RUHM
Langsam
zieht sich die Schlinge
um den dünnen Hals
und der Heidevogel
hebt seine Stimme
in Angst
da schweigt für eine Weile
der Lärm der Welt
die Männer lauschen
verwundert dem Gesang
und kümmern sich um neue
Schlingen.
Einar Bragi
übersetzt von Magnús Diđrik Baldursson & Wolf Kühnelt
Atomdichter – schon allein das Wort klingt gefährlich, oder vielleicht beneidenswert: Man sieht einen Mann in einem weißen Kittel vor sich, er nimmt einen traditionellen Vierzeiler, das eigentliche Kernstück des isländischen Gedichts, kratzt den Reim von ihm ab, bis nur noch die Bedeutung und die Worte übrig sind, dann nimmt er diesen Kern, spaltet ihn in zwei Hälften – und die Welt ist nie mehr dieselbe. Ich glaube, dass alle Künstler diejenigen beneiden, die in revolutionären Zeiten leben, und so ist es auch mit der Zeit der Atomdichter.
Ich weiß nicht, wie das Gedicht heißt, das meine Generation heute dichtet. Ich wüsste nicht, dass es einen besonderen Begriff dafür gäbe, außer einfach Gedicht, oder zeitgenössisches Gedicht – aber Atomgedicht – das Wort verweist auf eine Explosion, auf Radioaktivität, totale Vernichtung und sogar auf moralische Fragen nach der Macht des Menschen über die Natur, in diesem Fall die Sprache. Was darfst du sagen, welche Wörter darfst du zusammenfügen, welche Metaphern darfst du dir erlauben? Welche Dunkelheit darfst du dem Leser zur Interpretation überlassen?
Die Atomdichter – sie spalteten das Atom der isländischen Volksseele, den Vierzeiler, der die Grundeinheit unserer Gesellschaft und unseres Denkens war, mit Stabreimen und Alliterationen und heiti und kenningar, deren Wurzeln sich weit zurück bis in die Edda verfolgen lassen. Die Versmaße waren wie das Periodensystem, eine Grundeinheit der Wirklichkeit. Die Atomdichter kamen wie Wortwissenschaftler daher und spalteten den Vierzeiler. Sie sprengten die Versmaße und entfesselten eine gewaltige Energie, die wie eine Explosion durch die Gesellschaft ging. Atomgedichte, Atomdichter, Terroristendichter, die nicht mehr reimten und sich die Ästhetik des Modernismus aneigneten – oder, dem allgemeinen Geschmack zufolge, dessen Hässlichkeit.
Sie wählten Themen, die als unpoetisch galten, deuteten das Chaos und die Ungewissheit nach dem Zweiten Weltkrieg und packten sie in ihre Gedichte, das Gedicht stürzte zusammen, und gleichzeitig stürzte das gesamte Weltbild zusammen. Die bäuerliche Gesellschaft, die Lebensweise und sogar Gott verschwanden aus dem Bewusstsein der Nation.
Island wurde besetzt, und Einflüsse aus der ganzen Welt strömten ins Land – es gab so massive Völkerbewegungen, dass man die gesamte isländische Nation als eine Art Landnehmer bezeichnen kann, Einwanderer im eigenen Land. Wenn jemand gefragt wird „Woher stammst du?“, könnte er einfach sagen „Ich stamme aus Hornstrandir“, selbst wenn er in der dritten Generation in Reykjavík lebt.
Die Atomdichter waren Ausleger der Gegenwart, sie nahmen diesen Zustand und übertrugen ihn in Worte. Ihre Reaktionen auf das Chaos und die Finsternis des Zweiten Weltkriegs waren oft finstere und chaotische Gedichte – doch die Reaktionen auf ihre Gedichte waren so heftig, dass man meinen könnte, die Dichter hätten selbst Schuld an den gesellschaftlichen Veränderungen gehabt. Es war, als würden die Leute ihre ganze Angst vor dieser neuen Welt auf das projizieren, was zum Symbol des Chaos wurde: das Atomgedicht.
Die Atomdichter spalteten das Gedicht, das Atomgedicht entstand, und die Explosion drang durch die gesamte Gesellschaft. Ihre Einflüsse finden sich noch heute in den Gedichten junger Lyriker. Auch wenn die Bücher der Atomdichter nicht in großen Auflagen verkauft wurden, hatten sie direkten Einfluss auf jegliche Grundgedanken der Lyrik, und wie bei Grundlagenforschungen bezüglich der Elastizität von Sprache und Semantik weitete er sich auf andere Literaturformen, Kunst und Theater aus.
Viele derer, die die lyrische Form aufbrachen, wurden ausgestoßen, gar angeprangert, als entartet und grotesk dahingestellt, sie wurden ausgelacht, bemitleidet, einige wurden auch gehasst. Wenn man einen Vergleich finden müsste, dann am ehesten mit den ersten Homosexuellen, die sich in den achtziger Jahren in Island outeten. In den Zeitungen wurden Artikel geschrieben über die Schmierfinken, den Unsinn, es wurden massenhaft Parodien angefertigt, und zwar nicht nur um 1950, sondern bis in die letzten Jahre hinein.
Als ich 1995 meinen ersten Lyrikband herausgab, traf ich einen alten Mann, der sich sehr darüber aufregte, dass er nicht gereimt ist – fast ein halbes Jahrhundert, nachdem man begonnen hatte, im freien Vers zu dichten, war seine Wut noch ganz frisch. Und er war furchtbar wütend, obwohl er nur ein ganz normaler Betriebswirt war. Dann rezitierte er Gedichte von Einar Benediktsson, die um die Jahrhundertwende 1900 erschienen sind, Gedichte von Jónas Hallgrímsson von 1830 und von Hallgrímur Péturssen von 1650. Und er sagte: „Das sind Gedichte! So klingen Gedichte!“
Er war ein kluger Mann, der alles über isländische Lyrik wusste, das heißt alles, was es gab, bevor die Dichter aufhörten zu reimen. Von denen kannte er allerdings auch ein paar Zeilen und gab jene zum Besten, die er für den Inbegriff des Nonsens hielt. „Das Auto, das bei der Lichtung bremst wie ein schwarzes Insekt“, rief mir der Mann zu. „Das nennen sie Gedicht? Das kann ich auch sagen! Alle können das sagen!“ Er zitierte Stefán Hörđur Grímsson – einen meiner Lieblingsdichter – und machte weiter mit Steinn Steinarr. „Die Zeit gleicht dem Wasser, und das Wasser ist kalt und tief.“ Ist das ein Gedicht?“, fragte er. „Willst du solchen Unsinn nachäffen? Die haben sich doch nur lustig gemacht, das waren doch nur Säufer und Verrückte, die keine Lust hatten zu arbeiten.“
Ich wusste, dass es nichts bringen würde, dem Mann zu widersprechen – er hatte diese Rolle offenbar schon öfter vor jungen Lyrikern gespielt. Aber ich fand es interessant, weil es sich wahrscheinlich um eine der längsten und härtesten Auseinandersetzungen in der Welt der isländischen Kunst handelt. Abstrakte moderne Kunst war längst anerkannt, als man sich immer noch über den Reim stritt. Doch das Atomgedicht trug den Sieg davon, und es ist verlockend, sich auf die Seite des Besiegten zu schlagen, aber man kann auch darüber nachdenken, ob die Worte Sieg und Niederlage überhaupt etwas in der Kunst zu suchen haben. Man kann darüber nachdenken, ob es irgendeine Nation auf der Welt gibt, die durch eine Revolution in der Lyrik einen derartigen Schock erlitten hat.
Als ich in der Grundschule war, mussten wir Gedichte der Romantiker auswendig lernen, während moderne Lyrik im freien Vers überhaupt nicht an uns herangetragen wurde. Das geschah erst mit achtzehn auf dem Gymnasium, aber zu dem Zeitpunkt war uns bereits eingeimpft worden, wie ein Gedicht zu sein hatte. Der Lehrer musste in der Klasse fast für die formale Revolution kämpfen, um uns klarzumachen, dass so etwas durchaus verständlich, wichtig, aussagekräftig, sogar schön war.
Bis zum heutigen Tag kann man sagen, dass die Kinder die Explosion geerbt haben. Erst kommt das Weltbild des 19. Jahrhunderts mit Natur und Vögeln und Blumen, viel später kommt etwas Merkwürdiges, oft Unverständliches und Rätselhaftes, und viele Lehrer trauen sich überhaupt nicht, Kinder mit Modernismus zu konfrontieren. Trotzdem habe ich früh gelernt, zu moderner Lyrik „zu halten“. Und damit habe ich Position in einem uralten Streit bezogen – anstatt die Sache mit historischem Abstand zu betrachten. Sogar ich landete in denselben Debatten über Kunst wie die Atomdichter im Jahr 1950.
Aber dann versuchte ich, diese Wut zu verstehen. Ich versuchte, mich in die Trauer hineinzuversetzen, die die Leute empfanden, als Lyrikbände nicht mehr auf dieselbe Weise wie zuvor Trost spendeten. Als es nicht mehr möglich war, Gedichte auf dieselbe Weise vorzulesen, sie auf dieselbe Weise gemeinsam zu singen, als die Dichter aufhörten, über ihre Liebste in der Kate im Tal zu dichten, sondern etwas in dieser Art schrieben:
Dein Haar
der Sonnenschein in der Öde des Winters
deine Augen
dieses Blau das die Büsche füllt im August
deine Augen
(Stefán Hörđur Grímsson: „Halló villikötturinn minn / Hallo meine kleine Wildkatze“. Aus: Svartálfadans / Schwarzelfentanz, 1951).
Die Dichter huldigten nicht mehr Gott, wie sie es seit tausend Jahren getan hatten, sondern befragten die Dunkelheit, was auf den Tod folge, und eine hohle Stimme antwortete: „Nichts, Nichts.“
Ich war der Sache noch nicht wirklich nähergekommen – bis ich eines Tages auf eine alte Aufnahme stieß, auf der eine alte Frau ein Gedicht aufsagt, das „Vierzeiler“ heißt und eine Art Grabschrift auf die Form ist, auf das Versmaß, das der Nation Jahrhunderte lang so wichtig war. „Stakan óđum tapar tryggđ, týnast ljóđavinir“, rezitiert sie mit großer Melancholie. Und das klang so aufrichtig, dass ich es nicht als Rückschrittlichkeit in der Kunst abtun konnte – ich vertiefte mich in das Thema, um zu verstehen, was dahinter steckte, und hörte den ganzen Sommer lang unzählige Tonbänder, auf denen alte Frauen uralte Þulur rezitierten. Auf denen Seemänner eigene Strophen aufsagten und uralte rímur vortrugen. Auf denen alte Schwestern die Passionspsalmen von Hallgrímur Péturssen sangen, und als ich nachschaute, welche Aufnahmen es gab, stellte ich fest, dass sie alle 777 Strophen auswendig konnten.
Es gab Gedichte über das Meer, Gedichte über Lämmer, Gedichte über Trolle, Menschen, die auf Tonbänder sangen, obwohl sie noch nie zuvor öffentlich, sondern immer nur für ihre Kinder gesungen hatten. Die Gedichte umfassten fast alle Bereiche des menschlichen Lebens – von praktischen Dingen und rein Informativem über religiöse Botschaften bis hin zu Oden an die Frauen und den Schnaps. Das Gedicht war ein Werkzeug, ein Mittler, es vermittelte Emotionen und war Zeitvertreib.
Dort sangen Männer rímur, so wie ihre 1750 geborenen Großväter es getan hatten. Und ich versank in dieser Welt und versuchte, diese Gesellschaft zu verstehen. In der das Gedicht alles war. Vielleicht haben wir tatsächlich etwas verloren, denn wenn man den Aufnahmen lauscht, spürt man, wie weit verbreitet diese Tradition war, und das ist, wenn man es vergleicht, vielleicht am eindrücklichsten – weil das Gedicht nach dem Atom an den Rand gedrängt wurde. Es ist keine Volkskunst mehr, bei der die Hochkultur zugleich auch die Kultur der Allgemeinheit ist. Viele der besten Dichter wurden von den Leuten nicht zuletzt deshalb so sehr geschätzt, weil diese bäuerliche Kultur häufig einen hoch entwickelten Geschmack hatte.
Vieles weist daraufhin, dass die Lyrik seit der Besiedlungszeit die am weitesten verbreitete Kunstform in Island war. Die Hofskalden fuhren nach Norwegen, um Preisgedichte auf die Könige vorzutragen. Es gab nur wenige, qualitativ schlechte Instrumente und so gut wie keine Räumlichkeiten zum Musizieren. Tanz war zeitweise verboten, Holz zum Bemalen oder Schnitzen gab es ebenso wenig wie Zeit. In manchen Jahrhunderten gab es in Island fast keine reinen Künstler. Andererseits gab es viele Dichter, unzählige Dichter – Lyrik hatte überall ihren Platz. Man konnte bei der Arbeit Gedichte aufsagen, auf See Gedichte rezitieren, mit Freunden und Weggefährten wechselweise Strophen zum Besten geben.
Man kann sagen, dass nahezu sämtliche künstlerische Energie der Isländer in die Lyrik floss. Die großen Vorbilder waren zum einen die Dichter und zum anderen die Isländersagas in goldener Vorzeit. Das Gedicht war ein Spiel, mit dem Gedicht wurden Neuigkeiten überbracht, Gespenster vertrieben, Kinder in den Schlaf gesungen.
Rímur dienten dem Zeitvertreib, endlose Strophenfolgen, in denen Helden fremde Länder bereisen und mit Trollen und Riesen kämpfen. Durch die Lyrik wurden die heiti und kenningar aus der Edda achthundert Jahre lang als Volkswissen bewahrt. Die rímur transportierten eine andere Sprache: Wörter, Metaphern und Deklinationen, die man in der Alltagssprache nie hörte, klangen den einfachen Leuten früher tagtäglich in den Ohren. Und ein Isländisch-Student an der Universität Islands hatte Schwierigkeiten, die am weitesten verbreitete Form der Unterhaltung im 19. Jahrhundert zu verstehen.
Plötzlich konnte ich mich in die Wut des Mannes hineinversetzen, der so verbittert über die Atomdichter war. Er meinte, sie hätten ihm etwas weggenommen – doch zugleich verstand ich, dass dies der einzige Weg war. Es war nicht möglich, so weiterzudichten, als sei nichts geschehen. Es gab einen Bruch in der Kulturgeschichte des Landes, und man kann sagen, dass sich die kulturellen Veränderungen in Island nicht zuletzt in der Lyrik und im Stand des Dichters manifestieren.
Þorsteinn fra Hamri beschreibt das gut in seinem Gedicht „Vaggann“ (Die Wiege) in dem Buch Jórvík (York):
Es schlief und ich hörte
wie seine Decke gehoben wird
und jemand sagen: oh hier
bist du endlich zu finden
Und alles ist anders
ich bin bestürzt und erschüttert
ich bin die Wiege von jemand
der ausgetauscht wurde
In den Volksmärchen wird erzählt, dass Elfenfrauen manchmal Kinder in der Wiege austauschten. Sie holten gesunde Kinder heraus und stopften stattdessen bettlägerige Greise hinein. Diese Wechselbälger veranstalteten ein schreckliches Spektakel. So dichtet Þorsteinn über Island – das Land ist dasselbe, aber mit dem Volk ist etwas geschehen. Als sei ein Wechselbalg in die Wiege gelegt worden, als sei ein rasendes Kind in die Wiege gelegt und das gesunde herausgenommen worden. Und wenn man die Meldungen von Aktien, Konkurs und anderem verfolgt – dann hat der Dichter wahrscheinlich den Nagel auf den Kopf getroffen.
Andri Snær Magnason
Aus dem Isländischen von Tina Flecken unter Einfügung von Lyrikübersetzungen von Franz Gíslasen. & Wolfgang Schiffer (Stefán Hörđur Grímsson).
– Islands Aufbruch in die Moderne – Zu diesem Band. –
„Die traditionelle Gedichtform ist nun endlich tot.“ Das sagt Steinn Steinarr, einer der bedeutendsten Lyriker Islands des letzten Jahrhunderts, der nicht zuletzt mit seinem Gedichtzyklus Die Zeit und das Wasser zu internationalem Ruhm gelangte, in einem Interview 1950. Der Untergang, den er hiermit prophezeit, gilt der Fortschreibung einer Lyrik, die sich aus der Jahrhunderte alten Tradition isländischer Literaturschreibung, aus den Sagas, der Edda und den Skaldengedichten nährt, die der Insel im äußersten Nordwesten Europas wie kaum einem anderen Land der Welt den Ruf eingebracht hat, ein mit Literatur getränktes Gemeinwesen zu sein.
Die vorliegende Ausgabe der horen geht dieser Prophezeiung nach. In Form eines offenen Lesebuchs dokumentiert sie – bis auf wenige Ausnahmen erstmals in deutscher Übersetzung – Gedichte, Manifeste, Streitschriften, Gespräche und Kritiken etc. sowie zahlreiche exklusiv für diesen Band geschriebene Essays und Erinnerungen bedeutender zeitgenössischer Autorinnen und Autoren und anderer kultureller Persönlichkeiten Islands zum Beginn des Modernismus in der isländischen Lyrik. Dass dieser die Insel am Rande unseres Kontinents erst vergleichsweise spät, nämlich um die Mitte des letzten Jahrhunderts erreichte, und warum seine Anfänge von äußerst heftigen Auseinandersetzungen – politischen wie literarisch-ästhetischen begleitet waren, erschließt sich der Leserin, dem Leser möglicherweise eher, wenn er zumindest in Facetten etwas über die geschichtliche Entwicklung und damalige Situation sowie das tradierte Kulturverständnis der Literatur-Nation Island erfährt.
In Island gab es in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre viele Umbrüche. Sie wurden u.a. durch folgende Ereignisse verursacht.
– das Ende des Zweiten Weltkriegs – das Ende von Islands Isolation im nordatlantischen Ozean – die Veröffentlichung von Halldór Laxness’ Roman Atómstöđin (Atomstation) – das Aufkommen einer neuen Dichtergeneration.
Diese Geschehnisse haben das isländische Kulturleben stark beeinflusst. Ebenso wie die anderen europäischen Nationen waren auch die damals weniger als 200.000 zählenden Isländer während der Kriegsjahre mit vielen ebenso existentiellen wie neuen Erfahrungen konfrontiert. Nach dem Krieg mehrten sich sodann die zuvor reduzierten Beziehungen zu anderen Ländern; sie brachten u.a. technische Neuerungen in das bis dahin primär agrarisch geprägte Land. Veränderungen, die zwangsläufig auch Neuerungen im kulturellen Leben erforderten, nicht zuletzt im Bereich der Literatur. Die Isländer bauten zu jener Zeit immer noch auf die alte, traditionelle Dichtung, deren wichtigsten formalen Eigenschaften wie Alliteration, Reim, der regelmäßige Bau der Verse und die Länge der Strophen seit dem Beginn der Besiedlung Islands im neunten Jahrhundert nahezu unverändert bewahrt worden waren.
Nun jedoch rückte eine neue Dichtergeneration ins Blickfeld, entschlossen, die isländische Dichtung zu erneuern, u.a. indem sie sich von den alten, strengen Formvorgaben löste, die die Lyrik wie in einer Zwangsjacke gefangen hielten und ihre natürliche Weiterentwicklung verhinderten. Jene Dichter wollten das lyrische Sprechen erneuern und die Bildersprache erweitern. Sie hatten den Modernismus in den Arbeiten ausländischer Dichter kennen gelernt und einige derer Gedichte bereits auch in ihrer originären Art ins Isländische übertragen. Zuvor hatte man ungebundene fremdsprachige Lyrik beim Übersetzen stets in die traditionelle isländische Form überführt. Auf diese Weise wurde jedoch die ursprüngliche Gestalt des Gedichts zerstört, die Übersetzung bliebt zumeist unwahrhaftig.
Das Mittelalter hatte eine große, umfangreiche isländische (Welt)-Literatur (die bereits erwähnten Isländersagas, die Edda etc.) hervorgebracht, alles Kunstschaffen fand jedoch ein Ende, als die Isländer im 13. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit verloren. Island wurde ungefähr 600 Jahre eine Kolonie unter norwegischer, später unter dänischer Herrschaft. Das waren katastrophale Jahre für das isländische Volk. Technik und Kunst waren auf Eis gelegt.
Während die anderen nordischen Länder ihre Sprachen modernisierten, hielten allein die Isländer in ihrer Abgeschiedenheit noch an der alten nordischen Sprache fest, bewahrten allerdings so zugleich einen großen Teil ihrer mittelalterlichen Literatur, die noch aus der Zeit des isländischen Freistaats (930–1262) stammte. Als dann im 19. Jahrhundert der Kampf um die Unabhängigkeit Islands begann, war jenes Kulturerbe eine der wichtigsten treibenden Kräfte; in ihm lagen, in national-romantischer Rückbesinnung, die stützenden Argumente für die Forderung der Isländer auf das Recht, eine unabhängige Nation zu werden.
Der Kampf endete mit einem Sieg: 1918 wurde Island auf der Basis eines Unionsvertrags mit Dänemark die Souveränität zuteil, am 17. Juni 1944 wurde die Unabhängige Republik Island ausgerufen. Der lange Unabhängigkeitskampf spielte eine bedeutende Rolle in Bezug auf den Konservatismus im Bereich der Kunst, der in Island bis weit ins 20. Jahrhundert herrschte. Jene fest etablierte Art zu dichten war Teil des Unabhängigkeitskampfes. Die Dichter der Romantik schrieben ihre Kampfgedichte nach den alten Vorgaben, und viele betrachteten diese Art zu dichten als Bestandteil der Unabhängigkeit des Landes selbst.
Bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatten die isländischen Künste erst in äußerst vereinzelten Ansätzen kreativ das genutzt, was die revolutionären künstlerischen Entwicklungen im übrigen Europa, vor allem in südlicheren Ländern, bereits Jahrzehnte zuvor entwickelt und ausgeformt hatten. So begann erst jetzt, analog zur Literatur, in Island auch ein kraftvoller Kampf um einen Platz in der europäischen Malerei. Dieser Kampf der Kunst für ihre Rechte wurde nicht nur gegen Vorurteile, gegen die gewohnten Sichtweisen der Allgemeinheit und gegen konservative Kulturförderer geführt, sondern auch gegen kompromisslose politische Machthaber, die über die Bewahrung der Form wachten und alle Veränderungen an ihr verhindern wollten.
Nach dem 2. Weltkrieg, während dem Island unter Verletzung seiner Neutralität zunächst von den Briten und ab Juli 1941 von den Amerikanern besetzt worden war, gab es in der Bevölkerung eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob Island Mitglied der NATO werden und ob es einen dauerhaften amerikanischen Stützpunkt im Land zulassen sollte. Genau davon handelt der Roman Atómstöđin (Atomstation) des Literatur-Nobelpreisträgers Halldór Laxness, der etwa zur selben Zeit erschien, als im Kulturbereich der Streit um die Gedichtform, um die bildende Kunst und um die Frage, ob man die Isländersagas in neuer Rechtschreibung herausgeben darf, entflammte.
Das Wort „Atomdichter“ ist eine sprachliche Neuschöpfung, die in diesem Roman zum ersten Mal vorkommt. Die Romanfigur, die hierin als „Atomdichter“ bezeichnet wird, ist ein eher schlechter Dichter, und in der Folge fanden es viele Wächter der Tradition passend, diese Bezeichnung als Schimpfwort für die jungen Dichter zu verwenden, die gegen Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst in Literaturzeitschriften oder im Eigenverlag ihre ersten Arbeiten veröffentlichten und mit ihnen gegen die traditionelle Lyrik opponierten.
Auch das Wort „Atomgedicht“ stammt aus Halldór Laxness’ Roman Atomstation und kam bald ebenso in Gebrauch. Die meisten jungen Dichter ließen sich von diesen neuen Bezeichnungen und der ihnen anhaftenden negativen Konnotation jedoch nicht irritieren, und in der Tat werden die Wörter mittlerweile in positiver Hinsicht verwendet, um isländische Dichtung in Geist und Form des Modernismus zu bezeichnen.
***
Der Begriff „Atomdichter“ wurde zu Beginn und noch bis heute insbesondere in Bezug auf folgende fünf junge Dichter aus jener Zeit angewendet: Stefán Hörđur Grímsson, Einar Bargi, Hannes Sigfússon, Jón Óskar und Sigfús Dađason. Auch andere junge Dichter dieser Generation wurden manchmal zu den „Atomdichtern“ gezählt, zum Beispiel Elías Mar, Jónas E. Svafár und Thor Vilhjálmsson, obwohl letzterer stets die größte Aufmerksamkeit auf das Schreiben von Prosa legte, und auch Elías Mar tat dies die meiste Zeit seines literarischen Schaffens. Zwei ältere Dichter haben damals neben traditioneller Lyrik ebenfalls ungebundene Gedichte geschrieben: der eingangs zitierte Steinn Steinarr (1908–1958) und Jón úr Vör (1917–2000); sie haben den Weg geebnet und die jüngeren mit Rat und Tat unterstützt. Das Wort „Atomdichter“ oder „Atomgedicht“ wurde nicht selten für alle ungebundenen Gedichte verwendet, einschließlich der Gedichte jener Lyriker, die im Kielwasser der eigentlichen Atomdichter Aufmerksamkeit erheischten.
Einzelne Arbeiten der „Atomdichter“ belegen, dass auch sie es ausgezeichnet verstanden, nach den Regeln des traditionellen Formenkanons zu dichten, doch primär dichteten sie nicht „gemäß den isländischen Gesetzen“, wie es die Traditionswächter manchmal formulierten, sie wollten der Erneuerung der Dichtung einen Weg bahnen, sowohl mit Blick auf die Form als auch auf den Stil. Dabei machen die Veränderungen im Bereich der Lyrik einen Teil der Entwicklung aus, die die gesamte Gesellschaftsstruktur in den Nachkriegsjahren erfuhr.
Nach dem Schauerspiel des Weltkriegs bekam die Welt neue Impulse. Die Menschheit hatte eine neue, schreckliche Erfahrung hinter sich gebracht, die Weltbilder hatten sich verändert, und die traditionellen Methoden, sie zu beschreiben, taugten nicht mehr. Auch die isländischen Gesellschaft hatte sich verändert, und die traditionelle Art zu dichten eignete sich ebenfalls nicht mehr dazu, sie und die neuen Erfahrungen sowie die daraus resultierenden Lebenseinstellungen zum Ausdruck zu bringen.
Die isländische Dichtung war durch das starre Festhalten an der Form in eine Krise geraten. Die „Atomdichter“ hatten ein ausgeprägtes gesellschaftliches Interesse. Und um dieses und ihre damit einhergehenden Ansichten und Haltungen literarisch zu verbalisieren, hielten sie eine Erneuerung der Dichtung für zwingend. Das führte dazu, dass in den 1940er Jahren eine Rebellion gegen die Formtradition losbrach. Für den Fortgang der so beginnenden Veränderungen war es jedoch von großer Bedeutung, dass die jungen Dichter eine Lyrik schrieben, die Bestand hatte, und dass der Kern einer ganzen Dichtergeneration (und das literarische Publikum) diese Erneuerung befürworteten. Und – das sei an dieser Stelle bereits gesagt – beides ist ihnen gelungen.
Zunächst jedoch reagierten viele mit Empörung und Abscheu auf die Arbeiten der „Atomdichter“. Diese Abneigung war in den Jahren 1950–1954 am größten, doch zeigte sie sich während des gesamten 20. Jahrhunderts immer wieder. Die Wächter der Tradition nannten die Lyrik der „Atomdichter“ einen Verrat an der nationalen Kultur und manche von ihnen bezeichneten sie als Imitation ausländischer Dekadenz. Die Gedichte zeigten keinen Idealismus und seien unverständlich, hieß es. Auch wurde behauptet, dass die „Atomdichter“ es sich nicht zutrauten oder nicht dazu fähig seien, gemäß der traditionellen Art zu dichten. Die Traditionalisten versuchten gerne, das, was sie nationale, edle und gesunde Eigenschaften nannten, gegen die ausländischen, antinationalen und verräterischen Einflüsse auszuspielen, die sie bei den „Atomdichtern“ zu sehen meinten. Derartige Äußerungen waren natürlich stark von fanatischem Nationalismus gefärbt.
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Große Aufmerksamkeit zog am 24. März 1952 die Diskussionsveranstaltung der Reykjavíker Studentenvereinigung über die neue Dichtung auf sich, bei der die Frage der Berechtigung der Neuerungen in der isländischen Lyrik verhandelt wurde. Steinn Steinarr war der Wortführer des modernen Standpunkts und der jungen Dichter. Die Versammlung wurde im Radio übertragen und die Diskussion in den Tageszeitungen aufgegriffen, wo sie zu manchem Fortsetzungsartikel führte, von denen nicht wenige eher Beschimpfungen glichen, mit denen man die jungen Dichter niederzumachen suchte.
Einer derjenigen, die die jungen Künstler heftig angingen, war Jónas Jónsson (Jónas frá Hriflu), Abgeordneter im Parlament und ehemaliger Minister sowie seinerzeit Vorsitzender des Kulturrats. Er verabscheute junge Schriftsteller und Künstler, die sich nicht an die gewohnten Ausdrucksformen hielten. Er initiierte u.a. eine Ausstellung mit Kunstwerken junger Künstler, die im Besitz des Staates waren, und bezeichnete diese Arbeiten als dekadente Kunst, die allein aufgrund des verräterischen ausländischen Einflusses gemalt worden seien. Auch ungebundenen Gedichte sah er als Zeichen des Verfalls an, die sich gegen die isländische Kultur richteten.
Obwohl die „Atomdichter“ keinen offiziellen Verband gegründet hatten, waren ihre Ansichten in Bezug auf die Erneuerung der Dichtung dieselben; es bestand gute Freundschaft zwischen ihnen und sie verfolgten gegenseitig ihre Arbeit. Auch die Angriffe auf ihre Lyrik schweißten sie zusammen. Anfangs beteiligten sich die „Atomdichter“ selbst nur wenig am Streit um die Rechtmäßigkeit einer Erneuerung des isländischen Dichtung, da viele von ihnen im Ausland studierten.
Einar Bragi, der sich in Schweden aufhielt, und Sigfús Dađason in Frankreich schrieben beide ihre wichtigsten Artikel in isländischen Zeitungen und Zeitschriften erst nach der Veranstaltung der Reykjavíker Studentenvereinigung 1952. Einer betont, dass jeder Künstler die Form wählen solle und müsse, die ihm am besten liege und die am besten zu seinem Thema passe. Die Dichter stünden festen Fußes auf isländischem Boden, müssten aber auch die besten Errungenschaften der ausländischen Dichtung nutzen. Vor ihnen liege ein Kampf, bei dem „wir uns ohne jegliches Erbarmen zu einem Ergebnis durchschlagen müssen. Es wird darum gekämpft, ob das einzige, das in der isländischen Dichtung jung ist und wächst, heute leben und reifen kann oder nicht“, schreibt Einar Bragi am 19. April 1952 in der Zeitung Þjóđviljinn (Der Volkswille).
Sigfús Dađason äußert, dass es nicht das Ziel der zeitgenössischen Kunst sei, zu erklären oder zu vereinfachen, sondern zu zeigen. Dies sei die Ursache dafür, dass diese Lyrik vielen Menschen unverständlich vorkomme. Im 3. Heft von Tímarit Máls og menningar (Zeitschrift für Sprache und Kultur) schreibt Sigfús 1952 in seinem berühmten Aufsatz „Zur Verteidigung der Dichtung“: „Unmittelbare Deutung wahrer Erfahrung, das ist moderne Lyrik.“ Des Weiteren sagt er, dass die Feindseligkeit gegenüber der neuen Dichtkunst u.a. von der Angst herrühre „vor dem, was man nicht kennt, vor dem Neuen“. Das sei das gleiche Phänomen wie „der Wunsch, in den gewohnheitsmäßigen Konventionen zu verbleiben, in denen man irgendwann aus Zufall gelandet ist“.
Einar Bragi wurde zum einflussreichsten Kämpfer unter den jungen Dichtern für die Neuerungen im Bereich der Lyrik. 1953, als er vom Studium in Schweden zurückkehrte, begann er, die Zeitschrift Birtingur (Der Titel spielt bewusst zwischen den Bedeutungen „Veröffentlichung“ als auch „Heller Schein/Morgendämmerung“.) herauszugeben, die für fünfzehn Jahre zu einer Art Sprachrohr des Modernismus und Plattform der jungen Dichter und anderer Künstler werden sollte. Er leitete Birtingur die gesamte Zeit über; in der Redaktion saßen mit ihm u.a. Hannes Sigfússon, Jón Óskar und Thor Vilhjálmsson.
Einar Bragi zeigte sich von Beginn an sehr angriffslustig. Schon in der ersten Ausgabe forderte er zwei traditionelle Dichter zum Dichterwettstreit heraus, da sie öffentlich behaupteten, dass die „Atomdichter“ weder das Talent noch das Können hätten, auf traditionelle Weise zu dichten. Einer Bragi setzte noch obendrauf, dass die Teilnehmer des Wettstreits unter einem der 450 Versmaße wählen müssten, die in der seinerzeit neu herausgegebenen Verslehre genannt seien.
Die Herausforderung wurde nicht angenommen. In der nächsten Ausgabe provozierte Einar Bragi die Traditionsdichter aufs Neue und bot ihnen und jedem anderen, der zur alten Schule gehörte, Raum in der Zeitschrift an, um sich mit den „Atomdichtern“ zu messen. Damit nahm er die in einer anderen Zeitung geäußerte Idee auf, dass die alten Dichter die jungen zu einem „Atomdichterwettkampf“ drängen müssten. Auch diese Herausforderung wurde nie angenommen.
Das Bestreben der „Atomdichter“, sich besonders um die Metaphorik zu bemühen und das Thema durch die im Gedicht geschaffenen Bilder auszudrücken, zeigte sich in ihrer Lyrik deutlich. 1958 formulierte Einar Bragi in dem Beitrag „Talađ viđ gesti“ („Mit Gästen gesprochen“) in der Zeitschrift Birtingur seine Ansichten über den Modernismus folgendermaßen:
Nach meiner Auffassung ist er vor allem eine Rebellion gegen die stagnierten Formen, das mechanische Alliterieren, das unbelebte Gelabere, das geistlose, gezierte Geschwätz, die unoriginellen, oberflächlichen Schilderungen, die bilderlosen epischen Gedichte und gegen allerhand gebundenen ,nationalen‘ Unsinn, der darauf und daran war, das Gedicht zu ersticken – und gleichzeitig markiert er das Streben nach Erneuerung: das Erschaffen neuer Gedichtarten, die Reinigung der poetischen Sprache, neue Ideen im Bereich der Bilder, Metaphern und Verknüpfungen von Gedanken mit dem Zweck, das Gedicht an sich auf einen Ehrenplatz zu führen.
Alle „Atomdichter“ fuhren fort, ihre Gedichte zu veröffentlichen, mehr und mehr Rezensenten schenkten ihnen Aufmerksamkeit und begannen, ihre Werke zu schätzen.
Die Dichter erarbeiteten sich nach und nach wachsende Anerkennung in der Gesellschaft, und im selben Maße verstummten die moralisierenden Stimmen. Mit neuen Generationen verringerten sich die Vorurteile und stetig mehr Menschen bekannten sich zur „Atomdichtung“. Sie befand sich natürlich auch weiterhin in guter Gesellschaft von traditionellen Gedichten, wie unähnlich sie sich auch waren.
Die Abneigung gegenüber der „Atomdichtung“ ist trotz allem immer noch nicht allerorts verschwunden.
Gleichwohl sind die Auswirkungen der Lyrikrevolution nicht anzuzweifeln und ihr Einfluss auf alle Bewunderer der Dichtkunst ist offensichtlich. Die nächste Dichtergeneration nach den „Atomdichtern“ verfolgte den von ihren Vorgängern eingeschlagenen Kurs in verschiedenen Variationen weiter. Es ist deutlich, dass die Veränderungen einen fruchtbaren Einfluss auf die isländische Dichtung hatten.
Schnell gab es einen Zuwachs an begabten Lyrikern. Junge Dichter haben seitdem von der Formfreiheit, die die „Atomdichter“ in die Lyrik eingeführt haben, stets Gebrauch gemacht; es geschieht heute nur noch eher selten, dass ein Autor der jungen Generation im traditionellen Stil schreibt.
Im Laufe der Zeit ist den Menschen, Autoren wie Lesern, immer bewusster geworden, dass es keine Notwendigkeit dafür gibt, den lyrischen Ausdruck an die strengen Einschränkungen des traditionellen Gedichts zu binden.
Die Lyrikrevolution der „Atomdichter“ markiert somit nachhaltig einen Richtungswechsel in der isländischen Dichtkunst und bestätigt in ihrer weiteren Entwicklung die Feststellung eines ihrer Protagonisten, Einer Bragi: „In der Kunst führt kein Weg zurück.“ (In: Tímarit Birtingur 1/1995)
Auch ein gesellschaftlich-historisches Ereignis bekräftigt diesen Wandel. 1990 wurden zum ersten Mal in Island die Isländischen Literaturpreise (für das Jahr 1989) vergeben. Die Auszeichnung in der Kategorie Belletristik ging an einen „Atomdichter“. Es war Stefán Hörđur Grimsson, der den Preis für seinen letzten Gedichtband, Yfir heiđan morgun (Über heiterem Morgen) erhielt.
Das Land hatte sich mit seinen „Atomdichtern“ versöhnt.
***
Der vorliegende horen-Band kann diesen lang währenden Wandlungsprozess naturgemäß nicht in aller Vollständigkeit der Belege und involvierten Autoren dokumentieren. Sein Anliegen ist es daher zunächst, in einer Auswahl die frühe Lyrik der maßgeblichen „Atomdichter“ selbst (die für sich selber sprechen muss) vorzustellen und einen Einblick in die Arbeit ihrer Wegbereiter, einiger Zeitgenossen und in erste Publikationen von Dichtern der nachfolgenden Generationen zu geben. Darüber hinaus ist es jedoch sein Ziel, durch eine repräsentative Zusammenstellung von hierauf bezogenen Sekundär-Materialien wie poethologische Positionen, verschriftete Aktionen und Reaktionen, Stimmen und Gegenstimmen etc. die Schnitt- und Lebenslinien der „Atomdichter“ zur Mitte des 20. Jahrhunderts kenntlich und am Beispiel der Dichtung somit zugleich das kulturelle und geistige Klima des Umbruchs in den Nachkriegsjahren Islands erfahrbar zu machen.
Anzumerken ist, dass beim Verfolgen dieser Zielsetzung zweifellos nicht alle, vor allem nicht alle heutigen Dichter, die in den Kontext gehörten, mit bedacht sind; einige haben auch darum gebeten, nicht in diesem Sachzusammenhang vorgestellt zu werden, manchen war es zu ihrem Bedauern wegen anderer Verpflichtungen nicht möglich, aktiv teilzunehmen. Und mit Blick auf die Sekundär-Materialien gilt festzustellen, dass nicht jeder abgebildeten Aktion im vorliegenden Band immer auch die Reaktion folgt und vice versa – die Summe der einzelnen Äußerungen mag Klima und Qualität des damaligen Diskurses charakterisieren.
Dass dessen Entwicklung und die damit einhergehende Akzeptanz der „Atomdichter“ darüber hinaus bis in die Jetztzeit skizziert werden kann, ist hierbei nicht nur durch eine Auswahl von Nachrufen ermöglicht, zu verdanken ist dies vor allem dem Engagement der zeitgenössischen Autorinnen und Autoren und Persönlichkeiten Islands, die für diesen horen-Band aktuell ihre würdigenden Erinnerungen an die „Atomdichter“ aufgeschrieben haben – und so auch dem vormaligen Hype eines schnellen Wirtschaftswunders, dem manche ihrer Landsleute erlegen waren, den Wert des kulturellen Gedächtnisses entgegensetzten.
(…) Eysteinn Þarvaldsson & Wolfgang Schiffer, Vorwort, Frühjahr 2011
– Der Streit um die Lyrik nach 1940. –
Als nach dem Zweiten Weltkrieg Island in den Sog der amerikanischen Zivilisation und Moderne geriet und junge Autoren in der Folge die überlieferten Normen des Gedichts verabschiedeten und erst noch philosophisch wurden, stand die Insel unter Schock. Der Bauernführer Jónas frá Hriflu verurteilte ungebundene Dichtung ebenso als Zeichen des Niedergangs der Nation, wie der Literaturprofessor Sigurdur Nordal es tat. Die Zeitschrift die horen präsentiert jetzt jene bewegte Epoche mit Werkproben, einer Dokumentation der Debatte und Essays heutiger Autoren. In Island war die gebundene Dichtung, der Saga-Tradition zum Trotz, stets die Königsdisziplin. Die Dichter arbeiteten bis ins 20. Jahrhundert hinein mit Stilmitteln, die schon ihre Kollegen vor tausend Jahren verwendet hatten. Als aber die Alliierten im Jahr 1940 die Insel besetzten, war die Isolation ihrer 127.000 Bewohner schlagartig beendet. Inflation, Landflucht und Wohnungsnot bestimmten die Agenda – und der Streit um das Gedicht.
„Die traditionelle Gedichtform ist nun endlich tot“, verkündete Steinn Steinarr. Wie ein Kampfruf klang das Motto seines Gedichtbandes Die Zeit und das Wasser:
A poem should not mean
But be.
Da auch einige Maler neue Wege gingen, veranstaltete Jónas frá Hriflu 1942 im Parlament eine Ausstellung „hässlicher moderner Kunst“. Der Schriftsteller Halldór Laxness trat für jene Maler ein, die den Ruf des wortgewaltigen Bauernführers nach Naturnachahmung ablehnten. Laxness war es aber, der das Schmähwort „Atomdichter“ prägte. Dass er Malerei und Gedicht mit ungleicher Elle mass, verdeutlicht die sensible Stellung der lyrischen Tradition.
Der Widerstand, auf den die Atomdichtung traf, erinnert den Schriftsteller Andri Snær Magnason an die Reaktion der Gesellschaft auf das erste Comingout von Homosexuellen in den achtziger Jahren. In seinem klugen Essay berichtet er überdies, wie er 1995 als 22-jähriger seinen ersten Gedichtband veröffentlichte und von einem alten Mann zur Rede gestellt wurde, der sich masslos darüber aufregte, dass die Gedichte sich nicht reimten. Der Leser deklamierte Strophen aus allen Jahrhunderten und rief: „Das sind Gedichte!“ Um den Zorn des Mannes zu begreifen, hörte sich Magnason alte Tonbänder an – Seeleute, die eigene Strophen zum Besten gaben, Bauern, die endlose Balladen rezitierten, wie es schon ihre 1750 geborenen Grossväter getan hatten, alte Frauen, die mit brüchiger Stimme Vierzeiler in jenem Versmass vortrugen, das in der Nation jahrhundertelang verankert war. Gedichte vermittelten Neuigkeiten und vertrieben Gespenster, sie waren überlebenswichtig. Die Atomdichter wagten in einer Zeit des Umbruchs einen Innovationssprung, den wenige verstanden, obwohl viele an Gedichten interessiert waren. Damit begann für Islands Literatur eine neue Zeitrechnung.
Anfang der 1950er Jahre gab es in Island einen großen Skandal: Maßten sich ein paar Jüngelchen in ihrer Neuerungssucht doch tatsächlich an, die altehrwürdigen Stab- und Endreime zu missachten und „formlos“ zu dichten.
„Niemals!“, schrien die Traditionsbewahrer, beriefen sich auf den edlen Skalden Egill und Nationaldichter Jónas Hallgrímsson. Einer wünschte sich in brutaler Naivität gar einen Hitler, um mit solch entarteter Kunst aufzuräumen.
Und ein anderer fluchte laut: „Mögen die Trolle alle diese Pfeifgrashalme zu sich holen!“
Zuerst hatte ich mich verlesen und fragte mich, wo in aller Welt in Island giftige Pfeilgras-Halme wachsen. Zu solch wütenden Angriffen, die uns heute völlig absurd vorkommen, passte das Wort. Ýlustrá heißt es im Isländischen. Da sind weder illustre Dichter noch Pfeilgräser mit gemeint, ýlu-strá sind Grashalme, die man zum Pfeifen zwischen die Daumen klemmt.
Wer waren diese „Flachpfeifen“, die etliche Isländer Anfang der Fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts am liebsten zu den Trollen geschickt hätten?
Dieser Frage widmet sich der 2011 von Eysteinn Þorvaldsson und Wolfgang Schiffer herausgegebene Band der Literaturzeitschrift DIE HOREN. Er heißt: Bei betagten Schiffen. Islands „Atomdichter“.
Atomdichter. Man assoziiert Kernspaltung, Atombombe, aber auch Expressionismus, Sprachexplosion. Das Wort taucht zuerst 1948 in Halldór Laxness’ Roman Atomstation auf.
Es ist die Zeit, in der in Island heftige Auseinandersetzungen über die Frage geführt werden, ob und in welchem Umfang die USA die Insel als Militärstützpunkt oder gar als Lager atomarer Waffen nutzen dürfe. Ein atomarer Schlagabtausch zwischen Ost und West scheint unvermeidlich. Und Island mittendrin?
Benjamin, der Atomdichter in Atomstation, „war noch so jung, dass sein Gesicht elfenbeinfarben war und nur schwachen Flaum auf den Wangen hatte, das Jugendbildnis eines ausländischen Genies…“ Er brauche nur darauf zu warten, dass der Geist über ihn komme und müsse an seinen Gedichten nicht arbeiten, erklärt er und textet munter:
Ich breche aus zu dir, ich breche ein
durch Atom und Sonne, Erde, Mondenschein.
Nur von seinem Anspruch her unterscheidet sich Benjamin von einem durchschnittlichen Isländer, der sich auf das Reimhandwerk versteht und zu jeder passenden Gelegenheit einen Vierzeiler, vísa genannt, aus dem Stegreif verfassen kann.
Theatralisch kündigt er seinen Selbstmord an: „Ich habe alle Bilder aus Buchenwald gesehen, sagte Benjamin. Es ist nicht mehr möglich Dichter zu sein.“ Laxness lässt hier seinen Atomdichter einen europäischen Nachkriegsdiskurs wiedergeben (interessanterweise ein Jahr bevor Adorno seine provokante These formulierte).
Doch Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus, schwedischer Modernismus – all die Ausdrucksformen der europäischen Lyrik der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts waren an Island spurlos vorübergegangen. Woran sollten die jungen isländischen Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen?
Der Planet dreht sich und die Länder jagen einander.
Friedlos ist die Spindel
die den dünnen Faden spinnt.
So heißt eine ungebundene Strophe im Gedicht „Schwarzelfentanz“ von Stefán Hörður Grímsson.
„Atomdichter“ war neben „Pfeifgrashalmen“ ein Schimpfwort im Arsenal der Formbewahrer. In ihren Augen war derjenige ein Atomdichter, der traditionelle Formen und Rhythmen nicht beherrschte, unlyrische Worte verwandte und sich Moden des Auslands zu eigen machte.
Die so Gescholtenen jedoch nahmen die Bezeichnung an. Fünf junge Männer, lose verbunden, ohne Manifest bildeten den Kern der Atomdichter.
Stefán Hörður, 1920 geboren, war der älteste und hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Der jüngste, Sigfús Daðason (Jahrgang 1928) hatte sich gleich nach dem Abitur nach Frankreich aufgemacht und kehrte erst nach acht Jahren zurück. Hannes Sigfússon jobbte als Hilfsleuchtturmwärter auf dem Reykjanesviti, bevor er nach Norwegen zog.
Jón Óskar hatte an der Musikschule in Reykjavík studiert und arbeitete als Lehrer, Musiker und als Redakteur der Literaturzeitschrift Birtingur, die von 1953 bis 1968 von Einar Bragi herausgegeben wurde. Einar hatte in Schweden studiert und sich 1952, als die Beschimpfungen ihren Höhepunkt erreichten, zum Fürsprecher der Atomdichter gemacht, bevor er als fünfter Mann zu ihnen stieß.
Wenn Sie von Einar beispielsweise besonders wilde, „revolutionäre“ Gedichte erwarten, werden Sie sanft enttäuscht:
Ruhen in Schweigen und wachsen: Frühlingssamenkorn
und selber die Erde sein, die es schützt,
Regen Sonne und Wind, Himmel Erde und Meer
Die Atomdichter waren sozialistisch und gegen die amerikanische Truppenpräsenz eingestellt. Die Gedichte von Sigfús Daðason sind eher philosophisch als politisch. Jón Óskar schrieb zwischen 1946 und 1953 einige Gedichte gegen die amerikanische Stationierung. In Island im September 1951 heißt es:
Die Schritte deiner Liebsten hörst du nicht
denn fremde Truppen
haben die Stille der Nacht durchbrochen.
Meist geht es auch bei den Atomdichter um Liebe und Natur, die traditionellen Themen der Lyrik. Die moderne städtische Welt mit Straßenfegern und Autos beginnt erst zögerlich, sich Ausdruck zu verschaffen.
Stefán Hörður hat im Rückblick formuliert:
… die Formrevolution selbst war kein ausländischer Eindringling, wie so viele meinten, obwohl die ausländische Gedichtrevolution natürlich einen sehr großen Einfluss hatte. Entwicklung in der Dichtung muss immer aus der einheimischen Gedichttradition hervorgehen.
Der horen-Band Bei betagten Schiffen wurde realisiert von einer deutsch-isländischen Clique hartgesottener Lyrik-Fans, wie es Steinunn Sigurðardóttir so nett formuliert hat. Eine einzigartige Dokumentation, von der Herausgeber Wolfgang Schiffer hofft, dass ein isländischer Verlag sie im Original veröffentlicht.
Sie versammelt Gedichte der Atomdichter, ihrer Wegbereiter und Mitstreiter, die leidenschaftlichen Diskussionen der Fünfziger Jahre, Portraits, Rezensionen, Interviews und Texte uns wohlbekannter isländischer Gegenwartsautoren wie Einar Kárason, Kristín Steinsdóttir oder Einar Már Guðmundsson. Sie schreiben eigens für diesen Band über die Bedeutung der Atomdichter für ihren eigenen Weg und die Entwicklung der isländischen Literatur.
Hannes Sigfússon beispielsweise, der nach 25 Jahren aus Norwegen zurückkehrte, wurde für Jón Kalman Stefánsson, seinen Großneffen, wegweisend. Vor allem Hannes’ hartnäckige Suche nach Antworten habe ihn immer wieder fasziniert, schreibt Jón Kalman und zitiert die Verse:
Und wir fragten: Welche Worte leben
welche Worte schlafen
in der Erde dieser langen Winter.
„Die alte traditionelle Gedichtform ist nun endlich tot“, hatte Steinn Steinarr, der wichtigste Wegbereiter der modernen isländischen Lyrik, in einem Interview 1950 festgestellt.
Andri Snær Magnason, Verfasser der Bónus-Supermarkt-Gedichte, hat sich intensiv mit den alten Volksdichtungen beschäftigt und schreibt im Schlussbeitrag des horen-Bandes:
Rímur dienten dem Zeitvertreib, endlose Strophenfolgen, in denen Helden fremde Länder bereisen und mit Trollen und Riesen kämpfen… Die rímur transportierten eine andere Sprache: Wörter, Metaphern und Deklinationen, die man in der Alltagssprache nie hörte, klangen den einfachen Leuten früher tagtäglich in den Ohren.
Der Supermarkt-Dichter lernte die Wut der Menschen verstehen, deren abgeschiedene Welt vergangen war und die die Atomdichter daher bezichtigten, ihnen die Reimkultur weggenommen zu haben.
Im 21. Jahrhundert besinnt man sich wieder auf die totgesagten Formen – nicht um von Neuem in ihnen zu dichten, sondern um sie als lebendiges Erbe zu bewahren.
So inspiriert der alte Sprechgesang der rímur heute Musiker wie Sigur Rós. Und die ehemals so viel geschmähten Atomdichter sind längst anerkannte Wegbereiter der Moderne.
Wolfgang Schiffer – Rauchzeichen über isländische Literatur in der Sendung Ich sag mal – Bibliotheksgespräch.
Wolfgang Schiffer: 40 Jahre Literaturleben.
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