Auch der Sommer verschwand,
Als hätt’s ihn nie gegeben.
Sonne wärmt noch den Sand.
Aber das ist zuwenig.
Was ich wollte, gelang,
Leicht, wie Blätter sich legen
Fünfgezackt in die Hand.
Aber das ist zuwenig.
Guts, Böses verschwand,
Nichts geschah mir vergebens,
Alles hat hell gebrannt.
Aber das ist zuwenig.
Seine schützende Hand
Über mich hielt das Leben,
Hab das Glück gut gekannt.
Aber das ist zuwenig.
Und kein Blatt ist verbrannt,
Und kein Ast brach, und Regen
Hat der Tag mir gesandt.
Aber das ist zuwenig.
1966–1968
Übertragen von Katja Lebedewa
Erst als 55jähriger veröffentliche Arseni Tarkowski seinen ersten Gedichtband. Das wache Erinnern an Verletzungen und Verluste und eine besonnene Unmittelbarkeit im Gegenwärtigen gehen – wie das Gestern in das Heute – ineinander über. Auf dem Grund des Wissens um die Geschichtlichkeit jeder menschlichen Existenz öffnen sich seine Gedichte in gütiger und kompromißloser Geste den Ereignissen seines bewegten Jahrhunderts. Die Fäden zur großen humanistischen Tradition der russischen Lyrik sind fest geknüpft.
Ankündigung in Birgit Lieberwirth: Poesiealbum 255, Verlag Neues Leben, 1988
die lange auf ihr erscheinen gewartet haben, verblüffen durch eine Reihe seltenster Eigenschaften. Die verblüffendste unter ihnen ist, daß Wörter, die wir scheinbar jede Minute aussprechen, nicht wiederzuerkennen sind, in ein Geheimnis gehüllt, und ein unerwartetes Echo im Herzen hervorrufen… Diese neue Stimme in der russischen Poesie wird lange klingen.
Anna Achmatowa, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1989
veröffentlichte Arseni Tarkowski seinen ersten Gedichtband. Das wache Erinnern an Verletzungen und Verluste und eine besonnene Unmittelbarkeit im Gegenwärtigen gehen – wie das Gestern in das Heute – ineinander über. Auf dem Grund des Wissens um die Geschichtlichkeit jeder menschlichen Existenz öffnen sich seine Gedichte in gütiger und kompromißloser Geste den Ereignissen seines bewegten Jahrhunderts. Die Fäden zur großen humanistischen Tradition der russischen Lyrik sind fest geknüpft.
Aus: Birgitt Lieberwirth: Poesiealbum 255, Verlag Neues Leben, 1988
die das Schicksal von Menschen und Menschheit nicht nur verewigt, sondern auch heraufbeschwört. Asketisch bannt er Leidenschaft in klare, strenge Formen, bewegt sich im Spannungsfeld von klassischer russischer Dichtung und moderner Poesie. Vierzig Jahre arbeitete er im stillen, in der Zeit des Krieges und des Personenkults, „als unsern Spuren schon das Schicksal folgte, wie ein Verrückter mit dem Messer in der Hand“.
Katja Lebedewa, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1989
− Oleg Jurjew erinnert sich an Arseni Tarkowski. −
Das letzte (und erste) Mal, als ich ihn gesehen habe, streichelte er mit seinen trockenen, unbeweglichen Fingern das verweinte runde Gesicht einer französischen Studentin, die ihm aus Paris einen Gruß von seinem Sohn, dem Regisseur Andrei Tarkowski, mitgebracht hatte. Das war im Sommer 1986. Arseni Tarkowski las seine Gedichte in einem Moskauer Kulturzentrum. Andrei Tarkowski war im Westen und sterbenskrank. Das wussten wir alle, die wir zu dieser seltenen Lesung gekommen waren. Im Dezember desselben Jahres starb Tarkowski-Sohn. Tarkowski-Vater starb drei Jahre später. Nun ist er 100 Jahre alt. Seltsam: Er schien immer 100 Jahre alt zu sein, zumindest für meine Lyriker-Generation, die Generation der 70/80er Jahre.
Vielleicht kam es daher, dass ihm erst sehr spät erlaubt worden war, seine Gedichte zu publizieren. Im Jahr 1962, in welchem der erste Film des 1932 geborenen Andrei Tarkowski („Iwans Kindheit“) auf die Leinwand kam, erschien auch der erste Lyrikband seines 55-jährigen Vaters. Bald darauf wurde er zum „alten Tarkowski“, einem Splitter der russischen Moderne, des „silbernen Zeitalters“. Er sagte es selbst: „Ich bin der Jüngste in der Familie der Menschen und der Vögel, zusammen mit ihnen allen hab ich gesungen.“ Der Jüngste, der alle großen russischen Dichter des XX. Jahrhunderts beweinen durfte. Zugleich war er der Älteste. Die letzte Stimme des nichtsowjetischen Russlands. Dafür wurde er bewundert – als ein (als das!) Bindeglied zwischen uns und der früheren Kultur. Das Wortfleisch seiner Gedichte schien nicht von der Sorte zu sein, die im Angebot war – nicht von der sowjetischen. Sie waren einfach in einer anderen Sprache geschrieben, in einem anderen Russisch.
Aus seiner Biografie ist es nicht abzuleiten – warum wurde eben er zu einer in der Sowjetliteratur so einmaligen Inkluse? In den 40ern und 50ern war er ein „Übersetzer aus den Sprachen der Bruderrepubliken“ (ein Beruf, der aus der „Völkerfreundschaft“ und der ideologischen Notwendigkeit, alles ins Russische zu übersetzen, entstand). Und so erfolgreich, dass ihn Kremlschranzen als Übersetzer des Tyrannen, der in seiner Jugend – man sagt, nicht ohne Talent – auf Georgisch gedichtet hatte, auserwählt haben sollen. Unter völliger Geheimhaltung („Genosse Stalin, Über-ra-a-schung!“). Der Große Führer habe die Idee gar nicht so gut gefunden, die interlinearen Übersetzungen und Nachdichtungen seien beschlagnahmt worden, aber man habe Tarkowski nichts getan – danke, Genossen.
Im 2. Weltkrieg schrieb er Kampfreime für eine Frontzeitung, die von Soldaten ausgeschnitten und auswendig gelernt wurden, kämpfte auch selbst, verlor ein Bein. In den 30ern war er Journalist, in den 20ern Student, im Bürgerkrieg (1918–1921) war er ein Kind und wanderte, hungernd und frierend, zu Fuß durch ganz Südrussland.
1907 wurde er in Jelissawetgrad (heute Kirovograd, Ukraine) geboren. Die Tarkowskis entstammten nicht einfach dem Adel, ihre Vorfahren sollen Schamchals, dass heißt Fürsten oder gar Könige des kaukasischen Volkes der Kumiken gewesen sein, die auf der Burg Tarki (in Dagestan) residierten. Daher der Name. Zum Zeitpunkt von Arsenis Geburt waren sie allerdings vollkommen russisch geworden (und „progressiv“ noch dazu: Sein Vater war als Revoluzzer unter polizeilicher Beobachtung gewesen, sein älterer Bruder, der im Bürgerkrieg fiel, war Anarchist).
All das führt allerdings nicht zwangsläufig zu dem, was er wurde, was seine Sprache wurde. Viele sowjetische Lyriker seiner Generation hatten ähnliche Biografien, waren talentiert und schrieben gute Gedichte.
Warum also er?
Ich glaube eine Antwort zu wissen: Unter allen, die das konnten, war er der Einzige, der das wirklich wollte.
Hätte sich niemand gefunden, der diesen Platz hätte annehmen wollen, wäre der durch die sowjetische Nacht gezogene verbindende Faden gerissen. Dann wäre auch ich nicht vorhanden (zumindest nicht so, wie ich jetzt bin). Deswegen verspüre ich für Tarkowski-Vater, den Jüngsten in der alten Familie der russischen Dichtung und den Ältesten in unserer jüngsten Familie, tiefe persönliche Dankbarkeit.
UND DOCH
Arseni und Andrej Tarkowski gewidmet
und doch war da ein licht
am horizont die nacht
hob schweigend ihren leib am fluss
als wir uns trafen
hinter den augen stiegen
träume wie lose blüten
schön und tot ins schädeldach
da starb gerade eine uhr an unsrer zeit
du warfst von einer seite einen
stein vom ufer in den fluss ich
von der anderen und doch
war da ein licht als du mich fragtest
ob ich es höre
wie die wasseramsel singt
in deiner brust.
Undine Materni
Vyacheslav Amirkhanyans Film Arseny Tarkovsky: Eternal Presence aus dem Jahr 2004.
Arseni Tarkowski liest sein Gedicht „Alles ist unsterblich“ in dem Film Der Spiegel von Andrei Tarkowski.
Gedicht Arseni Tarkowskis in dem Film Der Spiegel von Andrei Tarkowski.
Das Poesiealbum (alte Reihe und aktuelle Fortsetzung) hat jetzt (neben der Bestell-Webseite http://www.poesiealbum-online.de) auch einen offiziellen Internetauftritt:
http://www.poesiealbum.info
FF beim Stöbern!
Dann sollten wir bei den Poesiealben, die hier vorgestellt werden, auch den entsprechenden Link setzen.
Ich bin 80. Und gerührt, ganz und gar eingenommen von Ihrer wunderbaren Internet-Seite. Arseni Tarkovski entdeckte ich vor langen
Jahren in einer italienisch-russischen Ausgabe. Ich habe ihn immer
wieder vergessen, und neu kennengelernt, als Ignorant, natürlich, als
einer, der seine Ignoranz (auch von den Rätseln der Existenz) zugeben
kann. Spricht er deshalb zu mir?
Versteh mich nicht gleich –
mein Wort will ungezähmtes
Wild sein, welches springt
sich dir im Wortwald
ungejagt, sanft nähert, mit
erregtem Atem.
Vielleicht dass wir zeit-
weise einen Weg gehn – und
das Liebe nennen. rl
Rolf A. Leemann
Wartstrasse 9
CH 8032 Zürich
PS: Ihre Newletter würde mich sehr interessieren.
sehr geehrter herr leemann, vielen dank für ihren kommentar. einen newsletter haben wir leider nicht. über neue beiträge können sie sich durch den rss-feed informieren lassen. hier finden sie die vorgehensweise: https://www.planetlyrik.de/rss-feed-abo-und-sie-bleiben-informiert/2010/09/
mit sonntäglichen grüßen
egmont hesse