die ich zu sehr geliebt
den körper das taube korn
und der luft worte und gesten
die sehnsucht das heißt nutzlose dinge
was übrig bleibt
ein wassertropfen
mag zwischen himmel und erde
kreisen
mag es durchsichtiger regenfall sein
farnkraut des frosts flocke des schnees
mag es den himmel niemals erreichend
zum jammertal meiner erde
zurückkehren treu als reiner tau
geduldig die harte scholle zu rühren
Heinz Piontek, aus Heinz Piontek: Männer die Gedichte machen, Hoffmann und Campe Verlag, 1970
kiesel lassen sich nicht zähmen
sie betrachten uns bis zum schluss
mit ruhigem sehr klarem auge
Zeilen von Zbigniew Herbert. Einmal drückte er mir einen Kieselstein in die Hand, schrieb dazu auf eine Karte: „Manchmal zittert das Herz eines Steins wie das Herz eines kleinen Tieres.“ Unverändert die Lebensfähigkeit seiner lakonischen, knappen, spröden, skeptischen, inständigen Gedichte voller Unruhe, Trauer, schwebender Ironie, Mitleid – und seiner Erinnerungen an Reisen. Nach einem Besuch des Valois (Chantilly, Senlis, Chaalis, Ermenonville) im Bus: „Wieder bin ich in Bewegung. Ich eile dem Tode entgegen. Vor Augen Paris – ein Lärm von Lichtern.“ Weiterwirkend die menschliche Nähe, der Ernst, die Transparenz seiner Arbeiten, der nie schwächer werdende Wunsch, den Dingen gerecht zu werden.
Jürgen Theobaldy
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Aus dem Archiv von Polskie Radio „Ob in Polen oder im Ausland – man kennt Zbigniew Herbert“
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 1/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 2/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 3/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 4/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 5/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 6/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 7/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 8/8.
Schreibe einen Kommentar