WELCHE WUCHT UND WELCHE WUT UND ALSO:
WELCHES WUNDER, WELCHE WOHLTAT?
– Klaus Renft: „Nach der Schlacht“. –
Nach der Schlacht war’n die grünen Wiesen rot,
nach der Schlacht war’n viel Kameraden tot.
Und man stellt sich auf das verblieb’ne Bein,
und man meint, dies müsse der Sieg schon sein.
Dieses Lied ist ein Gedicht, ein riesiges dazu, und ich werde niemals müde, diese ozeanisch traurige, sich so unendlich aufbäumende Ballade zu besingen. Denn sie ist ganz zweifelsfrei die großartigste Hinterlassenschaft der dahingegangenen volkseigenen Republik; und wenn die inflationäre Behauptung, nicht alles wäre schlecht gewesen, je auch nur ein Gran Legitimität besessen haben sollte, verdankt es sich diesem Song. Ich bekenne, ihm verfallen zu sein, und ich glaube, wem sich nicht schon bei seiner Ouvertüre alle Haare aufstellen, mit dem kann es kein wirklich gutes Ende nehmen.
„Nach der Schlacht“ ist mein Begriff von Vollkommenheit, und der mag, zugegeben, etwas unvollkommen sein, wofür es sicher verschiedene Gründe geben könnte. Erstens ist er 35 Jahre alt, zum zweiten stammt er eben aus dem Osten und zum dritten formuliert er sich, ausgerechnet, an einem Rocksong.
Gründe genug, ihn anzufechten, und dennoch denke ich, dass „Nach der Schlacht“ die unübertroffene Hymne des DDR-Rocks war, unerreicht in ihrer einmaligen Übereinkunft von Musik, Poesie, Philosophie und Emotionalität. Nie zuvor und erst recht nicht danach wieder ist mir so viel – nun ja – geschlossene Schönheit, solche unfeierliche Großartigkeit auf so kleinem Raum begegnet.
Feiern den Sieg der Revolution,
die Amputierten auf der Station.
Billig der Wein, doch sie gießen sich ein.
Kamerad, ist nicht schad,
um das Bein, musste sein, Kamerad.
Ich war ein junger Seemann, keine 20 Jahre alt, und gerade wieder von einer fünfmonatigen Fangreise aus dem lauschigen Grönland zurückgekehrt, als ich Renft das erste mal im Rostocker Arena-Theater, einem riesigen Zirkuszelt, erlebte. Meinem Musikverständnis stand damals allenfalls noch meine Einsicht in die Zusammenhänge der organischen Chemie nach; von billigem Wein verstand ich als Biertrinker gar nichts, Amputierte kannte ich immerhin noch aus fernher getrübter Erinnerung an meine frühe Kindheit und das Straßenbild der Fünfziger Jahre, und die Revolution für mich wäre endlich eine feste Freundin statt der umständehalber ständig wechselnden Frauenzimmer gewesen.
Meine letzte musikalische Erschütterung lag da ein halbes Jahrzehnt zurück, die Beatles hatten es endgültig sein lassen und sich auf die „long and winding road“ und davon gemacht. Ich war so bekümmert wie es einem Vierzehnjährigen gemäß ist, denn im Dauerstreit Stones-Fans gegen Beatles-Jünger gehörte ich stets der Mädchenfraktion an. Ich tröstete mich mit Joplin und Hendrix, und nachdem auch sie sich ins Nirwana gestohlen hatten, blieb mir nur noch Cocker – der allerdings bis heute.
Nix mit „little help“, im Gegenteil: Er hat mir im zarten Jugendweihealter musikalisch jenes Grundgefühl einer ruppigen Melancholie ins Inventar gesenkt, das bis heute meine private Gemütslage ist. Und das zappelnde Stehaufmännchen hat mir vor allem immer wieder gezeigt, dass Fallen schlimm, nur Liegen bleiben schlimmer ist – und zuallererst im Leben gilt: Nach der Schlacht ist vor der Schlacht.
Vergossen viel Blut und gewonnen die Macht,
und die Schlacht um die Macht war die letzte Schlacht.
Nun wird der Mensch rein menschlich sein.
Kamerad, ist nicht schad um das Bein,
musste sein, Kamerad.
Als das Konzert in Rostock zu Ende war, hatte ich die Beatles zum zweiten Mal verloren. Es war klar, die Abbey Road ist in Leipzig, allerdings nicht geschützt durch einen Zebrastreifen. Die Beatles hatten von Revolution gesungen, Renft schienen fest entschlossen, sie zu machen – was für ein grandioses Missverständnis. Die „Schlacht“ war exakt das Gegenteil des antirevolutionären Blues „Revolution“, Lennons schon in Indien erdachte und später gesungene Furcht vor der auch zerstörerischen Wucht von Veränderung allenfalls anarchischer Spielplatz, die „Schlacht“ hingegen war längst kein Spiel mehr. Darüber konnten auch die Zeiten der vermeintlichen Liberalisierung, in der es überhaupt möglich war, die beiden Alben von 1973 und 1974 zu veröffentlichen, nicht hinweg täuschen. Zwar verkauften Renft in diesen Jahren die Kultplatten Klaus Renft-Combo und Renft hunderttausendfach, traten im Fernsehen auf und wurden von der FDJ 1973 sogar zu den Weltfestspielen eingeladen – dennoch war ziemlich schnell klar, dass die Zumutbarkeit für die sogenannten kulturpolitischen Entscheidungsträger über kurz oder lang überschritten sein würde. Dass die Band es der Zensur nicht besonders schwer machte, zu näseln, tat ein Übriges. Renfts sprichwörtlich schwankendes Bühnenverhalten ermutigte das Zentralorgan der FDJ, sie als „Schweine-Renft“ zu titulieren, und die Band selbst lag so mit sich selbst über Kreuz, dass Klaus Renft später ohne Umstände bekannte, das Verbot sei eigentlich nur der Selbstauflösung der Gruppe zuvor gekommen.
Aber auf einmal bricht ab der Gesang,
einer zeigt aus dem Fenster,
da spazieren sie lang, die neuen Menschen,
DER NEUE MENSCH, der sieht aus wie er war
außen und unterm Haar wie er war.
Man kann einleuchtender Weise die quietschenden Disharmonien nicht hören, mit denen der bedichtete Gesang auf einmal abbricht. Und bedauerlicherweise auch nicht die Trommeln Jochen Hohls, der eigentlich Cello und Saxophon spielte und bei Renft den Drummer gab. Gegen das Trommelsolo an dieser Stelle erschienen die Einlagen Ringo Stars auf einmal wie die Etüden eines Musikschulaspiranten, und Ringo galt immerhin lange Zeit als der beste Schlagzeuger der Welt.
Und nicht nur Hohl hatte europäisches Format, Renft insgesamt stand damals im Zenit ihrer Gesänge. Es waren die Jahre, in denen der osteuropäische Rock an die Türen Westeuropas klopfte, Omega galten als die Stones Ungarns, und Niemen, der sich in Polen die Seele aus dem Leibe zu schreien schien, galt als Hendrix von der Weichsel.
Allerdings: Auch in der Renft-Combo war der Gesang abgebrochen. Schoppe, Kunert und Gläser haderten mit dem Alkoholkonsum ihres Chefs, warfen ihm schlechtes Spiel vor und entmachteten ihn.
Der tiefere Konflikt indes war, dass Renft nur Musik, natürlich exzellente, machen wollte, Kunert und Pannach hingegen die Politisierung der Band forcierten, die mit „Nach der Schlacht“ ihren gültigen Ausdruck gefunden und ihren vorläufigen Höhepunkt und zugleich größten Publikumserfolg gelandet hatte – was für eine schöne Vorstellung vom Folgenreichtum der Kunst.
Kein Paradies, Kamerad, wird es sein,
der Mensch wächst sehr mühsam und nicht von allein
in diesem großen Mantel der Nacht
um das Bein wär’es schad, schlügst du nicht,
Kamerad, noch die Schlacht.
Es ist dieser eigentlich zu große Mantel der Nacht, der den Menschen so mühsam so ohne jedes Licht, das angeblich vorn ist, so mühsam wachsen lässt. Die Puhdys gaben sich da zuversichtlicher:
Vorn ist das Licht.
Du kannst es sehen.
Vorn ist das Licht.
Beim Vorwärtsgehen.
Man kann sich leicht vorstellen, dass diese erleuchtete Zuversicht auch die Herzen der Kulturaufsicht erwärmte. Gezielt als Gegenband aufgebaut und gefördert, schienen sie dabei am Beginn noch hoffnungsvoll und von ähnlichem Ungestüm wie Renft. 1973 krähte Dieter Birr sein „Geh dem Wind nicht aus dem Wege“ wie ein deutscher Bob Seeger, doch aus der Ostberliner Variante des „Keep running against the wind“ wurde es nichts, und schon mit dem verquasten „Türen öffnen sich zur Stadt“ ließ ich alle Hoffnung fahren – ein offenbar stimmiges Gefühl, der Fortgang ihrer Talfahrt zum Dauererfolg ist bekannt. Vom hohlen Pathos und der Lächerlichkeit Späterer, die den Mantel der Nacht nicht kannten und sich statt dessen den maßgeschneiderten Mantel der Geschichte überwarfen, wusste ich da natürlich noch nichts – zum Glück. Vielleicht wäre es sonst schon damals auch mit der eigenen Zuversicht nicht sehr weit her gewesen. So aber verbrachte ich Jahre in Renft’scher, mithin verlässlicher Unerschütterlichkeit.
Nach dem Sieg war’n die grünen Wiesen rot,
nach dem Sieg war’n viel Kameraden tot,
und man stellt sich auf das verbliebene Bein,
denn die Schlacht wird viel, viel länger sein.
Im September 1975 war die Schlacht für Renft zu Ende, zumindest die vor Ort. Schon seit Jahren waren die Behörden von ihren ironischen Verkackeiereien der Verhältnisse genervt, etwa der volkseigenen Landwirtschaft im „Gänselieschen“ oder des verdienten Baugeschehens im „Baggerführer Willi“ – nun aber hatte Renft den Bogen überspannt und an Tabus gerührt. Die monierten Songs waren „Glaubensfragen“ und die „Ballade vom kleinen Otto“, der erste thematisierte allen Ernstes die Bausoldaten bei der NVA, eine Ungeheuerlichkeit, der zweite die missglückte Republikflucht eben jenes kleinen Ottos, nichts weniger als ein musikalischer Fehdehandschuh. Aber auch Lieder wie „Hol mich nach Norden“ waren nicht gerade nach dem Geschmack der Lizenz Erteilenden, die, insofern einleuchtend, Renft das Spiel verweigerten.
Dennoch ist klar, dass „Nach der Schlacht“ das Lied war, mit dem Renft den Funktionären endgültig unheimlich geworden war. Es war nicht greifbar, daher auch nur schwer angreifbar, und ergriff trotz seiner nicht gerade eingängigen Art die Massen – gespenstisch für Kulturkommissare. Pannach dagegen provozierte, schritt Spielräume aus, testete die nicht überschreitbaren Grenzen und machte Renft sehr leicht angreifbar. Demmlers Schlachtgesang aber erschütterte die gesamte Tektonik, kippte das selbstgemachte und selbstbewusste Geschichtsbild, formulierte den Sieg als Invalidisierung.
Seit der „Schlacht“ hatte Demmler für mich einen Dauer-Bonus, und wäre er ein Dezennium lang ganzjährig dem Oktoberklub zu Willen gewesen oder hätte Honecker persönlich ein Parteitagsständchen gebracht.
Nach der – verlorenen – Schlacht und nach neun Monaten Knast wurden Kunert und Pannach ausgebürgert und gingen nach Westberlin, Jentsch war bereits dort und Schoppe folgte. Mit Klaus Renft war die Westberliner Außenstelle komplett. Ich erinnere mich an ihr erstes Radiointerview im RIAS nach der Übersiedlung und daran, dass sofort klar war, man würde lange nicht wirklich wieder etwas von ihnen hören.
Cäsar und Hohl gingen zu Karussel, und ich war sehr beeindruckt, als mit der ersten Platte Entweder oder sofort wieder klar war, dass mit ihnen weiter zu rechnen sei und sie auch in Sachen musikalischer Qualität keinerlei Nachlass gewähren würden. Entweder oder und Ehrlich will ich bleiben machten 1978 deutlich, dass ein echter Renftler nicht ohne Not hinter das Niveau der ehernen Vorgabe „Nach der Schlacht“ zurückgehen würde.
Anfang der 90er Jahre sah ich die Parka tragenden Barden von der Pleiße das erste Mal wieder zusammen, in Berlin-Weißensee, im Kulturhaus Peter Edel, das nach der Schlacht in den späten vierziger Jahren durch Enteignung aus einem berühmten Brauereiausflugslokal hervorgegangen war. Auf der Bühne standen ein paar freundliche, etwas in die Jahre gekommene Männer, äußerlich fast eine Tanzcombo aus den frühen Jahren, Familienväterausstrahlung, Schoppe rührend im 29,95 DM-Muschelpullover, wie auch die Hälfte des gottlob mäßig modebewußten Publikums.
Nichts war wie früher, bis das Spiel begann – und alles war wie damals, als ich aus dem Rostocker Konzert gegangen war. Dort hatte ich zum ersten Mal „Nach der Schlacht“ gehört, seitdem wusste ich: Egal, wo ich lebe, geografisch würde ich fortan für immer Renftler sein. Und noch etwas war mir damals klar geworden: Mein früher Lesehorizont reichte gerade mal von Cooper über London bis zu Hemingway und also bis zu der Gewissheit, dass ein Mann tun muss, was er tun muss – nämlich: immer kämpfen.
„Nach der Schlacht“ hingegen wusste ich, dass ein Mann vielmehr lassen muss, was er lassen muss – nämlich: ständig Schlachten schlagen.
Tilo Köhler
– Zu diesem Band. –
I’ll be speaking to you sweetly
From my window in the Tower of Song
(Leonard Cohen)
Seit Erfindung der Schallplatte und ihrer massenhaften Verbreitung stehen Songs jederzeit und überall zur Verfügung, wächst Generation um Generation mit einem Soundtrack zur Biographie auf. Röhren-, Transistor-, Kofferradio, Musikwiedergabegeräte aller Art erweiterten die Möglichkeiten. Digitale Standards stellen Musik inzwischen in Mengen und so billig zur Verfügung, dass kein Ort und niemand davon ausgeschlossen sind. Ohne Aufwand also und anfangs meist ohne rechtes Bewusstsein entsteht bei jeder und jedem ein Lieder-Schatzkästlein, ein mehr oder weniger (weil oft mit Gleich-Hörenden geteilter) intimer Kanon, den Außenstehende nicht nachvollziehen können oder wollen. Letztere haben anderes gehört, und wenn es zur selben Zeit war, dann waren sie Andere .
Jeder von uns wird mit der Zeit zu einem musikalischen Archiv, das aus unzähligen Tracks besteht: dieser einen Stimme, diesem einen Gitarrensolo, diesem einen Beat. Und die Songtexte? Sie sind uns oft näher als manch anderes Bildungsgut, dienen in vielen Lebenslagen als Quelle für trostreiche oder sarkastische Zitate. Und wie oft ist es bezeichnend, wer was mag – dies baut Brücken, jenes schaufelt Gräben.
Unser Interesse war es, Texte zu lesen, die sich nicht in der Wiedergabe biographischer Details erschöpfen, sondern nachvollziehbar machen, welche Spuren das gewählte Lied hinterlassen hat, welche Erlebnisse und Erfahrungen damit verknüpft oder damit zu machen sind.
„Ein altes Lied“, memorierte einst Heines Herr von Schnabelewopski, „summte mir beständig im Gedächtnis, und Bilder und Gedanken verwirrten sich aufs unleidlichste; ich mag wollen oder nicht, ich muss von jenem Liede sprechen. Vielleicht auch gehört es hierher, und es drängt sich mit Recht in mein Geschreibsel hinein. Ja, ich fange jetzt sogar an, es zu verstehen, und ich verstehe jetzt auch den verdüsterten Ton.“
Sich auf so etwas einzulassen, ist ein Wagnis, und die Autoren und Autorinnen dieses horen-Bandes sind ein solches eingegangen. Als sie unserer Einladung folgten, über einen Song nach Wahl zu schreiben, um auch etwas über dessen Bedeutung für das eigene Tun herauszufinden, haben sie sich weit hinaus auf heikles Gelände begeben: „Man gibt doch eine Menge preis“, murmelte da jemand, „das geht mächtig ins Gekröse“, knurrte entschieden deftiger ein anderer.
Wichtig war uns, dass eben nicht nur der Sound als diffuse Reminiszenz beschworen wird, sondern auch die lyrics ernst genommen werden, weshalb wir jene, die sich entschieden, über einen fremdsprachigen Song zu schreiben, gebeten hatten, diesen auch zu übersetzen. Ein schwieriges Feld, war doch am Anfang eher selten das Wort, meist die Musik.
Missverständnisse inklusive. Wer erinnerte sich nicht – leicht betreten – an das pubertär-begeisterte Mitgegröle in einem dadaistisch anmutenden Fantasie-Englisch, hörte man seine Songs im Radio… Wann wurde einem klar, dass Dylans „story of the Hurricane“ kein meteorologisches Desaster zitiert, wann schlug man nach, was Jaggers „satisfaction“ meint, wann begriff man die Melancholie von Cohens „Suzanne“ oder Waters’ „Wish You Were Here“? Auch solches wird vielfach thematisiert, irritiert bis quietschvergnügt.
Lied- beziehungsweise Songtexte verlieren schon im Deutschen oft genug an Reiz, beraubt man sie der Musik. Erst recht trifft das, so scheint es, auf Übertragungen aus dem Englischen zu. Die lyrics bedürfen der Lyra. Was hier Klang, Musikalität und Witz hat, kann im Deutschen schwingungslos, trocken und vor allem banal daherkommen. Gerade jedoch im Durchmessen der selbstverständlichen Wörtlichkeit der Texte sind einige Übertragungen entstanden, die zu bewundern, zu bedenken, zu diskutieren sind.
Der Band ist ein Streifzug durch die Geschichte seines Gegenstandes, die in unserem Fall von den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die Gegenwart reicht. Von Raritäten und Fundstücken bis hin zu den Klassikern wird vieles geboten, was mit dem subjektiven Blick der Beiträge wieder oder neu entdeckt werden kann. Und nicht zuletzt begegnen wir einer fast verheimlichten, belächelten, doch tief gründenden Kultur- und Sozialgeschichte.
Neben der Bildspur der Optical History eines Menschen, zu der mit dem 20. Jahrhundert der Film getreten ist, liegt auch eine Acoustical History – und in der nimmt der Song inzwischen den ersten Platz ein (und auf www.youtube.com und anderen Internet-Adressen kann beides verschmolzen werden zum Soundtrack zum Band und/oder zur eigenen Geschichte). Darüber zu schreiben, rührt an Erinnerungen, ruft Erfahrungen auf, legt Leitmotive offen.
Ausgangspunkt wie Form waren den Autorinnen und Autoren freigestellt, so daß sich der Leser einer Vielfalt an literarischen Zugängen gegenübersieht, vom Antwortgedicht über den Essay bis zur Erzählung. Bei der Fülle, die dieser horen-Band bietet, mag jeder mit den Beiträgen beginnen, die seinem Geschmack und seinen Erfahrungen entsprechen – um von dort aus auch Songs, Texte, Autoren und Autorinnen zu entdecken, die ihm (noch) fremd sind.
Uwe Kolbe, Jürgen Krätzer & Stephan Turowski, Vorwort, Juni 2008
Editorial: „… ich muss von jenem Liede sprechen…“
I „Denn hier im Turm singt jeder Stein mein Lied…“
– Hans-Ulrich Treichel: Vogel mit Surfbrett ➤ The Trashmen
– Thomas Brussig: Weiß nicht viel ➤ Sam Cooke / Lutz Kerschowski
– Georg Klein: Sogar Weisheit ➤ Leonhard Cohen
– Doron Rabinovici: Look, what they’ve done to my song, Ma? ➤ Daliah Lavi / Melanie Safka
– Ulrike Draesner: Holzbau ➤ The Beatles
– Franz Hohler: Iss dys Gmües ➤ Frank Zappa
… Jan Volker Röhnert: A Perfekt Day – Eine Phantasie ➤ Lou Reed
II „Und Baby, singst du trotz allem mit mir?“
– Adolf Endler: Auskunft
– Josef Haslinger: Child in Time ➤ Deep Purple
– Hans Thill: Poetische Songs
– Alexander Osang: Da ist ein Gefühl
– Klaus Rek: That’s the Way ➤ Led Zeppelin
– Andreas Maier: Ambros ➤ Ambros
– Andrea Heuser: Einmal nirgendwo hingehen ➤ Gentle Giant
– Burkhard Baltzer: Dröhnland – Das Lindenberg-Projekt ➤ Udo Lindenberg
– Gabriele Stötzer: Hilflos ➤ Neil Young
– Evelyn Finger: Generation Adam Green ➤ Adam Green
III „Tausche Flügel gegen Autoreifen…“
– Bob Dylan: The Drawn Blank Series ➤ Mit Texten von Ingrid Mössinger & Leander Haußmann
– Ann Cotten: Vollgas in die Idiotie… ➤ Bonnie „Prince“ Billy / Amy Winehouse
– Anna Kim: Jenseits von Eden ➤ Ginger Baker / Mike Taylor
– Monika Rinck: Schauerhohn ➤ Bruce Springsteen / Bonnie „Prince“ Billy mit Tortoise
– Paul Brodowsky: Komm her; Nicht bewegen ➤ Spoon
– Julia Schach: Strangeways, Here We Come ➤ The Smiths
– Lucy Fricke: Kleines Zimmer ➤ Modest Mouse
– Hans Thill: Tribales Liebesweh ➤ Gerome Ragni & James Rado
IV „Ich habe dieses zärtliche Gefühl…“
Manfred Peter Hein: Auch mein Song vor Zeiten ➤ Lale Andersen
– Peter Härtling: In einem tönenden Raum ➤ Leonhard Cohen
– Katja Oskamp: Schneewalzer auf Cuba ➤ Thomas Koschat / Udo Lindenberg / Gerhard Gundermann
– Kerstin Hensel: Staubender Schleier ➤ Reinhard Mey
– Tilo Köhler: Welche Wucht und welche Wut ➤ Klaus Renft Combo
– Anthonya Visser: … niemands Knecht, niemands Herr ➤ Herman van Veen
V „Lungenzüge tief ins Leere…“
– Thomas Lang: Radioaktive Tänzer ➤ Anne Clark
– Norbert Hummelt: Schätzchen, fürchte den Schnitter nicht ➤ Blue Öyster Cult
– Bernhard Lassahn: Das Geheimnis des fahlen Pferdes ➤ ProcoI Harum
– Marcel Beyer: Niederrheinische Popsozialisation
– Martina Hefter: Dead friends around the corner ➤ Einstürzende Neubauten
– Wiglaf Droste: Im Leistungskurs Leben ➤ Family *5
– Marlen Pelny: Ich möchte irgendwas für Dich sein ➤ Tocotronic
– Dieter M. Gräf: Veranda übernanda ➤ Nina Hagen
VI „Ich sage ihr: Dein Sohn / er ist nicht von mir“
– Ron Winkler: Haus der Wahrheit
– Stephan Turowski: Dieses Leuchten ➤ Michael Jackson
– Franz Huberth: Runaway New York ➤ Grandmaster Flash and the Furios Five & Ludacris feat. Mary J. Blige
– Stefan Maelck: Erlösungsblues ➤ Mark Olson
– Thomas Wild / Anette Haas: Dada all’italiana ➤ Jovanotti
– Crauss.: la ville ➤ Jacques Brel
VII „Unsre Liebe ist wie unsre Musik…“
– Kerstin Preiwuß. Wunschloses Verlangen ➤ Beth Gibbons
– Sylvia Geist: Im Duett mit dem gedachten Zwilling ➤ Pearl Jam
– Michael Braun: Ein glücklicher Mann ➤ Emerson, Lake & Palmer
– Werner Nell: Zeit und Augenblick – Zauber und Kitsch ➤ The Kinks
– Jürgen Krätzer: … was die Glocke geschlagen hat ➤ Pink Floyd 205
– Uwe Kolbe: Die zwei Lieder der Rolling Stones ➤ The Rolling Stones
– Marcel Beyer: Medinait, Schwester ➤ Gregory Isaacs
Schallplatten waren schon immer ein magischer Geschichtsspeicher. Denn auf diesen mittlerweile veralteten Aufzeichnungssystemen ist der Soundtrack unseres jugendlichen Erwachens festgehalten – die identitätsstiftenden Tracks der heute Vierzig- bis Sechzigjährigen, die Songs, Schlager und Sounds der ekstatischen Pop-Kultur. Zwischen dem Tonarm des Plattenspielers, dem Lautsprecher und dem Ohr des Hörers scheint sich damals eine eigene Apparatur gebildet zu haben: eine Apparatur zur Speicherung von Gefühlsströmen. „Die Platten“, so hat es Klaus Theweleit einmal gesagt, „haben etwas aufgezeichnet, während sie liefen; sie haben nicht nur etwas abgespielt.“ Sie haben, so wäre zu ergänzen, das Herz der Hörer zu einem Tonraum gemacht.
Die Erforschung dieses Tonraums und der existenziell unauslöschlichen „Klangspuren“ hat sich nun die aktuelle Ausgabe, die Nummer 230 der Literaturzeitschrift die horen vorgenommen. Dabei wird ein gewaltiges musikalisches Archiv persönlicher Offenbarungserlebnisse geöffnet. Über 30 Autoren – der älteste davon der mittlerweile 77jährige Manfred Peter Hein, die jüngste die 1981 geborene Marlen Pelny – haben hier ihre musikalische Initiationsszene aufgeschrieben. Und das Spektrum dieser Tiefbohrungen in der eigenen Biografie reicht von Lale Andersens unsterblicher Schnulze „Lili Marleen“ bis zur exzentrischen Soul-Sängerin Amy Winehouse. Dabei sind auch mehr oder weniger gelungene Übersetzungen und Nachdichtungen der meist englischen Stücke entstanden – nicht selten begleitet von der Klage, diese Pop-Evergreens seien unübersetzbar.
Manfred Peter Hein rekonstruiert die Erfolgsgeschichte von „Lili Marleen“, ein Song, der 1913 von dem unbekannten Dichter Hans Leip am Vorabend des Ersten Weltkriegs geschrieben worden war, aber erst im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu ungeheurer Popularität gelangte. Das Lied vom Soldaten, der sich von seiner Liebsten unter der Laterne losreißen muss, um in die Kaserne zurückzukehren und dem Arrest zu entgehen, war – in der englischen Version – bei britischen und amerikanischen Soldaten genauso beliebt wie die deutsche Originalfassung bei Angehörigen der Wehrmacht.
Zu den schönsten Beiträgen in diesem horen-Heft gehören sicherlich die Selbsterkundungen Hans-Ulrich Treichels und Josef Haslingers. Hans-Ulrich Treichel gelingt die Annäherung an ein Meisterstück der Hässlichkeit. The Trashmen hatten 1964 ein One-Hit-Wonder in den Charts platziert, den mit diversen provokativen Krächz- und Gurgel-Lauten und Misstönen gespickten Song „Surfin’ Bird“. Den Traum vom Abspielen dieses Songs in voller Lautstärke konnte Treichel damals nicht verwirklichen – und auch die Gewissheit, dass es sich dabei um ein die Welt zum Einsturz bringendes Pop-Stück handelt, musste er bei späteren Nachforschungen revidieren.
Ein wunderschönes Kindheitsmuster webt auch Josef Haslinger in seiner Erinnerung an die Erstbegegnung mit dem legendären „Child in time“ von Deep Purple. Es war eine Sensation für den damals fünfzehnjährigen Zögling eines Zisterzienserklosters, als er zum ersten Mal das „todesfeeartige Schreien“ Ian Gillans hörte. Später wird der entlaufene Klosterzögling verblüfft feststellen, dass die Deep Purple-Akkorde im Grunde eine Tonfolge des gregorianischen Chorals wiederholen.
Die 1965 geborene Martina Hefter hat einen der intensivsten Texte dieses horen-Heftes geschrieben: Hefter rekonstruiert eine elektrisierende Szene des Jahres 1984, da sie als junge Punkerin aus dem Allgäu nach Berlin gezogen war, um dort in einer alten Lagerhalle den Tod höchstpersönlich tanzen zu sehen. Der Tod trat auf in Gestalt von Blixa Bargeld, des Sängers der Band Einstürzende Neubauten, die einen apokalyptischen Höllenlärm zu erzeugen verstand. Und zwar nicht nur in dem von Hefter emphatisch interpretierten Stück „Der Tod ist ein Dandy“. In ihrem hinreißenden Text erzählt Martina Hefter auch von den Verwandlungen des einst „wüsten, bleichen“ und heute weiser gewordenen Blixa Bargeld. Es ist eine Erzählung vom Ende aller Illusionen: „Die Party – und ich sage: jede Party – ist aus.“
(…)
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