Frank Wierke: Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland

Die mit dem Arte-Preis 2007

Mashup von Juliane Duda für die Kategorie „Laserlyrik“ausgezeichnete Dokumentation über Michael Hamburger.

Der Film: Michael Hamburger (1924–2007) zählt zu den großen europäischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Sein Leben widerspiegelt die Wirren seiner Zeit und zeugt vom steten Willen um Verständigung: als Sohn jüdischer Eltern flieht er vor den Nazis in den 1930er-Jahren nach England; dort wird er zu einem der wichtigsten Vermittler deutschsprachiger Literatur ins Englische. Zu seinen Freunden und Briefkorrespondenten zählen Künstler wie Paul Celan, Günter Grass, Benjamin Britten, Lucin Freud, Ernst Jandl u.v.a. Der Film von Frank Wierke ist in den letzten Lebensjahren des Dichters entstanden und nähert sich diesem ausgehend von der Frage: Wie entsteht ein Gedicht? Dabei lässt sich der Film auf den Tages-Rhythmus des Dichters ein, auf das Haus in Suffolk, auf den Wandel der Jahreszeiten im Garten, auf die Apfelbäume zur Blüte- und zur Erntezeit und auf den Vorgang des Schreibens. Frank Wierke hat alleine gedreht, mit kleinem Equipment aus Kamera und Ton, ohne künstliches Licht und Stative, ohne Inszenierungen und Interviews.

Folio Verlag, Ankündigung, 2007

 

Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland

Michael Hamburger, englischer Lyriker und Essayist, wurde 1924 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren. Die Familie emigrierte nach der Machtergreifung Hitlers nach England. Den Kontakt zur deutschen Sprache hat Hamburger nie aufgegeben, und so ist er zum wichtigsten Vermittler deutscher Dichtung in England geworden, der Goethe, Hölderlin, Brecht, Celan, Grass, Enzensberger unter andere übersetzt hat und mit zahlreichen deutschen Schriftstellern eng befreundet war. Als zu Hamburgers 80. Geburtstag 2004 in den deutschen Feuilletons große Würdigungsartikel erschienen, nahm der Dokumentarist Frank Wierke persönlichen Kontakt zu ihm auf, nachdem er sich schon länger mit Hamburgers Lyrik beschäftigt hatte. Einem ersten Besuch folgten weitere, bei denen Wierke als Ein-Mann-Team auch filmen durfte. So entstanden Beobachtungen im Cinema-direct-Stil vom Alltag eines Schriftstellers, der nichts Professorales an sich hat, sondern sich ebenso sehr als Dichter wie als Gärtner verstand. Während Hamburger seinen Gast durch sein Haus und den großen Garten führte, erzählte er von seiner Familie, von biografischen Rissen, von Freunden, von verschwundenen Apfelsorten, die in seinem Garten noch wachsen, vom Altern und davon, wie Gedichte entstehen.

Wierke dokumentiert mit Feingefühl über anderthalb Jahre hinweg das Leben eines wichtigen Zeitzeugen, der neben vielen anderen Auszeichnungen 1987 die Goethe-Medaille erhielt. Dabei kreist der Film um die Frage: Wie entsteht ein Gedicht?, ohne dass der Dichter selbst darauf eine Antwort geben kann. Wierke jedoch findet Spuren des eigentlich nicht Fassbaren in dem Gewebe aus alltäglichem Lebensrhythmus, dem Garten im Wandel der Jahreszeiten, dem Schreiben, den Apfelbäumen zur Erntezeit und dem alten Haus voller Dokumente und Gegenstände, die Erinnerungen wecken. Wenige Monate nach Fertigstellung des Films starb Michael Hamburger am 7. Juni 2007 in seinem Haus in Suffolk. Der Film erhielt auf der Duisburger Filmwoche den, mit 6.000 Euro dotierten, ARTE-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschen Dokumentarfilm.

3sat, 2.11.2007

Diskussionsprotokoll No. 9

Podium: Frank Wierke (Regie) Hilde Hoffmann (Moderation)

Frank Wierkes Zugang zu Michael Hamburger ist geprägt von den Texten des Lyrikers, die am Anfang der Recherchen standen. Außerdem ein Foto in der NZZ, durch das, so Wierke, Hamburger ihn durchdringend angeguckt hat. Dann die internationale Konstellation, die Reisen von Sprache und Text: Ein englischer Dichter aus Deutschland, ein Verlag in Tirol und ein Übersetzer mit englischen Wurzeln, der in Österreich lebt.
Angesprochen von den Gedichten und der Person Michael Hamburgers beginnt für den Regisseur die Suche nach einer möglichen Finanzierung. Billigflieger ermöglichen einen eigenfinanzierten Beginn der Dreharbeiten, zunächst wird jede beantragte Förderung abgelehnt. „Michael Hamburger ist eben kein berühmter Fußballer und reist nicht mit Tieren durch die Steppe.“ (Wierke). Trotzdem findet sich mit Udo Bremer ein 3sat-Redakteur, der Wierke Mut macht und ihn u.a. auch bei der Suche nach weiteren Kooperationspartnern unterstützt. Das Goethe-Institut wird gewonnen. Die Filmstiftung NRW, von der sich Werner Ruzicka im Diskussionsverlauf wünscht, sie würde in die Pflicht genommen werden, Projekte wie Wierkes Film zu fördern, sagt keine finanzielle Hilfe zu.
Schon vor dem Dichterportrait, das Gott sei Dank kein klassisches ist (so mehrere Diskutanten), hat Wierke in seinen Filmen mit Texten gearbeitet. Lyrik also als ein bekanntes Terrain, das er nun mit dem überbordenden Garten Hamburgers erweitert (und eben nicht, so Ruzicka, das gewohnte Bild eines Dichters auf einer Bank im Park zeigt). Eine Erweiterung, die nicht als Eindringen gedacht und empfunden wird. Das Vertrauen zu seinem Protagonisten muss Wierke über die von der BBC und anderen Journalisten verminten Felder hinweg gewinnen. Michael Hamburger, ein Dichter mit Medienerfahrung, der sich, so der Regisseur, auch schon mal einen Monat lang von dem Besuch einer Journalistin erholen muss.

Englische Lyriker waren für Wierke immer auch Inspiration für seine Filme, die Art der Lyrik, die von „close observations“ bestimmt wird, überträgt er auf seine Art zu filmen, sich dem Protagonisten zu nähern. Diesen muss er bei der ersten Begegnung in seinem Haus in England zunächst im Garten finden, dessen wilde Unübersichtlichkeit auch den Anfang des Filmes bildet. Er sucht den Lyriker in seinem Alltag, versucht diesen nicht zu stören. So entsteht kein kohärent erzähltes Künstlerportrait, eine Reihung von Daten, Fakten und Zahlen, sondern vielmehr über die Alltagsräume eine Annäherung an ein ganzes Leben (Hilde Hoffmann). Von kleinen Dingen ausgehend, Muscheln und Blättern z.B., entblättert sich „das ganz Große“. Das ganze 20. Jahrhundert, deutsche Geschichte, Literaturgeschichte, die Geschichte einer Zerstörung (so ein Diskutant). Wierke erzählt seinen Film im Bewusstsein der Fragmentalität von Geschichte. Kleine Details, genaue Beobachtungen. Mit Klaus Wildenhahn gesprochen, dem sich Wierke nahe fühlt, es kommt auf die alltäglichen Dinge an. Also kein Film über den Alltag, sondern über einen Lyriker, bei dem der Alltag eine große Rolle spielt.

Über die Dinge die ihm Hamburger zu Beginn der Dreharbeiten zeigt und erklärt, konnte Wierke das Vertrauen aufbauen, das für seine dokumentarische Arbeitsweise nötig ist. Die Geheimnisse aber werden dem Protagonisten gelassen. Eine, vor allem aus dem Fernsehen bekannte Exhibitionierung, die Teilhabe aller an allem, wird vermieden. Mit Bildern, die vielleicht sperrig erscheinen, zeigt bzw. zeigt Wierke eben nicht die Trauer Hamburgers, mit der er über seine verschleppte Großmutter oder den Tod des Vaters spricht.

Hamburgers Gedichte werden ebenso „vorsichtig“ behandelt. Sie kommen erst durch die Montage in den Film. Der Lyriker selber war an den Entscheidungen über ihre Einbindung in den Film beteiligt und froh, dass sie ganz ohne musikalische Untermalung auskommen. Hilde Hoffmann hebt hervor, wie stark der Einsatz der Texte den Rhythmus des Films bestimmt. Sie sind nicht bebildert, stehen aber dennoch im Bezug zu den Bildern, sind mit ihnen verzahnt (Tom Briele). Klaus Helle bemerkt, dass einem nach wiederholtem Gucken des Films seine Struktur bewusster wird und wie diese besonders durch die Länge des Gedichts über die tote Großmutter bestimmt wird.
Geprägt ist der Filmrhythmus auch vom Alter des Protagonisten, das Wierke versucht hat, in Würde darzustellen. Ein Diskutant fragt, wer bei den Dreharbeiten eigentlich wen geführt hat. Wierke antwortet, dass er seine filmische Arbeit weniger als ein Führen als vielmehr ein Begleiten sieht. Er habe sich zu Beginn von Hamburger zwar durch das Haus führen lassen, konnte aber so auch das Vertrauen gewinnen, das ihn zu einem Begleiter und auch Gesprächspartner werden lies. Dennoch, zu dem Kamin, auf dessen Sims u.a. die Erinnerungsgegenstände der Großmutter und des Vaters stehen, habe er Hamburger geleitet. Die Kamera war immer sichtbar dabei, Hamburger habe ihn, so Wierke, nur ein paar mal gebeten, das Erzählte für sich und nicht für den Film zu behalten. „Du filmst wie ein Bauer einen Bauern.“ beschreibt Rainer Komers die ebenbürtige Beziehung von Regisseur und Protagonist.
Der Film ist ein Portrait jenseits des „offiziellen Bildes“ (Wierke) geworden. Um nicht einem narzisstischen Umgang mit dem Material zu verfallen, hat sich der Regisseur Beratung und Hilfe geholt. Er nennt vor allem Beate Middeke, Klaus Wildenhahn, Gisela Tuchtenhagen, Rainer Komers und Udo Bremer. Michael Hamburger erklärte sich, zur Erleichterung von Frank Wierke, kurz vor der offiziellen Premiere in London doch noch damit einverstanden, den Film vorab zu sehen.
Zwischen dem Kingfischer und dem Eisfischer geht Michael Hamburger zum Briefkasten, einen Weg, den er noch ohne Schmerzen zurücklegen konnte.

Gut, dass ein solcher Film entstanden ist.

Nina Selig, duisburger-filmwoche.de, 07.11.2007

Heimstatt eines Dichters

− Dokumentarfilm zeichnet ein sensibles Bild des Lyrikers und Übersetzers Michael Hamburger in Suffolk Nach einem Besuch in Bochum entstanden eindrucksvolle Verse über das Leben im Ruhrgebiet. −

Herbert Grönemeyer hat ein Lied über Bochum geschrieben: kernige Sätze, die das alte Revier beschwören, ein Songtext mit griffigen Formulierungen. Der in England lebende Poet und Übersetzer Michael Hamburger seinerseits hat ein Gedicht über Langendreer verfasst: ein meisterliches Werk über die Impressionen des Fremden im Vorort am Ümminger See, lyrisch durchwirkte Zeilen, ein Flaneur der Sprache. Grönemeyers „Bochum“ und Hamburgers Gedicht „Ruhrland Szene“: zwei Temperamente blicken auf die Stadt, die unterschiedlicher kaum sein können. Und doch spricht aus beiden eine sensible Anteilnahme an dem, was die Menschen an der Ruhr bewegt. Aus der Innensicht schrieb der eine, als zeitweiliger Zaungast der andere – bemerkenswerte Anmerkungen gelangen beiden.
Wie kam der Dichter aus Suffolk nach Langendreer? Ganz einfach. Michael Hamburger hatte dort Freunde, die er besuchte. Im Nachklang des Aufenthalts entstanden die freien Verse über „Langendreer, Bochum“.

Die Dokumentation von Frank Wierke zeigt den Poeten als alten Mann, der den Filmemacher bereitwillig durch sein über und über mit Erinnerungsstücken, mit Büchern und allerlei Trödel vollgestelltes Haus führt, ihm stolz den Garten zeigt: besonders die Apfelzucht, für die er in England in manchen Kreisen populärer war als mit seiner Lyrik. Obwohl Michael Hamburger in englisch schrieb, ist er in Deutschland womöglich bekannter als in seiner Heimat. Wie beiläufig erwähnt Michael Herburger seine Freundschaft zu Grass, Enzensberger, er hat beide ins Englische übersetzt. Und Hölderlin, immer wieder Hölderlin. Michael Hamburger kramt den Briefwechsel mit Ernst Jandl hervor, den er in einer Plastiktüte verstaut hat.
Hin und wieder werden Zitate aus Hamburgers Versen eingeblendet. Doch nur einmal ist der Poet dabei zu sehen, wie er ein Gedicht verfasst. Die Dokumentation entfernt sich erfreulicherweise von den Standards handelsüblicher Dichterporträts. Keine dürren Lebensdaten und bibliographische Auflistungen.
Behutsam gleitet das Kamerauge über das pittoreske Interieur des Hauses, verharrt bei liebenswürdigen Details, streift durch die Wildnis des Gartens, zeigt uralte Bäume, knorrig wie der altgewordene Dichter. Michael Hamburger verbindet sich mit seiner Umgebung zu einer poetischen Einheit und lässt so die Atmosphäre erahnen, in der Poesie gedeihen kann.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Dieser betagte Spruch fällt dem Zuschauer unwillkürlich ein. Vielleicht ein wenig weit hergeholt, doch in der Poesie passt bekanntlich vieles zusammen, das die Mode normalerweise streng getrennt hat.

Werner Streletz, Der Westen, 11.8.2008

Gärtner und Reisender

oder: Der Vertreiber seiner eigenen Person Lobrede auf Michael Hamburger

Das weiß ich noch, daß ich 1959 zum ersten Mal auf ein Gedicht von Michael Hamburger stieß. Ich entdeckte es in einer Anthologie englischer Gegenwartslyrik, die unter dem nicht sonderlich anziehenden Titel Löwe und Einhorn erschienen war. Dieses Gedicht – es stand zwischen T.S. Eliots „Marina“-Gedicht und einem Gedicht von David Gascoyne – trug den Titel „Mann im Garten“. Diesem Mann war kein stilles Gartenglück vergönnt, vielmehr handelte es sich bei ihm um einen Umgetriebenen, einen Zerrissenen, von dem es hieß:

Eine Bombe tickt in seinen Eingeweiden,
gelegt als er geboren ward…

Was die Vandenhoeck & Ruprecht-Anthologie an biographischen Angaben über den Autor dieses Gedichts zu bieten hatte, war denkbar dürftig: „Michael Hamburger wurde 1924 geboren, studierte in Oxford und ist Germanist an der Universität Reading. Er ist besonders durch seine Hölderlinübersetzungen bekannt geworden.“ Wußten die Herausgeber dieser Anthologie moderner englischer Lyrik womöglich nicht, daß Michael Hamburger 1924 in Berlin geboren worden war – oder wollten sie es nicht wissen? Oder schien es ihnen unwichtig, die unenglische Herkunft dieses englischen Dichters hervorzuheben? Andererseits erwähnten sie T.S. Eliots amerikanische Herkunft und Lawrence Durrells indischen Geburtsort.
Michael Hamburger hat einem seiner Bücher Verse aus Hölderlins Rhein-Hymne als Motto vorangestellt:

Denn
Wie du anfiengst, wirst du bleiben,
So viel auch wirket die Noth
Und die Zucht, das meiste nemlich
Vermag die Geburt,
Und der Lichtstrahl, der
dem Neugeborenen begegnet.

Zwischen den Sprachen heißt das Buch, dem dieses Motto Hölderlins voransteht – und sowohl dieser Titel als auch dieses Motto lassen ahnen, daß Michael Hamburger selbst seiner Herkunft durchaus eminente Bedeutung beimißt, auch wenn er 1933, als seine Eltern mit ihm aus Deutschland nach England flohen – fliehen mußten −, gerade erst neun Jahre alt war. Aber was heißt hier erst? Die ersten Jahre eines Lebens zählen doppelt und dreifach und für den Dichter vielleicht sogar hundertfach, denn – wie Marina Zwetajewa es einmal formuliert hat – „Dichter wird man als Kind“. Die Richtigkeit dieses Zwetajewa-Satzes gilt, meine ich, um so mehr, je gewaltsamer das Reich der Kindheit erschüttert oder je früher man aus ihm vertrieben wurde. Zwar konnte sich die Familie Hamburger aus Deutschland nach England retten, aber der Neunjährige konnte doch seine deutsche Sprache nicht retten, dazu war er zu jung. Gleichzeitig war er schon zu alt, um sie einfach wie eine Schlangenhaut abstreifen zu können. Der Verlust der Muttersprache kann ähnlich schwer wiegen wie der Verlust der Mutter.
Daß Angst und Verlustangst zu den prägenden Erfahrungen schon seiner Berliner Kindheit gehört haben müssen, davon zeugt zur Genüge das Festungsdenken seiner Eltern, über das Michael Hamburger immer wieder mit amüsiertem Schauder berichtet hat. Der Vater, ein Mann großbürgerlichen Zuschnitts, renommierter Medizin-Professor an der Berliner Charité, der zu jener für das Berlin nach der Jahrhundertwende so charakteristischen Schicht total assimilierter Juden zählte, die erst durch Hitler gewaltsam an ihr Judentum erinnert wurden – „auf einmal waren wir Juden“, schreibt Michael Hamburger rückblickend auf das Jahr 1933 in seinen Erinnerungen −, dieser Vater hatte die Hamburgersche Wohnung in der Lietzenburgerstraße in Charlottenburg schon lange vor 1933 zu einer Art Festung oder vielmehr Gefängnis ausgebaut. Nicht nur war die Eingangstüre mit Riegeln, Ketten und mehreren Schlössern versehen, sondern zusätzlich war sie auch noch mit einer Eisenplatte gepanzert – und nicht nur fürchtete man Einbrecher, Entführer, Mörder, sondern auch die Nachbarn; schon das Hinterhaus galt als gefährlich und wurde den Kindern – so Hamburger – „als eine fremde Welt voller Greuel und Gefahren dargestellt und kategorisch verboten“.
Daß die Furcht vor allem Fremden und Unbekannten, die in den Kindern geschürt wurde, bei dem jungen Michael Hamburger dann gerade ins Gegenteil umschlug, in unbezähmbare Neugier nach allem Fremden und Fernen, wen verwundert es? Vor allem aber führte die Furcht der Eltern bei Michael Hamburger zu einer lebenslangen klaustrophobischen Abneigung gegen Großstädte und bestärkte in ihm jene Begeisterung für das freie Land, für die Landschaft, die durch Ausflüge in Berlins Umgebung, zumal zu den Großeltern, die in Kladow am Wannsee ein Villengrundstück besaßen, früh schon begründet worden war. „Den Tieren und Pflanzen fühlte ich mich näher als den Menschen“, so erinnert sich Michael Hamburger, der damals in Kladow Igel, weiße Mäuse, Schildkröten, Ringelnattern, Blindschleichen, Frösche, Eidechsen, Molche, Fische und sogar ein wildes Kaninchen hielt, eine Käfer- und Schmetterlings-Sammlung anlegte und Muscheln, Steine und Tierskelette sammelte.
Michael Hamburger hat den Bruch, den die Flucht nach England und damit in eine neue Sprache für ihn bedeutete, in einem Prosastück reflektiert, dem er den bezeichnenden Titel „Niemandsland-Variationen“ gegeben hat. Darin bekennt er, wie sehr er die Zweisprachigkeit bis heute als ein Unglück empfinde, weil das, was er in der Kindheit auf deutsch erlebt habe, nur in deutsch wiedergegeben werden könne, das wenige Deutsch, das ihm aus seiner Kindheit erhalten geblieben sei, aber zum Schreiben nicht ausreiche. Das einzige, was diesen Bruch unbeschadet überstanden habe, seien die noch nicht mit Worten behafteten Dinge gewesen – eben die Tiere und Pflanzen, deren Namen er seinerzeit noch nicht gekannt habe. „Das Verhältnis“ – so Michael Hamburger – „beruhte gerade auf der Wortlosigkeit.“ Das erklärt vielleicht auch, warum in Hamburgers Werk Tiere und Pflanzen bis heute einen so bevorzugten Platz einnehmen. Sie lassen sich englisch denken und deutsch fühlen, sie stiften für Augenblicke vielleicht sogar Versöhnung zwischen den beiden Identitäten des Michael Hamburger, seiner deutschen und seiner englischen, wobei zwei Identitäten – das sollte man darüber nicht vergessen – letztlich doch immer weniger sind als eine.
Daß jener deutsche Dichter, von dem eines seiner schönsten Gedichte mit der Aufforderung anhebt: „Komm ins Offene, Freund!“, daß dieser Dichter, der sich unter den Deutschen seiner Heimat so heimatlos gefühlt hatte, daß ihm schließlich Existieren schlechthin zum Synonym für Exil wurde, daß also Hölderlin es war, der den jungen Michael Hamburger so tief und so nachhaltig in der Sprache seiner Kindheit anrührte, daß Hölderlin dann so etwas wie das Leitbild oder der Leitstern seines ganzen Lebens wurde, das kann wahrlich kein Zufall sein.

Ich bin nun ruhig, die Welt
ist ausgesperrt, hinausgedienert zur Tür;
mein Ende wiesengleich, von den Göttern vergönnt…

Das sind Zeilen aus einem Gedicht an oder vielmehr über Hölderlin, das Michael Hamburger 1941 in Oxford schrieb, auf englisch schrieb, und in dem er sich heftig wie nur je ein gerade erst Siebzehnjähriger mit Hölderlin – mit dem Hölderlin im Tübinger Turm – identifizierte. Es war dies gleichzeitig das erste Gedicht, das Michael Hamburger in einem Buch publizierte, 1942 stand es in einer Anthologie von Oxford- und Cambridge-Poeten. Ein Jahr später erschien bereits die erste englische Ausgabe von Michael Hamburgers Hölderlin-Übertragungen und die erste Hölderlin-Ausgabe überhaupt, die bis dahin in England gedruckt worden war. Und wenige Jahre später war Hölderlin, den englische Autoren bis dahin entweder gar nicht gekannt oder für einen kühnen Zeitgenossen Rilkes gehalten hatten, bereits der meistgelesene deutsche Dichter, dem etwa noch vor Goethe die Ehre einer Penguin-Taschenbuch-Ausgabe zuteil wurde. Auch wenn David Gascoyne schon 1938 sein Buch Hölderlin’s Madness herausgebracht hatte, für das er späte Hölderlin-Fragmente über den Umweg der französischen Hölderlin-Übersetzungen des Dichters Jean Pierre Jouve ins Englische übertragen hatte, so darf man doch ohne die Spur einer Übertreibung sagen, daß erst durch Michael Hamburger Hölderlin unter die Engländer kam. Michael Hamburgers kolossale Leistung als Vermittler zwischen deutscher und englischer Dichtung, die er nicht nur als Übersetzer, sondern auch als glänzender Essayist erbrachte – u.a. übersetzte er Goethe, Büchner, Trakl, Brecht, Nelly Sachs, Huchel, Graß, Bobrowski und vor allem Paul Celan hat in England, aber leider nicht nur dort, gelegentlich den Blick auf Michael Hamburgers eigene lyrische Leistung etwas verstellt.
Um noch für einen Augenblick beim Übersetzer Hamburger zu verweilen: so sicher es ist, daß Übersetzen, wie er es betreibt, gleichzeitig die tiefste und würdigste Form einer Deutung des dichterischen Textes darstellt und sich von der Tätigkeit des eigenen Schreibens eigentlich nur dadurch unterscheidet, daß dieses ein sporadischer Vorgang bleiben muß, der nicht erzwungen werden kann, während Übersetzen eine kontinuierliche Arbeit erlaubt, ja voraussetzt, so gewiß scheint mir im Falle Hamburgers wie jedes anderen Emigranten, der als Übersetzer wirkt, der quasi traumatische Aspekt seiner Tätigkeit. Denn die „Berührung der Sphären“, die der exilierte Übersetzer herbeiführt, ist gleichzeitig doch immer auch eine Berührung der Wunde, die durch die Vertreibung aus der ursprünglichen Sprachheimat geschlagen wurde und die jetzt mit jedem neuen Wort neu wieder aufreißt – oder doch aufreißen kann, auch wenn sie schon vernarbt schien.
Michael Hamburger hat unter dem Titel Verlorener Einsatz Erinnerungen geschrieben, die – wie schon der von T.S. Eliot geliehene Titel es suggeriert – die eigene lyrische Leistung eher als vergeblich erbrachte sieht, sie eher ab- als aufwertet. Fast furchterregend mutet es manchmal an, aus welch riesiger Distanz dieser Autor sich hier selbst zu betrachten vermag. Kaum wäre man verwundert, wenn Michael Hamburger wie der Portugiese Fernando Pessoa, den er so früh für sich, aber leider nicht für England, entdeckte, in verschiedenen Personen auf der Bühne dieses Erinnerungsbuches auftreten würde, Personen, die auf einander jeweils mit allergrößter Skepsis reagieren. Im letzten Kapitel dieser Erinnerungen, die Caroline Neubaur zu Recht „ein heroisches Buch“ genannt hat – heroisch deshalb, weil Heldentum heute allenfalls darin bestehen kann, sich selbst den Prozeß zu machen −, ermahnt der Dichter sich selbst folgendermaßen: „Hänge nicht zu sehr an der Vorstellung, es würde reichen, Vertriebener zu sein. Der nächste und schwierigste Schritt ist, Deine Person zu vertreiben.“
Die Entwicklungsgeschichte von Michael Hamburgers eigener Poesie läßt sich auch lesen als die Geschichte einer ebenso leisen wie konsequenten Ich-Austreibung, wobei diese gleichzeitig wiederum als Geschichte eines mählichen Zu-sich-selbst-Kommens verstanden sein will. – Der junge Michael Hamburger, der mit einem Stipendium 1941 nach Oxford ging und dort deutsche und französische Literatur studierte, ließ sich von der englischen Kultur, von englischer Literatur zumal, erst einmal gleichsam überwältigen. Wobei die von Seamus Heaney noch unlängst beklagte Tatsache, daß sich die modernen englischen Dichter von den furchtbarsten Erfahrungen der Epoche abgeschirmt hätten oder daß der universale Schock dieses Jahrhunderts so universal eben doch nicht gewesen sei und die englischen Dichter nur in abgedämpfter Form erreicht habe, für Michael Hamburger, der gleichsam aus dem Zentrum dieses Schocks kam, vermutlich nicht das schlimmste Unglück bedeutet haben dürfte.
Sich mit Dichtern wie Eliot und Auden konfrontiert zu sehen, das bedeutete, Verführungskräften ausgesetzt zu sein, wie sie ganz ähnlich wohl ausgingen von den bei den „B’s“, denen meine Generation sich in Deutschland nach 1945 gegenübergestellt sah: Brecht und Benn waren für einen jungen deutschen Dichter, was Eliot und Auden in England waren, nämlich die Scylla-und-Charybdis-Klippen, die es einigermaßen heil zu umschiffen galt. Daß der junge Michael Hamburger am gefürchteten Eliot-Riff erst einmal hängenblieb, das kann man aus seinen Erinnerungen erfahren, in denen er Eliots Einfluß auf sich gnadenlos als eine „jahrelang anhaltende geistige und emotionale Verstopfung“ bezeichnet – und diesem Einfluß auch seinen damaligen Hang zum Dekorativen und Metaphysischen zuschreibt.
Doch Hamburger wäre nicht Hamburger, wenn er nicht quasi noch im selben Atemzug betonen würde, daß ihn ja niemand gezwungen habe, sich ausgerechnet Eliot als Vaterfigur auszusuchen. „Einflüsse“, so Michael Hamburger, „das ist nur eine Umschreibung für unsere eigenen Zwänge und Bedürfnisse.“ Daß Eliots Einfluß dann doch nicht nur schädlich war, erhellt eine winzige Episode aus Hamburgers Erinnerungen. Eliot erhob nämlich einmal, so heißt es da, energisch Einspruch gegen das Wort „Vogel“, das er in einem Hamburger-Gedicht gelesen hatte. „Was für ein Vogel?“ fragte Eliot den jungen Dichtersmann, und „diese Frage“, so Michael Hamburger, „wog so viel wie Seiten von allgemeiner Kritik.“ Wie schwer sie wog, wird sich noch Jahrzehnte später zeigen, wenn Michael Hamburger etwa Gottfried Benns Briefe an dessen Freund Oelze bespricht. Benns Brief-Frage, ob es Klematis, Glyzinien oder Wein gewesen seien, die er bei seinem kürzlichen Bremen-Besuch an Oelzes Hauswand gesehen habe, wird Hamburger dann nämlich mit der strengen – vielleicht allzu strengen – Bemerkung kommentieren: „Wenn man in Betracht zieht, wie unterschiedlich die drei Gewächse sind, kann von ,sehen‘ kaum die Rede sein.“
Für den jungen Michael Hamburger gab es neben Oxford seinerzeit noch eine „zweite Universität“, nämlich Londons Vergnügungsviertel Soho, wo er, wann immer er während des Krieges nach London kam, Nacht für Nacht zubrachte und wo Dylan Thomas sein Freund wurde, dessen Saufexzesse und dessen Lust auf Schlägereien Michael Hamburger erstaunlicherweise ebenso unbeschädigt überstand, wie er der Ansteckungsgefahr widerstand, die von der prophetischen Urgewalt der Poesie seines exzessiven Freundes ausging. – Auch der junge Philip Larkin, mit dem Hamburger in Oxford regelmäßigen Umgang hatte, übte damals offenbar keinen Einfluß auf ihn aus, obwohl Larkin bereits aufbegehrte gegen den Eklektizismus der Eliot, Auden und Thomas und gegen deren emotionale Überspanntheit und verführerische Vieldeutigkeit eine Kunst der neuen Nüchternheit und der „neuen Einfachheit“ propagierte, wie sie bald auch Michael Hamburger anstreben sollte, und obwohl Larkin bereits jenen asketischen Lebensstil praktizierte, der auch Hamburgers Ideal entsprach, den er damals aber noch nicht zu verwirklichen vermochte, was ihn immer wieder in tiefe Depressionen stürzte.
In einem Interview erklärte Philip Larkin einmal: „Ich hatte niemals ,Vorstellungen‘ von Dichtung. Sie war für mich immer eine persönliche, fast körperliche Befreiung oder die Auflösung eines komplizierten Drucks von Notwendigkeiten – der Wunsch, zu erschaffen, zu rechtfertigen, zu loben, zu erklären, zu vergegenständlichen, je nach den Umständen. Und ich habe mich nie sehr für anderer Leute Dichtung interessiert.“ Das Glück einer solchen fast schon an Borniertheit grenzenden Unmittelbarkeit, wie sie Larkin offenbar zu Gebote stand, war Michael Hamburger sowenig vergönnt wie die Gnade mystischer Eingebung, die Michael Hamburger an Peter Höfler bestaunen konnte, der sich als Dichter Jesse Thoor nannte und mit Hamburger das Emigrantenschicksal teilte, sich aber entschieden weigerte, englisch zu lernen, und auch in London weiterhin deutsche Gedichte schrieb oder „empfing“, die keiner lesen wollte oder konnte. In den Sechziger Jahren hat Michael Hamburger Jesse Thoors wahrhaft unerhörtes Werk dann in Deutschland ediert und kenntnisreich kommentiert, auch dies eine der vielen Großtaten des Vermittlers Michael Hamburger, der sich im Gegensatz zu Philip Larkin immer intensiv für anderer Leute Dichtung interessiert hat – und in seiner Jugend manchmal sogar etwas zu intensiv, nämlich bis zu jenem Grade, der sein dichterisches Zu-sich-selbst-Kommen gefährdete.
Mag sein, daß gerade der Status des Nichtganzdazugehörens, des Dazwischenseins zwischen den Kulturen, den ihm sein Emigrantendasein aufzwang, dazu beitrug, Hamburgers intellektuelle Neugier so mächtig anwachsen zu lassen, daß es dem jungen Dichter dann gelegentlich schwerfiel, in der poetischen Produktion seine Bildung sozusagen wieder vergessen oder abstreifen zu können. Anders und mit W.H. Auden ausgedrückt: „Der Dichter ist der Vater seines Gedichts, dessen Mutter ist die Sprache.“ In diesem Sinne waren die frühen Gedichte Hamburgers manchmal vielleicht mit zu viel Vater- und etwas zu wenig Mutterblut genährt. Oder wenn man Friedrich Schlegels Maxime, wonach in einem Gedicht „alles Absicht und alles Instinkt sein“ müsse, zum Maßstab nimmt, dann überwog in diesen frühen Gedichten Michael Hamburgers vielleicht zu oft die Absicht. Hamburger selber hat später einmal die Forderung aufgestellt: „Ein Dichter muß wissen und unschuldig bleiben; er muß das Wort lieben und den Wörtern mißtrauen.“ Doch diese hier geforderte, quasi höhere Unschuld mußte Michael Hamburger sich erst erobern.
Ich warne freilich davor, sich Michael Hamburgers eigenen und allzu harschen Urteilen über sein Frühwerk einfach anzuschließen und dieses, wie er das tut, ziemlich pauschal als zu rhetorisch abzutun. Einmal in den Vierziger Jahren hatte ihm der um 30 Jahre ältere Freund Herbert Read, dessen Freundschaft sich auch gerade darin erwies, daß er Hamburgers Jugendgedichte schonungsloser Kritik unterzog, den Vorwurf einer „gewitzten Rhetorik“ gemacht, und diesen Vorwurf verinnerlichte Hamburger offenbar so sehr, daß er schließlich sogar noch die allzu englisch-vernünftige Reaktion einer Freundin verständlich fand, ja fast schon guthieß, die nach der Lektüre eines Gedichts, das er ihr gewidmet hatte, meinte: „Jetzt weiß ich, warum die Leute Gedichte schreiben – weil sie sich nicht trauen, die Dinge geradeheraus in Prosa zu sagen.“
In seinen Erinnerungen sagt Michael Hamburger über den Jüngling, der er damals in Oxford war, für diesen seien Ideen wirklicher gewesen als Personen, Orte und Dinge, er habe noch nicht begriffen, „eher leben als schreiben zu lernen“. Im Gegensatz zu Michael Hamburger selbst entdecke ich in vielen seiner frühen Gedichte schon sehr wohl die Tendenz, „die Dinge geradeheraus“ – wenn auch nicht gerade im prosaischen Sinne jener aufgebrachten englischen Freundin – zu sagen. Es ist in diesen Gedichten jedenfalls schon der Keim gelegt zu alledem, was dann die späteren auszeichnet, also das Mißtrauen gegen Metaphorik und allzugroße Worte, die Weigerung, Gegenstände zu „poetisieren“, der Hang zur Entpersönlichung und Leidenschaftslosigkeit, die Hochachtung vor dem als minder Erachteten oder gemeinhin Unbeachteten, die Demut vor der Dingwelt und die Auflehnung gegen jede Form anthropozentrischer Arroganz, ja sogar schon die starke Skepsis gegenüber der eigenen Profession. So feierte Michael Hamburger 1944 etwa in einem dreiteiligen Rimbaud-Gedicht die Flucht des französischen Dichters nach Afrika und dessen Absage an die Poesie. Bezeichnenderweise mußte sich Michael Hamburger damals aber noch der Maske eines anderen Dichters bedienen, um der eigenen poetischen Begeisterung einen Dämpfer versetzen zu können und sich mit der Möglichkeit des Verstummens zu konfrontieren.
In seinem Buch Die Wahrheit der Dichtung, das in Deutschland unter dem modischen Titel Dialektik der modernen Lyrik erschien, in diesem besten Buch zur Geschichte der modernen Poesie, das mir bekannt ist, hat Michael Hamburger aufgezeigt, daß seit Baudelaire, dem ersten „modernen“ Dichter, alle Dichter gespalten sind und aus dieser Gespaltenheit ihr Bedürfnis nach Masken herrührt. Michael Hamburgers lyrische Entwicklung scheint mir auch den Versuch darzustellen, die Masken abzulegen, ohne Masken auszukommen, aber eben nicht indem das eigene zerrissene Ich dafür nackt und unübersehbar in den Vordergrund gerückt, sondern indem es soweit wie nur möglich in den Hintergrund abgedrängt und jedenfalls nicht wichtiger genommen wird als die Welt der übrigen Erscheinungen, die Welt der Dinge, die Natur. In den Epiphanien, den Erleuchtungen, für die das Gedicht sich zum Reflektor macht und in dem Leben und Dichtung für einen Moment miteinander eins werden, erscheint das Ich dann in jener – soll man sagen: geläuterten? – Form, in dem es sich selber am unähnlichsten sieht – und doch keine Maske ist.
„Die reinste Poesie ist ein völliges Außer-sich-sein“, notierte Hugo von Hofmannsthal, durchaus doppeldeutig, in seinem Buch der Freunde. Und in seinen Aufzeichnungen aus dem Nachlaß 1903 findet sich die Bemerkung: „Das Persönliche ist das Furchtbare: welche Albernheit und welche Verwegenheit, sich immer wieder damit abzugeben: aber das Unpersönliche, Überpersönliche… das ist es, da liegt’s.“ Hofmannsthal gehörte, nach Hölderlin, zu jenen Gestalten aus der ihm geraubten Sprachheimat, die für Michael Hamburger exemplarische Bedeutung bekamen. Zwei Hofmannsthal-Studien waren es, mit denen Michael Hamburger 1964 sein Buch-Debüt in der ehemaligen Heimat gab. Erst zwei Jahre später erschienen dort dann eigene Gedichte Hamburgers und diese fast versteckt hinter autobiographischen Skizzen und Essays, von denen einer wiederum Hofmannsthal gewidmet war. „Hofmannsthal und England“ war er betitelt, und in ihm führte Hamburger, mit sichtlichem Stolz auf seine neue Sprachheimat, den Nachweis, wieviel Englisches – wieviel Keats, Walter Pater, Landor, Browning und Oscar Wilde – doch in Hofmannsthal verborgen sei neben all seinem katholisch-barocken Wiener Erbe.
Gleich auf der ersten Seite dieser Hofmannsthal-Studie, in der dieser als ein Dichter zwischen den Kulturen ausgerufen wird, wie Michael Hamburger selbst einer ist, verrät ein einziger und obenhin eher unscheinbarer Satz Michael Hamburgers, was ihm HofmannsthaI so besonders und beispielhaft naherückte, ich meine den Satz: „Sowohl in seinem Leben als auch in seinem Werk hielt sich HofmannsthaI daran, ,die Tiefe an der Oberfläche zu verbergen’.“ Wenn es überhaupt so etwas wie ein Michael-Hamburger-Programm gibt, dann ist es in diesem Hofmannsthal-Zitat versteckt, das ja auch eine Goethe-Dimension hat – und vielleicht war Hofmannsthai einmal so eine Art Ersatz-Goethe für den jungen Michael Hamburger.
Ich möchte gleich noch einen kurzen Abschnitt aus Hofmannsthals Buch der Freunde hier anführen – und diesmal weiß man wirklich nicht, wer spricht, ob HofmannsthaI oder Goethe: „Die Menschen verlangen, daß ein Dichter sie anspreche, zu ihnen rede, sich mit ihnen gemein mache. Das tun die höheren Werke der Kunst nicht, ebensowenig als die Natur sich mit den Menschen gemein macht; sie ist da und führt den Menschen über sich hinaus – wenn er gesammelt und bereit dazu ist.“ – Daß jener Prozeß des Zusichkommens mittels Ich-Minimalisierung, den Hamburgers lyrisches Werk durchmacht, daß jener Sammlungs-Prozeß, dem dieses seine nüchterne Naturfrömmigkeit und seine genaue Gegenständlichkeit, aber auch seinen gelegentlichen Anflug von Misanthropie verdankt, gegen größte Widerstände erfolgte, davon darf man ausgehen.
Die Gespaltenheit und Zerrissenheit, die das Schicksal oder müßte man sagen: die deutscher Ungeist – früh über ihn verhängten, bestimmten auch seine weitere, seine englische Existenz und drückten sich in diversen Formen aus. Ich habe diese Hamburgersche Gespaltenheit für mich natürlich verwegen verkürzt – in die beiden Begriffe vom Gärtner Michael Hamburger und vom Reisenden Michael Hamburger übersetzt. Sosehr Hamburgers Sorge um seinen Garten und – metaphorisch gesprochen – um den Garten der ganzen Schöpfung in sein Werk eingegangen ist, sosehr dieses suggeriert, daß wir es bei diesem Dichter mit einem geborenen Gärtner zu tun haben, so unübersehbar ist doch, daß in Michael Hamburger auch das Gegenteil eines Gärtners steckt, eben ein Reisender, ein unentwegt Aufbrechender, dem seine ahasverische Unrast und sein Mangel an der Gärtnertugend Geduld manchmal schwer zu schaffen machten.
In seinem Gedicht „Aufgezehrt“ hat sich Michael Hamburger, dieser Meister der Selbstbezichtigung, brennender Ungeduld bezichtigt: „Der Fehler war Ungeduld nach dem Leben, versengend, / der Fehler war Freude, die blitzt und einschlägt, versengend“, so hebt dieses Gedicht an. Doch der Brand, den es beschwört, ist mit Sicherheit nie ganz zu löschen, sondern allenfalls einzudämmen – und einzudämmen auch wiederum nur für die Dauer des dichterischen Aktes, der also ein Akt der Mäßigung sein soll. Das Gedicht sucht nach Gleichmaß, sucht nach Verläßlichem – und stößt dabei, gleichgültig ob der Gärtner oder der Reisende in ihm dominieren, immer wieder auf die Natur und deren verläßliches Gleichmaß.
Gleichmaß, das bedeutet sicher nicht Stillstand, nicht Erstarrung, sondern bedeutet Bewegung, beherrschte Bewegung, es bedeutet Balance. Es ist diese Balance zwischen Leidenschaft und Vernunft, zwischen Rast und Unrast, zwischen dem Gärtner und dem Reisenden in sich, die Michael Hamburgers Gedichte immer wieder herzustellen versuchen. Die Bewegung selbst wird dabei begriffen als die einzige Konstante, das Unterwegs wird zur einzigen Unterkunft und Bleibe. Einen solchen geglückten Balanceakt hat Michael Hamburger vor allem in seinem kühnen und kühn beherrschten Variationen-Gedicht „Unterwegs“ vorgeführt, einem Gedicht von enormem Ausmaß, das er vielleicht nicht von ungefähr in der Mitte seines Lebens, als er 44 Jahre alt war, zu schreiben begann. „Unterwegs“, so haben Rudolf Hartung, Harald Hartung und Theodor ScheufeIe den Titel „Travelling“ dieses Gedichts übersetzt. In einer neueren Übertragung des Gedichts von Peter Waterhouse lautet der Titel aber „In Bewegung“ – und das scheint mir eine nicht unwesentliche Präzisierung dessen, was das Ziel des Gedichts ist – ich könnte auch sagen: seine Botschaft, obwohl Michael Hamburger vermutlich einen solchen Begriff nicht schätzt. Also lasse ich das Gedicht selbst einmal sprechen, zunächst in der Übertragung von Peter Waterhouse:

In der Bewegung bleibe
wie da bleibt die Erde, ruhig,
und im Bleiben bleib Bewegung,
wie die Erde, auf ihrer Bahn.

Einige Seiten weiter heißt es, diesmal in Harald Hartungs Übersetzung:

… Wie die Erde sich dreht,
Dreht sich der Reisende, schwindlig vom drehenden Sichdrehn,
Und keine Rückkehr als zu neuem Aufbruch,
Kein Aufbruch, der nicht Rückkehr ist.
Wohin? Zu einer Heimat jenseits von Heimat,
Jenseits von Ungleichheit, Gleichheit, Gleichgültigkeit;
Jenseits vom Reisenden selbst, der hier ist und dort,
Der nirgends ist, überall, in einer Jahreszeit, die sich endlos bewegt.

Man ist versucht, manchmal von einer geradezu meteorologischen Dimension der Hamburgerschen Poesie zu sprechen, eine so herausragende Rolle spielen in ihr neben Pflanzen und Tieren die Jahreszeiten und das Wetter. Aber so genau diese auch gesehen und im Gedicht abgebildet werden, sosehr jene „Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungskraft“, von der Peter Handke einmal im Hinblick auf Philippe Jaccottet sprach, auch verwirklicht ist in Hamburgers Gedicht, so stehen diese Naturphänomene doch für mehr als nur für sich selbst, nämlich eben für jene ausbalancierte Bewegung, die plötzlich zum Sinnbild wird, zum Sinnbild eines Absoluten. In einem weiteren großen Variations-Gedicht Hamburgers, das er nach der Gegend benannt hat, in der er jetzt schon seit geraumer Zeit ansässig ist, in dem Poem „In Suffolk“ also, in dem er nicht mehr als der Gärtner auftritt, der Seßhafte also, erscheint dieses Absolute als die geglückte Übereinkunft von Rast und Unrast, von Bewegung und Bleiben:

Soviele Launen des Lichte, des Himmels,
Solch ein Fließen von Wolkenformen,
Sich vermischenden, verwischenden Wolkenfarben
Und auswendig zu lernenden Winden,
Soviel Bewegung, daß daraus Bleiben wird.

Robert Walser, den Martin Walser treffend als einen „Bewegungsspezialisten“ gerühmt hat, Robert Walser, den Michael Hamburger übrigens schon in den Fünfziger Jahren für sich entdeckte, als in Deutschland der Schweizer Dichter kaum mehr als ein Gerücht war, schrieb einmal: „Das Beweglichste ist stets das Gerechteste.“ Es erscheint mir nicht völlig überflüssig, darauf hinzuweisen, daß Robert Walser als eine Voraussetzung der Hingabe an dieses Bewegliche die Armut genannt hat. Nur der Arme, sagt er, sei „fähig, vom engen Selbst geringschätzig wegzugehen, um sich an etwas Besseres zu verlieren,… an die Bewegung, die nicht stockt,… an das schwingende Allgemeine, an das nie erlöschende Gemeinsame, das uns trägt.“
Der Reichtum des Michael Hamburger, der garantiert kein ökonomischer ist, gründet sich vornehmlich auf seine Fähigkeit, sich immer wieder gleichsam wie absichtslos jener Bewegung überlassen zu können, die seine besten Gedichte schließlich zu Bekundungen jenes von Robert Walser beschworenen Allgemeinen werden läßt. Das impliziert bereits, daß diese Gedichte nicht hermetisch verschlossen sind, sondern offen, wobei offen das Gegenteil von vage ist. Gerade auch Michael Hamburgers Naturgedichte haben nichts zu tun mit jener vielbemühten „Naturmystik“, die meist nur aus Geraune besteht, auch erniedrigt Hamburger die Naturerscheinungen niemals zum Souffleur für seine Stimmungen, seine Gedichte sind vielmehr durchaus „nachprüfbar“, wenn man darunter das konkret gesehene und begriffene Detail versteht. Wie man sich mit der Lektüre von Vergils „Georgica“ etwa ein Imkerstudium ersparen könnte, erspart einem so manches Hamburger-Gedicht ein entsprechendes Lehrbuch. Der wirkliche Dichter muß allerdings, wie Michael Hamburger es stets betont hat, der „große Anti-Spezialist“ bleiben, bei dem zum konkreten Wissen das Staunen hinzukommt. Erst dieses gewährleistet, daß der Blick auf den Gegenstand das Abbild dann zum Inbild transzendiert, erst dieses Staunen begründet so etwas wie eine Ethik der Sichtbarmachung.
Im Blick auf Johannes Bobrowski schrieb Michael Hamburger einmal: „Es scheint fast, als ob nur das Nennen gerade der selbstverständlichsten Naturphänomene und menschlichen Grunderlebnisse eine ungewöhnliche Überzeugungskraft erforderte.“ Michael Hamburger fühlte sich so eng verbunden mit Bobrowski, daß man versucht ist, fast alles, was er an Rühmendem über seinen Ost-Berliner Freund gesagt hat, ohne Abstriche auch auf ihn selbst und sein Werk zu übertragen, handle es sich dabei um Bobrowskis entschiedene Absage an das mutwillige Spiel mit der Vieldeutigkeit und an eine Avantgarde, die immer wieder nur auf das Nichts des Neuen setzt und deshalb ja auch immer sehr rasch zur „Arrièregarde“ wird, oder handle es sich um die Beschwörung des Glaubens an eine trotz allem immer noch bewohnbare Welt.

Fang wieder an, sag:
Berg. See. Licht.
Erde. Wasser. Luft.
Du. Mehr nicht…

So steht es in Michael Hamburgers großem Gedicht „In Bewegung“. Der Dichter muß gleichsam wie ein Kind mit der Benennung der elementarsten Dinge sich immer neu seiner selbst vergewissern, er muß sozusagen immer neu das Sprechen lernen und jene Grundworte wiederfinden, die unterm Wörter-Geröll des Geredes verschüttet sind. Solche Besinnung auf das Elementarste steht natürlich nicht am Anfang, sondern am Ende einer Entwicklung, in der Michael Hamburger konstant auch den Weg vom Lauten zum Leisen gegangen ist, den Weg von der Fülle zur Kargheit, den Weg von Hektik und Ungeduld zur Entdeckung von Langsamkeit und Geduld, den Weg vom Wissen zu jener Art von Weisheit, die der Dichter selbst in seinem Kafka-Essay so definiert hat: „Weisheit unterscheidet sich von der Klugheit dadurch, daß sie keine Waffe des kämpfenden Selbst ist.“ Sieglos werden!, so lautete der Imperativ des innigsten mittelalterlichen Mystikers, Heinrich Seuse. Ein anderer Imperativ, der mir zu Hamburger einfällt, könnte lauten: Klaglos werden. Michael Hamburger ist gegen die Siegerpose offenbar ebenso gefeit wie gegen die Leidenspose. Und wenn auch ihm jene Gewalt, die von allen Gewalten die unausweichlichste ist, wenn auch ihm die Liebe Wunden geschlagen hat, so leckt er diese Wunden doch nicht genüßlich im Gedicht, sondern verwandelt sie dort zu Erfüllungen oder doch zu Verheißungen, Verheißungen von etwas Höherem. Dieses Höhere führt in einem der Hamburgerschen Gedichte den Namen „die Lichtung“. In dem 1969 entstandenen Gedicht dieses Titels eint zwei Liebende ebenjene Waldlichtung, durch die sie voneinander getrennt sind, also eben der Abstand, den sie voneinander haben. „Wir gehören der Lichtung“: mit diesem Satz endet dieses Gedicht, das für mich ein Schlüsselgedicht im Werk Hamburgers darstellt. „Obwohl ich wenige ,Liebesgedichte‘ geschrieben habe, ist alle Lyrik Liebeslyrik“, hat Michael Hamburger in seinen Erinnerungen behauptet – und ich denke, zu Recht.
Der Abstand, hat Simone Weil gesagt, sei die Seele des Schönen. Michael Hamburgers dichterische Wegstrecke ist eine des immer größeren, immer gelungeneren Abstandnehmens, Abstandgewinnens: Abstand zum literarischen Betrieb ohnehin, in dessen Niederträchtigkeiten, die sich mit denen jedes anderen Betriebs messen können, sich Michael Hamburger nie verstrickt hat. Abstand aber vor allem zu sich selbst, der neben dem Gärtner und dem Reisenden auch einen schon römisch, einen horazhaft anmutenden Stoiker in sich ausgebildet hat. Und jetzt möchte ich ein paar Sätze Michael Hamburgers, die ich eingangs bereits einmal zitiert habe, nochmals, aber diesmal vollständig, mit den charakteristischen Nachsätzen, zitieren: „Hänge nicht zu sehr an der Vorstellung, es würde reichen, Vertriebener zu sein. Der nächste und schwierigere Schritt ist, Deine Person zu vertreiben. Verlege sie. Verliere sie. Vergesse sie. Und fang’ an, Dich zu bewegen.“
Und noch auf etwas anderes möchte ich am Ende zurückkommen, nämlich auf Michael Hamburgers in seinen Erinnerungen gegebenes Versprechen, „dem Staunen und der Empörung treu zu bleiben, solange sie wiederkehren, immer unerwartet, immer auf eine Weise, die ich weder planen noch wählen kann, und still zu sein, wenn es nichts gibt, was durch mich zum Ausdruck kommen will“.
Ich finde, es wollte schon ziemlich viel Schönes und Bedenkbares durchMichael Hamburger zum Ausdruck kommen, für das wir uns jetzt ein wenig dankbar erweisen können mit der Verleihung des Petrarca-Preises 1992.

Peter Hamm, Rede zur Verleihung des Petrarca-Preises 1992 an Michael Hamburger, gehalten am 20.6.1992 in Modena.

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Michael Hamburger

 

Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland. Ein Film von Frank Wierke (hier in voller Länge).

1 Antwort : Frank Wierke: Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland”

  1. Redaktion sagt:

    Selbstvorstellung
    Anläßlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

    Ja, wenn ich wüßte, wer oder was ich bin! Dann brauchte ich vielleicht gar nicht zu schreiben – jedenfalls keine Gedichte, die im Dunkeln die vergessenen Wege suchen, die ein früheres Ich einmal gegangen sein muß, um an einen schon wieder fraglich gewordenen Ort zu gelangen; auch keine Memoiren, die die Äußerlichkeiten eines Lebens sehr genau und dokumentarisch aufzeichneten, in der Hoffnung, daß sich diese Einzelheiten vielleicht zu einem Ganzen, einer Geschichte ordnen würden. Das konnten sie aber nicht. Es war ja auch nicht mein Geschichte, die mich im Alter von neun Jahren von meiner Geburtsstadt, Berlin, nach Schottland versetzte, dann nach London, nach Oxford, nach unzähligen Orten in Europa und Amerika, als Schüler, als Student, als Soldat, als Französischlehrer in einem Londoner Gefängnis, als Hafenarbeiter in Neapel, als Fremdenführer, als Universitätsdozent und Professor, als lyrischer Handelsreisender, der sich oder seine Gedichte den verschiedensten Zuhörern verkaufte. Schriftsteller war ich dabei wohl ständig, seit dem Alter von 16 Jahren, aber in einem Land, in dem das Schreiben eigentlich nicht als Beruf gilt, in dem es fast lächerlich wirkt, sich als Schriftsteller, geschweige denn als Dichter oder Poet, zu bezeichnen.
    Auch auf das Urteil der Anderen kann man sich nicht verlassen. Als ich im Jahre 1950 mein erstes Gedichtbuch veröffentlichte, nannte mich ein Rezensent einen klassischen Lyriker, ein zweiter einen romantischen. So ist es – mutatis mutandis – geblieben. Als dieses Gedichtbuch erschien, hatte ich schon zwei Bücher mit Gedichtübersetzungen – Hölderlin und Baudelaire – veröffentlicht, das erste mit 19 Jahren, mitten im Krieg, als ich gerade Infanteriesoldat geworden war. Noch immer bin ich für die einen an erster Stelle ein Gedichteschreiber, für andere an erster Stelle ein Übersetzer, für wieder andere an erster Stelle ein Essayist und Literaturkritiker. Hunderte von Menschen, die vielleicht nie ein Buch von mir gelesen haben, kennen mich als einen ihrer Lehrer. Auch das Bild, welches man der Öffentlichkeit entnehmen könnte, hat keine Beständigkeit. Ob irgendein Teil meines Werkes überdauern wird, und welcher, wissen die anderen nicht besser als ich.
    Ebensowenig kann ich hier ein ideologisches oder politisches Bekenntnis ablegen. Ich weiß nur, daß ich zu jeder Zeit und unter allen Umständen für die Menschen bin, dazu für die Tiere, die Pflanzen und alles, was zur Natur, der menschlichen und nichtmenschlichen, gehört. Sobald eine Ideologie unmenschlich wird – und welche wird es nicht? – bin ich gegen die Ideologie. Daß ich daher für manche ein altmodischer Humanist oder „Scheißliberaler“ bin, für manche ein Konservativer – weil ich z.B. für die Konservierung dieser Erde bin für jene Konservativen, die die Interessen einer Klasse oder einer Macht vertreten, aber ein störendes, revolutionäres Element, halte ich für ganz selbstverständlich und unvermeidbar.
    In dem Land, in dem ich nach meiner abgebrochenen Kindheit aufgewachsen bin, gilt es auch als unanständig, in der Öffentlichkeit über sich selbst zu reden. Diese Scheu habe ich aber überwunden, seit ich merkte, daß die Individualität sehr begrenzt ist und man kaum über sich selbst sprechen kann, ohne zugleich auch über andere und für andere zu sprechen. Wenn das nicht so wäre, hätte ich keine Memoiren geschrieben, auch keine Gedichte, in denen ein mehr oder weniger biographisch bestimmbares Ich zu Wort kommt. Eine Trennung der subjektiven Wahrheiten von den objektiven führt zur Ideologie, zur Bürokratie, zur Unmenschlichkeit. Nur darum könnten die Ihnen vorgeführten disjecti membra eines Lebens und Werks doch auf einer für mich unerreichbaren Ebene ein Ganzes ergeben.

    Michael Hamburger 1973, aus: Michael Assmann (Hrsg.): Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie, Wallstein Verlag, 1999.

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