ASCHE
Ich bin die Asche
meiner Flammen
deren Brennholz
ich wurde
das mich kleinschlug
als ich Axt war
gehalten
von meinen Händen
die mich brannten
bis ich Kühlung
suchte
in meiner Asche
begann Erich Frieds großer Erfolg als Lyriker; sie enthalten im Keim alle Elemente seines späteren Werks. In diesen Versen ist der später leidenschaftlich politisch engagierte Dichter noch ganz zurückgenommen auf die Angst vor dem Menschen und was er vermag, spricht er furchtlos zwar schon, aber auch wehmütig und resigniert seine Warnungen aus vor der Austauschbarkeit der Gefühle und ihrer Versteinerung.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 1980
Die Warngedichte sind Erich Frieds dritter Gedichtband. Obwohl das Buch eine Anzahl eindrucksvoller Stücke enthält, ist es – wie die vorausgegangenen Sammlungen – viel zu umfangreich; die gelungenen Arbeiten (die besonders im Mittelteil des Buches ziemlich rar werden) drohen unterzugehen in Etüdenhaftem, ja Missratenem:
Ich träumte
dass mein Traum kam
Er sagte:
Träume schon endlich!
Ich sah ihn an:
Was? Dich?
Nein, dich!
Sonst gibt es dich nicht.
Solche Entwürfe gibt es viele, und sie gefährden Frieds eigentliches Werk; Gedichte wie „Heimweg von Delphi“:
Wie gross ich war
meine Kleinheit zu erkennen
Wie stark ich war
meine Schwäche zu gestehen
Wie klug ich bin
nun wieder schnell zu vergessen
wie klein und schwach
und dumm und vergesslich ich bin
Fried ist Gedankenlyriker. Das kurze aphoristisch zugespitzte Gedicht ist sein Metier: das polemische, knappe Wahrheiten verkündende Poem, das am Ende langer Ueberlegungen steht und – meist in antithetischer Problemstellung – sagt, was sein Autor weiss, was er nach Prozessen ruppigen und schmerzlichen Lebens herausgefunden hat. Daseinsextrakte; pragmatisch erworbene Philosopheme. Oft schlagen solche Gedichte freilich ins Banale um. Doch manchmal – etwa in den Fällen „Ein Brunnenlöwe“, „Usurpation“, „Krüppelwunder“, „Wadi“, „Die Abnehmer“, „Die Händler“, „Totschlagen“, „Definition“ – gelingen sie. Und dann überzeugt jedes einzelne von ihnen durch seine karge Diktion und seine bewusste Progression mehr als Dutzende sonstiger Fried-Texte.
An einigen Stücken des neuen Bandes kann man erkennen, dass Fried mit fremden Formen experimentiert hat und dass er sich andere Gedanken- und Gefühlswelten nutzbar zu machen suchte. So erinnert ein Gebilde wie „Auf und ab“ an gewisse Heissenbüttel-Versuche; „Auszug und Heimkehr“ korrespondiert mit Vasko Popa; und in „Rückkehr“ werden „Todesfuge“-Elemente sehr kunstfertig assimiliert. In „Auf freiem Markt“ schliesslich, einem Enzensberger gewidmeten Gedicht, knüpft Fried an sich selber an, an sein Kurzgedicht:
Ich bin der Sieg
mein Vater war der Krieg
der Friede ist mein lieber Sohn
der gleicht meinem Vater schon
Dieses kleine Poem ist wesentlich prägnanter und überzeugender als das neue Gedicht, das in seinem zweiten Teil zudem auch noch verspielt wird. Ueberhaupt liegen für Fried Gefahren darin, dass er sich gern und oft aus der schon lange überquellenden Spielzeugtruhe Dadas bedient:
Der Geier trug drei Beamte fort,
und einen Minister
Der Adler den General
mit militärischen Ehren
Der Storch nahm zwei Kinder
und ein Buch über Wiedergeburt
Wenn ich ein Vöglein wär
flög ich zu dir
Ich könnte mir gut vorstellen, dass gerade das Volkslied-Zitat von manchem unserer heutigen Kritiker als Beweis dafür bemüht wird, wie virtuos hier ein Gedicht aufgebaut und dann parodiert, wie intelligent es konzipiert und schliesslich ad absurdum geführt worden ist. (Zurücknahme des poetischen Einfalls; schlagendes Beispiel für den einzig zeitadäquaten Typus des Antigedichts – so oder ähnlich könnte es heissen.) Fried nimmt hier aber nur ein paar Vokabeln auf, jongliert eine Weile mit ihnen und macht sie am Ende, in einer Art Ueberdruss gegen das eigene Sprachmaterial, selber kaputt. Dass solche Verse in Serien machbar sind, dafür erbringt Fried selber den Beweis:
Wenn Hunde welken
zwischen den bellenden Blumen
wenn Wälder arbeiten gehen
in die Papierfabriken
wo Menschen
zerkleinert werden
ist etwas aus den Fugen
aber nicht viel
Mit ein zwei Strichen
kann es behoben werden
ohne Blutvergiessen
und ohne Geld
Gegen wen geht ein solches Gedicht? Gegen Hunde? Gegen Blumen? Und wie kann man eine Welt, in der Papierfabriken Menschen zerkleinern, mit zwei Strichen – unblutig und ohne Geld – reparieren ? Fried hat sich Pappkameraden aufgebaut; und indem er auf sie schiesst, macht er seine ernsten Arbeiten – seine objektgebundenen Parabeln und Polemiken – unglaubhafter.
Nicht der erhobene Zeigefinger stand bei diesen Gedichten Pate, sondern das dumpfe Gefühl beim Aufwachen und Nichteinschlafenkönnen, die nicht genau lokalisierbare Beklemmung, das Kopfschütteln, die Furcht und das Mitleid oder die Erbitterung beim plötzlichen Erfassen der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeitungsmeldungen.
Nein, Warnungen im Sinne einer festeingefahrenen Weltanschauung oder einer politischen Partei sind diese Verse nicht. Auch nicht engagierte Lyrik im engsten Sinn, nicht Gedanken und Bilder, die ich anderen aufdrängen will, höchstens solche, die sich mir aufdrängen, wenn mir vor funkelnagelneuen Waffen, veralteten Gedankengängen und uralten Vorurteilen graut. Und nicht nur die Warnung, auch die Beklommenheit wäre unnötig und ungültig, wenn unser Denken mit unsere Können, unser Fühlen mit unserem Denken, unser Zusammenleben mit seinen technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Notwendigkeiten Schritt gehalten hätte.
Frieds Vorwort zur Erstauflage, 1964
TOTSCHLAGEN
Erst die Zeit
dann eine Fliege
vielleicht eine Maus
dann möglichst viele Menschen
dann wieder die Zeit
Die Warngedichte sind der erste Gedichtband Erich Frieds in den 60er Jahren. Die 112 Gedichte sind noch vergleichsweise unpolitisch und verbreiten eine Atmosphäre von melancholisch zurückgezogener Betrachtung. Resignation spielt teilweise eine übergeordnete Rolle:
Doch die Menschen sind unbelehrbar
und deshalb haben
die Unbelehrbaren
mit ihren Lehren Erfolg
und auch, vor allem in den ersten Teilen der Arbeit, die insgesamt aus 5 sehr unterschiedlichen besteht, aus phantastischen Bilderfluten und Rätselmetaphorik:
Der Mond hat seinen Mund aufgetan
die Sonne rennt und brennt in ihrer Bahn
die Sterne tropfen nieder in die See
sie zischen sehr
Viel apokalyptische Schwermut wächst im letzten Teil zu der friedschen Sprachpragmatik heran, die in ihrer Klarheit, wie ich finde, ihresgleichen sucht:
Deine Rede sei
ICH DU ER SIE ES
was darüber ist
das ist von Übel
Wir sind die Wirrnis
Ihr sei der Irrtum
Sie sind
die Sintflut
Zu den Steinen
hat einer gesagt:
seid menschlich
Die Steine haben gesagt:
Wir sind noch nicht
hart genug
Alles in allem ist dieser Band eine Herausforderung. Er offenbart sich nicht, sondern ist wie eine Gestalt, die in einer Gewitternacht über das Feld läuft; Blitz erhellen hier und da und auf alles fällt der blasse Glanz des Mondes.
Sie lieben die Freiheit
wie sie
ihre Frauen
lieben
im Dunkeln
Ein metaphorisches Abenteuer!
Auf 137 Seiten finden sich hier fast ebensoviele Gedichte, mal klassisch gereimt, mal nur aus wenigen Worten bestehend, mal sich Bildern aus der Natur bedienend, mal menschliche Gefühle, mal sich sofort erschließend, mal auch nach mehrmaligen Lesen nicht.
Allen Gedichten, die ich verstanden habe, ist gemeinsam, dass sie vor den Abgründen menschlichen Handelns oder Nicht-Handelns warnen und mahnen wollen. Nicht immer trifft diese Art von Dichtung meinen Geschmack, nicht immer habe ich alles verstanden, die Absicht aber kann ich nur gutheißen…
Eberhard Horst: „Hier bin ich ausgesetzt“
Die Welt der Literatur, 26. 11. 1964
Jürgen P. Wallmann: Wort- und Sprachspiele als Warnungen
Echo der Zeit, 14. 2. 1965
Kurt Marti: Gedichte als Denkanstöße
Die Weltwoche, 5. 3. 1965
Ernst Fischer: Angst, Warnung, Überlegung
Die Zeit, 21. 5. 1965
Hans-Jürgen Schmitt: Wortspiel mit Gedankenkunst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 6. 1965
Arnfrid Astel: Erich Fried: ‚Warngedichte‘
Neue Deutsche Hefte, Heft 107, 1965
Hanjo Kesting: 1945 war der Krieg zu Ende. Sie blieben in London, kehrten nicht nach Österreich oder auch nach Deutschland zurück. Für einen Schriftsteller ist das doch erstaunlich, weil er sich damit von dem sprachlichen Milieu löst, aus dem er lebt und von dem er lebt. Warum sind Sie in London geblieben? War es für Sie nach wie vor, auch nach 1945, ein Exil oder ein Asyl, oder wurde es zu einer neuen Heimat?
Erich Fried: Eine Mischung von all dem. Sehr wenig Heimat, denn England ist keine assimilierende Kultur wie etwa die Vereinigten Staaten. Der Gedanke zurückzukehren war für mich während des Krieges immer mit der Vorstellung verbunden gewesen, mit meinen Genossen in Deutschland oder in Österreich eine bessere Gesellschaft aufzubauen, und das hieß für mich eine sozialistische Gesellschaft. Nun gab es Meinungsverschiedenheiten, sehr schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten mit den kommunistischen Organisationen. Ich konnte nicht mit ihnen zusammenarbeiten, wollte aber auch nicht gegen sie arbeiten, weil ich den guten Glauben und die Opferbereitschaft dieser Leute kannte, individuell gesehen, und weil mir der berufsmäßige Kommunismus verhasst war. Ich blieb daher zunächst einmal traurig da. Ich hatte inzwischen auch geheiratet, hatte ein Kind1 auch deswegen wäre das Zurückkehren für mich gar nicht so einfach gewesen, ich hätte irgendeinen Hintergrund haben müssen. Ich wurde dann zwar, zum Beispiel, als die Humboldt-Universität in Ost-Berlin ihre Arbeit aufnahm, eingeladen, dort als Dozent zu arbeiten. Das wäre aber mit der Bedingung verknüpft gewesen, nicht eine Position einzunehmen, die mit der des offiziellen sozialistischen Realismus unvereinbar war. Ich bin lieber Fabrikarbeiter2 in London geblieben.
Kesting: Für Sie als Schriftsteller hat das natürlich bedeutet, unter erschwerten Bedingungen zu arbeiten.
Fried: Unter Umständen gar nicht zu schreiben. Ich war über diese Entwicklung eine Zeitlang sehr verzweifelt. Aber ich sah keine andere Möglichkeit. Viele Emigranten, auch Schriftsteller, sind damals als Zensoren für die amerikanische Armee hinübergegangen und haben so ihre ersten Kontakte mit Deutschland wieder angeknüpft. Dies widerstrebte mir. Ich wollte nicht als Zensor für die amerikanische Armee kommen, obwohl der Kalte Krieg zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen hatte.
Kesting: Wie sind Sie dann als Schriftsteller mit dem Problem fertig geworden, in England zu leben und deutsch zu schreiben?
Fried: Ich habe dieses Problem schon im Krieg gespürt. Deswegen las ich die Literatur, die in Deutschland erschien, auch die Nazi-Zeitungen usw. In diesen Zeitungen gab es vereinzelt auch nicht-nationalsozialistische Literatur. Im Reich von Goebbels hat sogar ein Wilhelm Lehmann3 Gedichte veröffentlicht. Nach dem Krieg hatte ich sehr bald mit Schriftstellern wie Elisabeth Langgässer4 und anderen Kontakt, sehr viele Deutsche kamen hierher, ich hatte mich auch mit einigen literarisch interessierten Kriegsgefangenen5 angefreundet. Ich war also nicht eigentlich von Deutschen isoliert. In der Emigration gab es auch eine gewisse selbstgerechte und selbstgenügsame Isolierung von Deutschen, für die ich wenig übrighatte. Ich wäre gern nach Deutschland übersiedelt, sah aber die Möglichkeit nicht. In Österreich hatte sich ein Kulturbetrieb entwickelt, der nach wenigen Jahren ein bisschen hinterwäldlerisch wurde – dazu hatte ich wenig Lust. Ich hatte überhaupt mehr Sympathie für die deutsche Literatur als für die Selbständigkeitsbestrebungen der österreichischen Literatur, die ich nicht ganz ernst nahm. Damit habe ich mich zumindest teilweise geirrt, denn nach dem Krieg war die österreichische Literatur wirklich etwas anders als die deutsche – aus verschiedenen Gründen.
Kesting: Wie sehen Sie heute, dreißig Jahre danach, das Problem des Emigrantenschriftstellers? Dreißig Jahre sind eine lange Zeit.
Fried: Ich habe mich in dieser Zeit natürlich nicht als Emigrant gefühlt und seit 1953 gewöhnlich ein paar Monate im Jahr in Deutschland verbracht, weil ich in Deutschland publiziert habe und in Deutschland „funktioniere“, in England eigentlich nicht. Dort habe ich, nachdem ich von der BBC weggegangen6 war, eigentlich nur mehr gewohnt. Heutzutage aber habe ich manchmal das Gefühl, als wäre ich im Begriff, zum zweiten Mal nach England in die Emigration zu gehen, ohne von England weggegangen zu sein. Denn ich finde die Entwicklung in der Bundesrepublik ganz entsetzlich, besonders die Bedrohung der Freiheit des Ausdrucks. Zum Beispiel, dass ein Mensch, der in Deutschland sagt, dass die Demokratie keine wirkliche Demokratie ist, Gefahr läuft, wegen Beschimpfung dieser Demokratie verfolgt zu werden. Natürlich wird eine Demokratie nicht dadurch zur wirklichen Demokratie, dass sie den Zweifel daran, dass sie es ist, verbietet. Im Gegenteil. Ich habe mich verschiedentlich in Polemiken verstrickt und hoffe, es weiter zu tun, solange ich die Möglichkeit dazu habe, weil ich nach dem Krieg von Anfang an entschlossen war, die kollektive Verurteilung der Deutschen, die nach Kriegsende Mode war und die eigentlich einen umgekehrten Rassismus zur Grundlage hat, zu bekämpfen. Und ich habe sie auch in dem, was ich geschrieben habe, bekämpft. Aber ebenso wenig möchte ich schweigend zusehen, wenn die Grundrechte, die nach dem Krieg verfassungsmäßig festgelegt wurden, infrage gestellt werden. Das Recht zum Beispiel, wegen seiner politischen Meinung nicht benachteiligt zu werden, solange diese Meinung nicht eine nationalsozialistische Meinung ist. Heute wird dieses Recht vom Verfassungsgericht dahingehend interpretiert, dass es sich nur auf das Haben einer Meinung bezieht, nicht aber auf das Äußern der Meinung. Das ist natürlich eine ganz miserable und schändliche Interpretation. In England gibt es auch nicht diese Neigung zu politischer und persönlicher Hysterie in allen möglichen Situationen, wie man sie in der Bundesrepublik und teilweise auch in Österreich immer wieder feststellen kann.
Kesting: Ihr Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen ist belastet durch individuelle und kollektive Schicksale. Ihr Vater ist von der Gestapo umgebracht worden, viele Ihrer Angehörigen, Freunde und Bekannten sind in Konzentrationslagern ermordet worden. Dennoch haben Sie wie kaum jemand sonst versucht zu verstehen, auch Deutsche und Deutschland zu verstehen, Geschichte in einer Art „aufzuarbeiten“, wie dies in Deutschland selbst wohl größtenteils versäumt worden ist. Was hat Sie dazu befähigt? Wie sehen Sie Ihr Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen?
Fried: Zunächst einmal gab es für mich, bevor ich sehr viele deutsche Menschen kennenlernte – ich war ja Österreicher –, ein Verhältnis zur deutschen Literatur. Ich dachte immer und denke heute noch, dass die deutsche Literatur nicht etwas sehr Schönes ist, das im leeren Raum entsteht und wozu die Deutschen nur eine unangenehme Beigabe sind, sondern dass diese Literatur ja irgendwie von diesen Menschen herkommt. Ich hatte daher eigentlich immer eine Beziehung zu Deutschland. Eine zwiespältige Beziehung, wenn Deutschland in seiner politischen Erscheinung hauptsächlich mit dem Nationalsozialismus identisch war oder wenn es heute wieder einmal die undemokratischste aller europäischen Demokratien wird. Es ist also ein ambivalentes Verhältnis, niemals ein Hassverhältnis. Ich glaube auch, dass Hass als Vorbedingung für politische Kämpfe nicht notwendig ist.
Kesting: Es gibt diese Ambivalenz ja auch in Ihren Texten – so stellt es sich mir als Leser jedenfalls dar. Auf der einen Seite diese große humane Anstrengung, die Anstrengung zu verstehen. Auf der anderen Seite der erschrockene und wohl auch erschreckende Blick in die Abgründe dieses sogenannten Humanen. In vielen Texten – etwa in dem Prosaband Kinder und Narren7 – spielen Motive des Perversen, Brutalen und Pathologischen eine wichtige Rolle, fast so, als ginge es darin um die Frage nach der Vorherrschaft des Bösen in der Welt. Wie kommt das zueinander?
Fried: Ich würde sagen, dass sich dieselbe Linie schon in meinem Roman Ein Soldat und ein Mädchen abzeichnet, dass die dort auch schon sehr deutlich wird. Ich glaube ja nicht, dass es die Hauptaufgabe der Literatur ist, eine dienende Magd der Politik zu sein, sondern dass es die Hauptaufgabe der Literatur ist, wie aller Kunst, gegen die Entfremdung zu kämpfen – für das wirkliche Hören, Sehen, Fühlen, Denken gegenüber den Schablonen und den denkfeindlichen und sehfeindlichen Mustern in unserer Gesellschaft. Dabei ergibt sich natürlich das politische Engagement bis zu einem gewissen Grad von selbst. Es muss aber nicht als direktes parteipolitisches Engagement auftreten. Wenn man aber gegen Entfremdung kämpft in einer Zeit, in der es Gaskammern und Massenvernichtungen gibt, in der es in der Bundesrepublik eine Bundeswehr gibt, für die durch ein Gesetzblatt bestimmt wird, dass Angehörige der Waffen-SS und der Hitlerischen Vollzugspolizei unter Beibehaltung ihrer Dienstränge oder einen Dienstgrad höher übernommen werden, bei gleichzeitigem Kommunistenverbot,8 wobei Kommunisten von alten Nazirichtern zu Gefängnisstrafen verdonnert werden – wenn es also solche gespenstischen Vorgänge geben kann, dann muss man auch diesen Dingen nachforschen, wie sie sich in der Mentalität der einzelnen Menschen abzeichnen; dann muss man fragen, wie die Triebanlagen der Menschen zu Grausamkeiten führen können, über welche Transmissionen im Individuum die schlimmen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen überhaupt laufen. Die politischen Entwicklungen vollziehen sich nicht im luftleeren Raum, sie werden von Menschen gemacht, und Menschen lassen sich nur für solche Dinge einspannen, weil sie durch ihre eigene frühkindliche Erziehung verbogen sind – das ist keine neue Erkenntnis von mir, schon bei Heinrich Mann im Untertan kommen solche Dinge vor. Und deswegen kommen sie, glaube ich, auch in meinen Prosa-Arbeiten so häufig vor. Es handelt sich auch gar nicht darum, dass der linke Mensch in dem Gefühl ein viel besserer politischer Mensch zu sein als der unpolitsche oder der rechte Mensch, mit erhobenem Zeigefinger auf diesen unpolitischen oder rechten Menschen zeigt. Natürlich haben linke Menschen genau dieselben Möglichkeiten der Verhärtung, der Verrohung und Entfremdung in sich. Man kann überhaupt alle Fehler bei anderen Menschen nur dann wirklich verstehen, wenn man dieselben unerfreulichen Möglichkeiten bei sich selbst oder bei seinen engsten Freunden erforschen kann. Ich glaube, man kommt um die unerfreulichen Dinge nicht herum, sonst entsteht eine Wunscherfüllungsliteratur ob die nun rechts oder links ist, Heimatdichtung oder sogenannter sozialistischer Realismus, der eben nicht ein Realismus, sondern, wie man heute in der Sowjetunion sagt, eine Vergoldungsliteratur war.
Kesting: In Ihrer eigenen literarischen Produktion trat, wenn ich es richtig sehe, nach 1946 eine relativ große schöpferische Pause ein. Damals war Ihr schon erwähnter Gedichtband Österreich erschienen, der nächste Gedichtband erschien erst wieder 1958 nach einer Spanne von immerhin zwölf Jahren. In dieser Zeit haben Sie viel übersetzt, Dylan Thomas, T. S. Eliot, manchen anderen Autor, später auch Shakespeare. Diente die Übersetzungsarbeit vor allem dem Broterwerb? War es eine stillschweigende Vorarbeit für die eigene Produktion, Fingerübungen gewissermaßen?
Fried: Ich habe zunächst einmal Gedichte übersetzt, die mir gefallen haben – nur solche habe ich übersetzt –, und um sie mir durch die Übertragung in die Muttersprache wirklich zu eigen zu machen. Dadurch habe ich eine große Praxis gekriegt. Den Dylan-Thomas-Auftrag hätte ich übrigens nicht bekommen, wenn ich nicht schon viele Gedichte übersetzt hätte. Und dann gab es einen dummen Witz: Die Leute sagten, wenn es etwas gibt, das man nicht übersetzen kann, dann soll man es dem Fried geben. Und so habe ich besonders schwierige, aber auch besonders interessante Übersetzungen bekommen. Das hat natürlich meine Fähigkeiten, in deutscher Sprache zu formulieren, unterstützt. Aber dass ich lange keine Gedichte veröffentlicht und auch keine geschrieben habe – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen –, war vor allem auf die politischen Dinge zurückzuführen, die wir schon erwähnten. Ich war vom Stalinismus enttäuscht, wollte aber nicht einfach antikommunistische Propaganda machen, gleichzeitig war ich enttäuscht, wie die Praxis der Westalliierten in Westdeutschland aussah, wie sie die Umerziehung betrieben und auch sonst schalteten und walteten.
Ausgestrahlt beim NDR am 16.12.1975
Aus: Hanjo Kesting: „Anläufe und Anfechtungen. Gespräch mit Erich Fried“ (1980), in: Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried. Gespräche und Kritiken, Bonn: Bouvier, 1986
Gehalten in Wien am 29. April 1986
Eine Rede auf Erich Fried, sogar eine Geburtstagsrede? Noch dazu in seiner Anwesenheit? Da sollte man auf der Hut sein. Ich kenne ihn. Dann sitzt er da, und dichtet heimlich. Nur aus Höflichkeit holt er kein Zettelchen heraus, um etwas zu notieren.
Dergleichen kann ich bezeugen: ich habe es drei Tage hintereinander beobachten können, und zwar hier in Wien. Genauer ausgesagt: im Palais Palffy am Josephsplatz. Das ist auch schon wieder zwanzig Jahre her; Erich war damals ein Vierziger, er kam aus London. Symposion der Österreichischen Gesellschaft für Literatur: über den modernen Roman. Mit glanzvoller Besetzung: Elias Canetti und Manes Sperber und Robbe-Grillet, Russen und Tschechen und Südslawen, die Österreicher und die Bundesdeutschen. Letztere freilich mit Maßen, ich weiß nicht warum. Und Erich Fried, der kein Romanschreiber ist.
Es gab eine strenge Sitzordnung am großen Viereck. Dort mußte man drei Tage lang präsent sein und sitzen bleiben. Erich saß neben mir, ich konnte ihn beobachten. Das war bisweilen viel spannender als das jeweils ablaufende Tagungsgeschehen mit Referat oder Lesung und Diskutieren. Erich hörte genau zu, das entging mir nicht, zugleich aber hörte er überhaupt nicht zu. Er dichtete. Unablässig. Seite um Seite, Zettel auf Zettel. Wenn wieder etwas fertig geworden war, schob er es mir herüber. Meistens handelten die Verszeilen von den Steinen, oder schlechthin von Steinen. Nachwehen vielleicht noch seines Gedichtbandes Reich der Steine von 1963. Einiges von dem, so glaube ich mich zu erinnern, war gut; gleich beim ersten Entwurf; anderes enthielt, wie stets auch bei Erich Frieds mißglückten Texten, ein paar gute Zeilen. Manches Gekritzel war überhaupt nicht als Text gedacht, sondern als Jux. Gleichsam als innerer Aufstand gegen soviel den Raum erfüllendes Reden über Literatur.
Dabei hörte er – wie brachte er das fertig? genau zu, meldete sich auch zu Wort, hatte gut aufgepaßt.
Ich habe oft daran zurückgedacht, weil mir diese Zeugenschaft half, die Eigenart des Dichters Erich Fried besser zu verstehen. Die scheinbare Leichtigkeit seiner Arbeit an lyrischen Texten hatte ich ursprünglich nicht besonders hoch eingeschätzt. Ich hatte damals viel Umgang mit Peter Huchel und Paul Celan, deren schweres Arbeiten am Wort mir, dem Nicht-Dichter, stellvertretend zu sein schien für ein überaus schweres Künstlertum.
Hier aber saß einer und schien überzuströmen vor Wörtern und Worten, Wortspielen und Wörtlichkeiten. Wer so arbeitete, das weiß ich heute, hatte es nicht leichter, er war auch nicht leichtfertiger als Huchel oder Celan oder Rilke: es wirkte in ihm bloß die andere Form des Ausdruckszwangs. Sie war auch keine Besonderheit dieses Lyrikers Erich Fried. Andere hatten diesen immer wieder einzudämmenden Überschwang der lyrischen Berauschung auch durchlebt. Clemens Brentano etwa hatte so dichten müssen, und auch ihm war immer wieder einiges mißlungen.
Ausdruckszwang aber war es immer. Folglich eine Heimsuchung. Wem das zufiel, der hat ein schweres Leben zu führen. Auch er, Erich Fried, hat ein schweres Leben auf sich genommen: geprägt durch diesen seltsamen Ausdruckszwang. Zumal sich dieser, was mit unserer Lebenszeit zusammenhängt, nicht dem Bukolischen öffnen durfte; schon gar nicht einer mitten im Dritten Reich praktizierten Hingabe der Lyriker an das scheinbar menschenlose Natürliche. „Lyrik der Lurche und Molche“ hat das einmal, in der Nachkriegszeit, der Lyriker Stephan Hermlin spöttisch genannt. Erich Frieds Ausdruckszwang galt den Menschen und ihren Befindlichkeiten. Er haßt alles Menschenlose als ein Unmenschliches. So macht man sich Feinde. Wenn der Überbau nicht mehr oben bleiben will, unerreichbar fern, sondern mitten an der Basis angetroffen wird, dann hört für viele, nicht allein für viele Kritiker, der Spaß auf: nämlich das interessenlose Wohlgefallen. Erich Fried hat stets über Interessen geschrieben, und er hat sich auch immer zu den eigenen Interessen, den gesellschaftlichen vor allem, besonders bekannt. Damit macht man sich auch viele Freunde. Wir erleben es heute und hier.
Lassen Sie mich von den vier großen Begabungen unseres Freundes sprechen. Die dichterische versteht sich von selbst. Und wenn irgendwann einmal den Dramaturgen gesetzlich verboten sein wird, sich ein Zubrot als Shakespeare-Übersetzer zu verdienen, wird man entdecken, daß Erich Fried uns, nach August Wilhelm Schlegel, einen wahrhaft nachgedichteten deutschen Shakespeare geschenkt hat. Als einer, der sich von den eifrigen Nachdichtern durch zweierlei unterscheidet: er ist selbst ein Dichter, und er kann wirklich englisch.
Die zweite Begabung ist die für den Großen Zorn. Den Zorn nämlich der Propheten und der Großen Nörgler. Er ist nicht zu verwechseln mit dem kleinen Ärger und dem bloßen, doch folgenlosen Mißvergnügen an den Zeitumständen. Erich Fried kennt den großen Zorn. Das macht: er liebt wirklich den Frieden, den inneren wie den äußeren. Er redet nicht bloß davon. So war um ihn immer, wie um den bayerischen Bäckerjungen und großen Schriftsteller Oskar Maria Graf, viel „Unruhe um einen Friedfertigen“.
Seinem Großen Zorn hat Erich Fried einmal, vor fünf Jahren, in dem Gedichtband Lebensschatten eine Begründung von sechs Zeilen gegeben. Überschrift „Status quo“: also Beibehaltung des gegenwärtigen Zustandes. Das Gedicht antwortet:
Wer will
daß die Welt
so bleibt
wie sie ist
der will nicht
daß sie bleibt.
Erich Frieds dritte Begabung ist die eines großen Clowns. Damit verkörpert er unter uns etwas sehr Seltenes: den weisen Shakespeare-Narren; doch nicht ohnmächtig, wie der zornige Thersites in „Troilus und Cressida“, der bloß schimpfen kann inmitten der Barbarei von Krieg und brutalem Genießen. Fried ist ein guter Clown, weil er, bei allem Zorn, auch stets die Komik zu entdecken vermag: sogar bei den Freunden und Parteigängern, auch bei sich selbst. So erregt er immer wieder Unbehagen bei den Fundamentalisten, aber freudige Überraschung bei allen, die verhindern möchten, daß die Welt nur noch Feinde kennt und angebliche Freunde. Wie oft hat Erich Fried in öffentlichen Diskussionen plötzlich das Wort genommen, um Gegner der eigenen Ansichten in Schutz zu nehmen gegen irgendwelche Vernichtungsdekrete. Das macht: er ist wirklich ein Demokrat.
Die vierte Begabung ist vielleicht die größte, neben dem poetischen Ausdruckszwang. Es ist seine Begabung für Freundschaft. Sie hat bewirkt, daß er sich Achtung und oft auch Zuneigung erwerben konnte bei Menschen, die anderer Meinung waren als er selbst. Bei jenen freilich nur, die eben bloß Meinungen hatten und äußerten, nicht jedoch pochten auf „unumstößliche Grundsätze“. Solchen freilich ist er ein Ärgernis geblieben.
Wie ist diese seltene Begabung für Freundschaft, ohne alle Gefühlsamkeit einstiger Freundschaftskulte, zu erklären? Sie hängt, wie ich meine, mit dem geringen Schaden zusammen, den irgendwelche jüdische und christliche Todsünden in seinem Leben anzurichten vermochten. Erich Fried, der Jude, lehnt sich erbittert auf gegen die Losung Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er heißt den Mord einen Mord und gewährt ihm nicht die zweifelhafte Beschönigung einer sogenannten „Hinrichtung“. Deshalb ist Freundschaft bei und für Erich Fried auch keine Vertraulichkeit der Kumpanei oder ein Sterbe-Ritual von Verschworenen, sondern Sorge um den anderen Menschen.
Ich habe selten einen Menschen gefunden, noch dazu in der Welt der Literaten, der so unzugänglich wäre für die beiden Todsünden Geiz und Neid. Erich Fried praktiziert das neidlose Lob, und seine Warnungen sind Freundeswort. Das macht: er ist nach wie vor ein Humanist in den finsteren Zeiten des Entweder-Oder und des „So oder so!“.
Vor bald fünfzig Jahren starb hier in Wien der Große Nörgler. Der junge Erich Fried schrieb mitten im Zweiten Weltkrieg ein Sonett mit der Überschrift „Für Karl Kraus“:
Du warst der Kläger und du warst der Richter
Und eine Fackel in der Dämmerung.
Verkrümmt und alternd bliebst du grad und jung,
In kranker Zeit ein tiefgekränkter Dichter.
Noch liebesstark in deinen Bitternissen
Und drum zu streng: Nicht viel schien Liebe wert.
Und so hast du uns Wort und Spott gelehrt
Und schliffst uns scharf zur Schneide das Gewissen.
Du irrtest oft. Es hat dich dein Verstand
Von Glück und Hoffnung sehr weit fortgetragen,
Doch öfter trafst du: Moder stand in Brand.
Und rühmend darf man dieses von dir sagen:
An ihren Worten hast du sie erkannt,
Mit ihren Worten hast du sie geschlagen.
In kranker Zeit ein tiefgekränkter Dichter. Das gilt auch für ihn selbst: für Erich Fried.
Der Clown in ihm, oder auch der Don Quijote, den er in einem Gedicht auf sich selbst beschworen hat, weiß zugleich, daß sie immer furchtbarer geworden sind, die Windmühlenflügel der Macht und der Dummheit. Der Große Nörgler ist hoffnungslos gestorben. Erich Fried gibt es nicht preis, das Prinzip Hoffnung. Ein Gedicht vom Jahre 1979 kennt den Selbstzweifel:
UNGEWISS
Aus dem Leben
bin ich
in, die Gedichte gegangen
Aus den Gedichten
bin ich
ins Leben gegangen
Welcher Weg
wird am Ende
besser gewesen sein?
Lieber Erich, das war kein Entweder-Oder, glücklicherweise. Es war stets beides, und das war gut so. Wir danken es Dir: in dieser Stunde, und die Nachgeborenen sollten es nicht vergessen!
Hans Mayer, aus: Hans Mayer: Über Erich Fried, Europäische Verlagsanstalt, 1991
– Zum Unstreit über die ,Gesinnungsästhetik‘
Der Kritik an Lyrik als Ausdruck hatte die Einsicht zugrunde gelegen, daß das klassische Subjekt, das sich „von der Verwüstung rein bewahrt“ und von daher eine Sprecherrolle übernehmen kann, historisch-poetologisch abgedankt hat. Eine Einsicht, die im Naturalismus, auch etwa bei Fontane schon die poetische Gestaltung bestimmte und die der modernen Dichtung, die mit diesem Ansatz wieder einmal der Psychologie voraus ist, ihre auszeichnende Stellung gewährt. „Car Je est un autre“, heißt es bei Rimbaud, und bei Heiner Müller: „Du bist der eine und du bist der andre“ oder, an anderer Stelle, „Denn unsers gleichen ist nicht unsers gleichen“. Fried entgegnet auf Brechts leicht rückfälligen Zuruf: „Daß du untergehst, wenn du dich nicht wehrst / Das wirst du doch einsehn“ (den der Zyklus „Zweifel an der Sprache“ in Gegengift zitiert) mit dem Hinweis auf die mögliche Paralyse des Subjekts:
Mancher will sich nicht wehren
weil er glaubt
daß er sich nicht wehren kann
Wie kommt es zu dieser Ohnmacht, was bedeutet sie für den Ansatz einer widerständigen Dichtung?
Erich Frieds Wort- und Formkunst, von der hier mit relativ vielen Nicht-Fried-Beispielen die Rede sein soll, setzt bei diesem Erfahrungsstand ein, den auch andere Autoren vergegenwärtigen und der quer steht zum Ausruf „Wir sind im Grunde Priester“, der dieser Tage noch beim ersten gesamtdeutschen Dichtertreffen in Weimar erschallte: von westdeutscher Seite; worauf die ebenso ordinäre ostdeutsche Entgegnung folgte, der Ruf, „sich einzureihen in die Front der Kämpfer für die Freiheit“.
„Fried und die Folgen“, das meint zunächst also: Fried und die Voraussetzungen wirklich gegenwärtigen Dichtens. Elisabeth Augustin, eine seit 1933 in Holland lebende Autorin, schrieb das Gedicht: „wer möchte zeuge sein“, Franz Hodjak, ein in Rumänien lebender Dichter, das Gedicht „spielräume“, von Richard Wagner, nun in Berlin lebend, stammt der Text „Kleinkunst“. Es sind alles Gedichte nach dem Fried-Muster, sie könnten sozusagen von ihm sein, ohne daß wir einen Einfluß unterstellen wollen.
WER MÖCHTE ZEUGE SEIN
wer möchte zeuge sein
bei so vielen angeklagten
wer möchte ankläger sein
bei so vielen vergehen
wer möchte angeklagter sein
bei so vielen zeugen
Elisabeth Augustin
SPIELRÄUME
die freiheit
die täglich
uns spielraum
gewährt
ist immer so groß wie
der spielraum
den täglich
wir der freiheit
gewähren
Franz Hodjak
KLEINKUNST
Seht, wie ich springe
über die Klingen der Genossen.
Wahrhaftig, ich bin ein heiterer Mann.
Richard Wagner
Alle diese Gedichte machen nicht viele Worte, und setzen doch aufs Wort mehr denn aufs Bild, mißtrauen der sinnlich-abbildlichen Erkenntnis, sind lakonisch im Ton, gleichwohl kunstvoll gebaut, komplex strukturiert, arbeiten mit Wiederholungsfiguren, gestischer Rede, mit Paradoxien und Ironien, wehren sich, wie Brecht es sich wünschte, indem sie der zum Wort gewordenen Wirklichkeit ein Gegen-Wort sagen, indem sie Widerspruch einlegen, Ansprüche machen, Zuspruch wagen, sich einmischen auf eine andere Weise denn prophetisch oder priesterlich. In Brechts Johanna stehen die großen Worte, die als Motto jeder engagierten Dichtung gelten können:
Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassend
Nicht nur gut wart, sondern verlaßt
Eine gute Welt!
Erich Fried hat das nicht als ein poetisches Motiv übernommen, sondern als Gesinnung und Haltung, die sein Leben, sein politisches Wirken, seine Poetik und seine Moral gleichermaßen prägten, in jener Vorsichtigkeit und überlegenden Weisheit, die noch den letzten Trompetenton (Hasenclever: „Asphaltene Dämmerung verscheucht Trompetenton“) auch bei Brecht in ,Swing‘ verwandelt, in eine rhythmische Rede, die eine zeitgenössische Anrede ist. Frieds Gedicht „Du liebe Zeit“ (in Unverwundenes) geht vom Wortspiel als Aufdecken der genaueren Bedeutung aus, der Stoßseufzer verwandelt sich in „Du unliebe Zeit“, „Du ungeliebte Zeit“, dennoch wird der Steigerung bis hin zur „Unzeit“ widersprochen, auf eine sehr Friedsche Weise, die das Pathos der Johanna-Verse Brechts entheroisiert, zum Leben statt zum Tode hin zu bestimmen sucht:
(…) Und doch
Sie ist unsere einzige Zeit
Unsere Lebenszeit
Und wenn wir das Leben lieben
können wir nicht ganz lieblos
gegen diese unsere Zeit sein
Wir müssen sie ja nicht genau so
lassen, wie sie uns traf
Man hat nun, auch ein Zeichen restaurativer Tendenzen, versucht, mithilfe des Stichworts ,Gesinnungsästhetik‘ sowohl die Literatur der DDR zu denunzieren als auch die neuere deutsche Literatur insgesamt, wie sie sich vor allem im Zeichen der Gruppe 47 entfaltet hat. Erich Fried wäre gewiß ein willkommenes Beispiel dieser sogenannten Debatte, wenn man nicht zur Zeit dringlicher zu erledigende Autoren wüßte. Es gibt gewiß eine Reihe von Texten, die ohne großen Vorbehalt diesem Vorhalt preiszugeben sind. Aber doch, möchte ich betonen, vielleicht nicht diesem Vorhalt in diesem Moment. Denn er ist so absolut unberaten und ungebildet, auch wenn er in tonangebenden Zeitungen von tonangebenden Leuten mit angebendem Ton vorgetragen wird; es sind diese Anwürfe, die uns dazu nötigen, das Formmoment von Frieds und ,friedischer‘ Lyrik besonders hervorzuheben, und es trifft sich, daß ineins damit einige Formmotive auch der DDR-Literatur mit angesprochen werden. Die DDR-Literatur, für deren gegenwärtige Situation Erich Fried vorausschauend ein kleines, wichtiges, zu wenig bedachtes Gedicht gemacht hat:
POLITISCHE VERLEUMDUNG
Wer A sagt
dem sagt man
heut nach
daß er
auch B
gesagt habe
Heiner Müller hat in einem Gespräch 1981 betont:
Ein Text hat zwei Übermittlungsebenen: eine ist Information, die andere ist Ausdruck. Die Ausdrucksebene ist hier viel stärker, und Worte sind hier (sc. in der DDR) viel wirkungsvoller als im Westen, weil Information unterdrückt wird. Hier sind Worte nicht nur Informationsträger; man entnimmt auch dem Ausdruck Information. (Rotwelsch)
Das gilt auch für Erich Frieds Lyrik, etwa für die Kurzformen. Zwei Texte im Vergleich:
ZUVERSICHT
Das Blei ist träge,
noch steckt die Kugel im Lauf.
So haben wir Zeit.
Rolf Bossert
IM FRIEDEN
„Schwere Zeiten“
sagte das Blei zum Studenten
„Wie sich’s trifft“
sagte das Blut zum Stein
„Ohne Sorge“
sagte die Ruhe zur Ordnung
„In Gottes Namen“
sagen die Träger zum Sarg
Erich Fried
Es sind lakonisch gebaute Texte. Lakonisch hieß die Rede der Lakedaimonier, die lakonische Kürze bezieht sich auf Kriegszustände, auf Situationen des Zurufs und Abrufs, wo man nicht viele Worte machen kann. Das lakonische Gedicht geht diese Situationen an, die sind ja nicht ausgestorben, lebt, wie das Gedicht von Bossert ironisch sagt, unter der Zuversicht, daß die Kugel noch nicht unterwegs ist. Frieds Gedicht „Im Frieden“ hebt darauf ab, daß sich diese Tonart eigentlich für unsere Zeit nicht gehört. Es geht auf den 2. Juni 1967 zurück, an dem der Student Benno Ohnesorg in Berlin erschossen wurde, was die Studenten-Unruhen eskalieren ließ.
Fried hat im Nachwort zu Befreiung von der Flucht hervorgehoben, daß die Begegnung mit dem Englischen und das meint auch: die Begegnung mit der englischen Literatur ihm „Möglichkeiten zur Erweiterung des Sagbaren“ gegeben habe. Im gehörten Gedicht kommen englische Züge heraus: die personifizierende Einführung von Begriffen; Substantive, die reden und handeln, was nichts weniger demonstriert als die Trennung der Rede vom Subjekt. Fried setzt seine Figurationen dagegen, gerade auch in ganz kurzen Gedichten gut erkennbar, um Sprache, etwa einen Jargon, der weiß, was richtig und falsch ist, wieder an den Menschen zurückzubinden. Die Machart des Gedichtes zeigt die Verhöhnung des Dialogischen, da bleibt nur der Weg zum Tod, zum Sarg, als pseudo-vorbestimmt.
Zugleich ist in der Form auch eine Brecht-Anspielung enthalten, „sagte das Blei zum Studenten“ ist der Zeile nachgebildet „sagte das Weib zum Soldaten“. Brechts „Ballade vom Weib und dem Soldaten“ (in Hauspostille und Mutter Courage), durch die großartige Vertonung von Hanns Eisler besonders hervorgehoben, arbeitet die Absage an „des Weisen Rat“ auch in Dialogform aus, doch noch längst nicht so zynisch wie Fried, auch wenn der Tod des Soldaten vorbereitet ist, als es heißt:
Lacht’ ihr kalt ins Gesicht und ging über die Furt.
Immerhin wird noch mit vielen, von vielen gesprochen, und es ist Krieg. Frieds Gedicht heißt „Im Frieden“, was die Brecht-,Vorlage‘ sarkastisch überbietet.
Wenige Autoren (nennen müßte man vor allem noch Enzensberger und Jandl) haben so eindringlich wie Fried zeigen können, was in und mit der Sprache täglich geschieht, nicht nur an uns, sondern (gravierender eigentlich) vor allem in uns. Ein etwas grausliches Gedicht (aus „Die Freiheit den Mund aufzumachen“) demonstriert uns eine der Weisen, wie Worte aus ihrem Objektstatus, aus ganz verdinglichtem Gebrauch, wieder herausgeholt werden können, zugleich, ganz brechtisch, wie großherzige Redeweise und Schlachtermentalität zusammengehen:
DER AUGENBLICK DES OPFERS
Er ist opferbereit
er steht
zu seinem Opfer
Er versteht
die Notwendigkeit
seines Opfers
Er entschließt sich
nicht mehr zu warten
mit seinem Opfer
Er überwindet die Schwäche
die ihn abhält
von seinem Opfer
Sein Opfer
reißt sich los
und läuft schreiend davon
Erich Fried
Formal wird hier mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs, mit der Bedeutungsveränderung durch die Stellung im Satz (Polyptoton), gearbeitet. Daß das Opfer zunächst immer das Ziel, der Schlußpunkt ist, worüber kein Disput möglich, wird durch die Epipher, die wiederholte Schlußstellung ausgebildet. Um so überraschender die Wendung, als das Opfer an den Beginn des Satzes, in die Subjektstellung, tritt, sich durch Davonlaufen wehrt. Auch hier ist einmal mehr deutlich, wie wenig der Vorhalt ,Gesinnungsästhetik‘ trifft, wie sorgsam die Formsemantik und Fügung des Gedichts mit der Grammatik unserer gesellschaftlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen verschränkt ist.
Ein kleineres Gedicht von einem Rupert Schützbach folgt sozusagen diesem Muster, das den Begriff davonlaufen läßt. Ist es ein Fried-Gedicht?
PROPHETIE
„Die Gerechtigkeit
wird den Sieg
davontragen!“
rief der Parteichef.
Er hatte recht.
Die Gerechtigkeit
trug den Sieg davon
ins gegnerische Lager.
Rupert Schützbach
Sie haben ganz Recht, sollten Sie den Kopf geschüttelt haben: das kann kein Fried-Gedicht sein, das gibt es nicht bei Fried, kann es nicht geben, daß „die Gerechtigkeit“ (!) in einem der Lager, also im gegnerischen, zu Hause ist. Frieds Poetik und Frieds Poesie sind am Kreuzpunkt vieler Wege zu treffen, nicht in einem Lager, nicht bei einem Sieg, nicht einmal auf einem Ausweg. So wäre eher ein anderes Beispiel anzuführen, um das, was ein Fried-Typus in der Lyrik sein könnte, zu belegen. Vielleicht sollte man von der direkten und möglicherweise mißverständlichen Bindung an Erich Fried auch wieder abgehen, und vom angemessenen Typus des gegenwärtigen Zeitgedichts sprechen, das gleichwohl ohne Frieds Brecht weiterführende Leistung nicht zu denken ist; nicht einmal bei Ernst Jandl:
VIELE WEGE
viele wege kreuzen sich in mir
und ich gehe immer
mehrere straßen zugleich.
ich bin arm.
aber es kommt mir vor:
dann wäre ich reich
wenn unter diesen wegen einer
ein ausweg wäre.
viele wege kreuzen sich in mir
und ich gehe immer
mehrere straßen zugleich.
ich bin arm.
aber es kommt mir vor:
dann wäre ich ärmer
wenn unter diesen wegen einer
ein ausweg wäre.
Ernst Jandl
Gewiß kann man von diesem Gedicht behaupten, es sei ein Fried-Gedicht. Ich nehme damit Ernst Jandl nichts weg, er hat noch genug andere Töne auf der Leier, diesen aber auch, und zu konstatieren ist die Verwandtschaft eines Engagements, das Gedicht auf den Weg „hinaus zu den Menschen“ zu befördern, und daß dabei, wie Hölderlin (Patmos-Hymne) es fordert, „gepfleget werde / Der feste Buchstab, und Bestehendes gut / Gedeutet.“ Wie Jandl (ich darf es einmal umkehren), hat auch Fried gern Zwei-Strophen-Gedichte aus der Vertauschung nur eines Worts oder gar eines Buchstabens gearbeitet (man vergl. „Gedichte lesen“ aus Es ist was es ist). Auch das ist mehr als nur ein Beweis von Kunstfertigkeit, reflektiert wahrnehmbar die Bedeutung des Signifikanten, die (moderne Dichtung fundierende) Einsicht, daß Sinn und Wahrheit nicht in einem vorsprachlichen Raum siedeln, sondern auf die sprachliche Artikulation angewiesen sind. Jandls Gedicht geht noch weiter, realisiert die Absage an das (christlich-metaphysische) ,zentristische‘ Denken (Derrida): es gibt nicht „den“ Weg, „die“ Wahrheit, „das“ Leben, es gibt auch keine Ankunft, sondern nur Wege. Die zentrale Hyperbel „ich gehe immer / mehrere straßen zugleich“ meint eine Verfremdungsabsicht über die Glaubwürdigkeit hinaus, dem Lehrbuch zufolge zwecks „Erzeugung wirklichkeitsübersteigender Vorstellungen“ (Lausberg). Die Aufwertung des Weges (der kein Weg zum Ziel, kein Ausweg mehr sein soll) begründet die Würde der Poesie, die eben mehr (und weniger) sagt als „die Wahrheit durch ein Bild“, die vielmehr teilhat an der Erkundung der Prozesse, die unsere Wirklichkeit und das Subjekt allererst konstituieren. Das gilt auch für das Zeitgedicht und für alle engagierte Dichtung, wo sie Form nicht nur als Vehikel für vorbestimmten Inhalt nimmt. Das wahrnehmen zu können/wollen, ist auch eine Kompetenzfrage und setzt ein wenig Bemühung voraus. Ein Beispiel zum Thema Restauration:
DIE INVESTITION
Die Spinne verstummt
der Wind singt in ihren Fäden
die fangen noch Fliegen und Bienen
für ihr Skelett
Je leichter es wird
desto schwerere Vorräte hängen
nahrhaft im Netz
das die Verhungerte spann
Erich Fried
„Die Investition“ ist ein ,skelettiertes Gedicht‘, ein unerhört gescheiter und gebildeter Beitrag zum Thema Restauration, emblematisch gefügt, um ein Fachwort zu gebrauchen. Die Überschrift (Motto) gibt das Thema an, auf das wir das Bild hin verstehen sollen. Die Spinne meint die Situation des Kapitals, das überinvestiert hat, (einer von Sohn-Rethel für den Faschismus verantwortlich gemachten defizitären Kapitalfraktion), eines unter seinen Fixkosten zusammenbrechenden Kapitals, das keinen Markt mehr gewinnen, keine Kolonie erobern, keinen Krieg anzetteln kann. Fried überläßt dem Leser die Subscriptio, die Deutung. Nehmen wir das Gedicht ernst, dann dankten wir der Vereinigung Deutschlands die Minderung von Kriegsgefahr und Faschismustendenzen, denn die Entregelung von Produktion und Markt scheint für ein Jahrzehnt behoben, nehmen wir den gesamten Osten hinzu, läßt sich sagen: für einige Jahrzehnte!
Deshalb hat Frieds immer und überall politisch inspirierte Dichtung doch nichts an Aktualität eingebüßt. Der vor allem von ihm entwickelte Typus des Warngedichts ist in der ökologisch informierten/engagierten Naturlyrik unserer Zeit sehr gebräuchlich geworden. Seinem Gedicht „Dialog in hundert Jahren“ (aus „Es ist was es ist“) ließe sich ein Text von Sarah Kirsch zur Seite setzen, der wiederum seine Information über die Form mitteilt:
BÄUME
Früher sollen sie
Wälder gebildet haben und Vögel
Auch Libellen genannt kleine
Huhnähnliche Wesen, die zu
Singen vermochten schauten herab.
Sarah Kirsch
Es sind Gedichte, die aus dem Futur II zu uns sprechen, aus einer vollendeten Zukunft, die unter gegenwärtigen Bedingungen entworfen wird, aber – das meint „Warngedicht“ – möglichst nicht eintreten darf. Das anrührende Gedicht von Sarah Kirsch zeigt, daß sich dann auch die Sprache verwirrt, daß Erinnerung, als Mnemosyne die Mutter der Musen, haltlos wird.
Es gehört zu den zentralen Formzügen des Zeitgedichts, den Schein von Naturnähe im traditionellen Naturgedicht zu denunzieren. Bert Brecht, Peter Rühmkorf, aber auch noch so unterschiedliche Dichter wie Stephan Hermlin, Paul Celan, Ernst Meister oder Rolf Dieter Brinkmann haben gezeigt, daß der Mensch nur bei der Natur bleibt, indem er aus ihr herausgeht, daß „das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist“ (Robert Spaemann), ja böse. So hat Fried etwa Österreich beim Versuch der Heimkehr als ,unerlöste Natur‘ (so lautet ein romantisches Motiv) wahrgenommen. Sein bitteres Gedicht „Heimkehr“ (in Anfechtungen) meint auch das Verbleiben bei einem naturwüchsigen, und das heißt: restaurativen Naturkonzept, das sich heute zunehmend gegen alle kehrt. So leuchtet es ein, daß Natur im Zeitgedicht möglichst oft wörtlich vorkommt, nicht als Konzept von tragender, heilender Ordnung, nicht metaphorisch, sondern metonymisch, um es mit Fachtermen zu sagen, eine schöne, legitime, sehr zeitgenössische dichterische Möglichkeit, die Metaphern einzuschränken, der poetischen Vernutzung der Natur ein Weilchen zu widerstehen – ein Weg, den Fried häufig gegangen ist. Eine andere Möglichkeit bezeichnet man heute gern mit dem etwas modischen Ausdruck ,Dekonstitution‘. Dabei wird der Konstitution z.B. von Natur-Metaphorik nachgefragt, überlegt, was es heißt, daß diese seit Urzeiten im Schwange ist und in jeder Zeit ihre ganz bestimmte Signatur hat. Spielerisch wird dann diese Ausdrucksform zu Ende gebracht, gelegentlich in der Weise der Parodie oder des Zitats, dann wieder des Überbietens. So hat Fried in dem Hans Mayer gewidmeten Gedicht „Was ist uns Deutschen der Wald?“ die Naturmetaphern als „eine Deckung für Hochgefühle“ denunziert, „die anderwärts nicht mehr gedeckt sind“. In einigen Gedichten (z.B. „Birnenliebe“ aus „Das Nahe suchen“) hat er einen spielerischen Umgang mit Hochgefühlen vorgemacht und gezeigt, daß Natur nicht ohne Ästhetik, ohne unsere Wahrnehmung und Sinngebung zu denken ist. Das läßt sich auch als Dekonstitution des Mythos einer „Göttin Nature, einer für sich bestehenden Natur, deuten. Ein ,Fried-Gedicht‘ von Franz Hodjak, dem rumäniendeutschen Autor, möge einmal mehr auf die Bedeutung der Machart verweisen:
MYTHOS
die füchse stehn schlange um hasen
die hasen stehn schlange um krautfelder
die krautfelder stehn schlange um regen
der regen steht schlange um wolken
die wolken stehn schlange um einen himmel
der himmel steht schlange um einen gott
der gott weiß noch nicht soll er sein oder nicht sein
Franz Hodjak
Dieses Gedicht realisiert (in der Terminologie der Rhetorik) die „gradatio“ oder Klimax, d.i. eine fortgeführte „Anadiplose“ = eine Verkettung der Wörter von Zeilenende zu Zeilenanfang. Dazu kommt die Gleichordnung der Sätze (geminatio) und die Wiederholung einer bestimmten Wortgruppe im Innern (Epanalepse) – im ganzen keine komplizierte Konstruktion (auch wenn sie sich kompliziert beschreiben läßt), sondern eine fast archaische Reihung, die, dem Titel gemäß, die mythische Denkform zitiert und schließlich zu Ende bringt. Erich Frieds großes Gedicht aus dem Vietnam-Band „Der Freiwillige“ ist ganz entsprechend gebaut und entwickelt die Verkettung der Worte als Grenze der Selbstbestimmung des Subjekts, als Fraglichkeit von dessen Freiheit/,Freiwilligkeit‘.
Es macht nicht jedem gleichermaßen Spaß, Fried als einen Formkünstler dargestellt zu sehen, der Gedichtmodelle in ihre Konsequenz brachte, die sich immerhin auch bei anderen Autoren findet. Doch wollen wir nicht vergessen, daß es die nicht erst neuerdings laut gewordenen Anwürfe gegen jede Art von Zeitdichtung sind, die dazu nötigen, auf den Informationswert von Form und Ausdrucksweise deutlicher als sonst üblich abzuheben. Selbst wo es sich um direkten Agitprop handelt, auch den gibt es im Werk Frieds zur Genüge, ist die Verbindung von dessen Formen mit Formmustern politischen Handelns, etwa der Parodie mit dem Umfunktionieren, noch zu bedenken.
Fried legte Wert darauf, daß auch seine Liebesgedichte nicht als Abkehr vom Politischen gesehen würden, was ja auch seinen Begriff oder besser: sein Konzept von Politik mit zu erläutern vermag. Das ist nicht immer gleich geblieben, auch wenn es deutlich Konstanten gab, schon durch den Bezug auf Rosa Luxemburg gewährleistet. Fried ist so radikal (und gewiß nicht immer passend) für die Freiheit der Andersdenkenden eingetreten, daß man sich denken kann: auch seine Liebesgedichte haben einen neuen Ton für diese jahrtausendealte Gattung gefunden. So ist es. Doch auch hier ist wieder gleich zu zeigen, daß es andere – Gleichzeitige und Jüngere – gibt, die uns belehren können, daß Erich Fried nicht allein war, auch nicht auf diesem Wege. Drei Beispiele:
DIESES GEDICHT
Dieses Gedicht macht mir Schwierigkeiten.
Es ist aus der Küche die Stimme von dir.
Richard Wagner
LIEBE
Manchmal schlägt sie die Augen auf
Ich darf hineinsehen
Die Hände öffnend zeigt sie
Mir kurzatmig mein Herz
Unter Zerreißprobe
Das Zitronenblatt der Melisse
Legt sie auf meine Zunge
Stimmlos
Lösend
Will nicht gerufen sein
Christiane Grosz
LIEGEN, BEI DIR
ich liege bei dir, deine arme
halten mich. deine arme
halten mehr als ich bin.
deine arme halten, was ich bin
wenn ich bei dir liege und
deine arme mich halten.
Ernst Jandl
Deutlich ist, daß der Brecht-Friedsche Ton nicht aufs Zeitgedicht beschränkt blieb. Richard Wagners Gedicht gehört zur aphoristisch-epigrammatischen Gattung, realisiert zugleich Lyrik im romantischen Sinne als Andeutungsrede, im Brechtschen Sinn als gestische Rede. Das Gedicht wird ausgespart, indem der alltäglichen Sprachform gefolgt wird, etwa: Deine Stimme ist ein Gedicht, was man gern für Gerichte sagt, weshalb der Ort Küche auch gut paßt. Erich Fried hat gern solchen ,Einbruch der Wirklichkeit‘ in seine Gedichte mit hineingenommen. Die Ostberliner Töpferin Christiane Grosz arbeitet mit der Periphrase/Antonomasie, einer Umschreibungstechnik, Liebe taucht nur im Titel auf, „will nicht gerufen sein“. Jandls Gedicht arbeitet mit Tautologien, wie fast alle Liebesgedichte Frieds, einer besonders taktvollen und schönen Figuration, die jede begriffliche Ableitung und definitorische ,Erklärung‘ abweist. Hier bildet die Wiederholung (die Umklammerung) sogar noch das Halten ab.
Eine solche Lyrik realisiert das denkbar vorsichtigste Poesie-Programm: die Andeutungsrede, die dem Leser sowohl Mitdenken wie Mitfühlen abverlangt. (Bertolt Brecht: „Ist das lyrische Vorhaben ein glückliches, dann arbeiten Gefühl und Verstand völlig im Einklang. Sie rufen sich förmlich zu: Entscheide du!“ In: „Der Lyriker braucht die Vernunft nicht zu fürchten.“) So ist deutlich, daß auch Frieds im engeren Sinn politischen Gedichte keine Partei-Gedichte sein konnten – auch in ihnen ist die Frageform präsent geblieben. Aber nicht ausschließlich: es gibt Schimpfgedichte von geradezu alttestamentlicher Wut, und vor allem böse Grotesken, in denen die Entstellungen, die zum täglichen Dasein in unserer Welt gehören, sarkastisch ausgestellt sind. Auch diesen Weg geht Fried nicht allein. Vor allem in der DDR-Lyrik (etwa bei Volker Braun, auch Richard Pietraß oder Elke Erb) und in der rumäniendeutschen Lyrik, die von der sogenannten mittleren Generation der DDR-Autoren stark beeinflußt wurde, gibt es aussagekräftige Parallelen. Für die gute Nachbarschaft im Bösen ließen sich zwei so gut wie gleichzeitige Gedichte nennen, die das Groteske, als ästhetische Kategorie tradiert, in wörtlicher Bedrohlichkeit und sarkastischem Understatement (als Parodie auf zugemutete Heroik) zeigen: Frieds an Georg Büchners Danton anschließendes Gedicht „Entkleidungen“ (aus Beunruhigungen) und dem unüberbietbar sarkastischen Text von Jandl:
WAS SIE DIR TUN KÖNNEN
was können sie dir tun?
dir die zunge ausreißen.
ein besonderer redner warst du nie.
dir die augen ausstechen.
hast du nicht genug gesehen?
dich deiner mannbarkeit berauben.
viel hast du als mann nicht gegolten.
deine finger abtragen.
du solltest ohnehin nicht in der nase bohren.
dir die füße abhacken.
in deinem alter wird man seßhaft.
dich bis zum irrsinn foltern.
für verrückt wurdest du schon längst gehalten.
Ernst Jandl
Das Titelgedicht von Frieds Band Die Freiheit den Mund aufzumachen ist ähnlich geschmacklos in seiner Beschreibung, was alles in verschlossene Münder geflößt wird, um sie dann wieder aufzubekommen. Die Verletzung des guten Geschmacks, so sagt es die Theorie der Groteske, zeigt die Welt als uns entfremdet an, „der lauteste und sinnfälligste Widerspruch“, so Wolfgang Kayser vor vielen Jahrzehnten, gegen die herrschende Vernunft, mit deren Absurdität kaum ein Spiel möglich ist. (Peter Waterhouse hat es in seinen Gedichtbänden Menz und passim dieser Jahre gleichwohl versucht.) Aber möglich sind doch Worte und Texte, die mehr sind als bloße Zeugnisse einer guten Gesinnung. Achten wir darauf, wie vorsichtig und entschieden zugleich Fried (in „Es ist was es ist“) seinen AnSpruch bestimmt:
ABER VIELLEICHT
Meine großen Worte
werden mich nicht vor dem Tod schützen
und meine kleinen Worte
werden mich nicht vor dem Tod schützen
überhaupt kein Wort
auch nicht das Schweigen zwischen
den großen und kleinen Worten
wird mich vor dem Tod schützen
Aber vielleicht werden einige
von diesen Worten
und vielleicht
besonders die kleineren
oder auch nur das Schweigen
zwischen den Worten
einige vor dem Tod schützen
wenn ich tot bin
Ernst Jandl
Der Titel des Vortrags machte ein großes Versprechen, das ich gewiß nicht recht eingelöst habe: Fried und die Folgen. Das ist ja ein mehrdeutiger Titel. Folgen bei den Lesern? Es gibt viele Hinweise darauf, daß wir es hier mit einem besonders wirkungsmächtigen Werk zu tun haben; ich denke, daß die Fried-Gesellschaft davon genauer Zeugnis ablegen kann, sobald die Mitglieder-Arbeit in Gang gekommen ist. Folgen im Politischen? Man könnte auf Einzelfälle verweisen, wo Frieds gezielte Provokationen etwas ausgerichtet haben, die Situation (Welt ist ein großes Wort) nicht ganz so gelassen haben, wie sie vorgefunden wurde. Die vielen Formen, die sein Sich-Einschalten kennzeichnen, haben die Möglichkeiten, in die Politik, ja Welt als Sprachwirklichkeit hinein zu sprechen, ganz erheblich erweitert und sind noch lange nicht ausgereizt. Folgen für Autoren? Erhebliche. Das ließe sich an noch viel mehr Beispielen zeigen, auch von so ganz ,anderen‘ Autoren wie Robert Schindel oder Werner Söllner.
Wenn nun auch beide Autoren (und das gilt gewiß für alle zitierten) ungern auf ihre Originalität verzichten werden, (was ich gar nicht zumuten will), sei doch auf den Typus von Spracharbeit hingewiesen, auf den behutsamen Gestus der Andeutungsrede, „nicht neu und nicht eigentlich lustig“ (Schindel), aber doch zum Leben ratend (Söllner) – das könnte bei Fried gelernt sein.
Wichtiger aber als die Erforschung von Abhängigkeiten ist der Eindruck, daß Fried einen Typus der modernen Lyrik entwickelt hat, der „ohne die Notdurft zum Gleichnis“ (so sagt es Uwe Kolbe) auskommen möchte und auskommen kann. Sein Gedicht „Lebenslauf“ sagt jeder übersetzenden Rede ab, besteht auf Wörtlichkeit als der Rede, die gegenwärtig am ehesten Menschlichkeit zuläßt – und darauf kommt es doch an!
Ich war kein Stein keine Wolke
keine Glocke und keine Laute
geschlagen von einem Engel oder von einem Teufel
Ich war von Anfang an nichts als ein Mensch
und will auch nicht etwas anderes sein
Alexander von Bormann, aus Alexander von Bormann (Hrsg.): Die Schriftsteller und die Restauration, Verlag Jürgen Häusser, 1991
Kindheit und Knabenzeit verbrachte Erich Fried, ebenso wie wie ich, hier in Wien. Diese Stadt, und sonst nichts, hatten wir gemeinsam. Wie er sie sah, wie er sie erlebte, ist mir unbekannt. 1938 wurde er siebzehn, ich dreizehn. Flucht als Thema muß für ihn schon durch Jahre vorhanden gewesen sein, ehe sie plötzlich als einzige und letzte Möglichkeit für ihn feststand. Sein Altersvorsprung von vier Jahren war seine Rettung.
Flucht als Thema existierte für mich nicht. Der Nationalsozialismus erschien mir fürs erste als ein Triumph der Gewalt, den ich zu meiner internen Befreiung nutzbar machen wollte, gegen den eisernen Griff meiner Mutter auf Körper und Seele und, damit im Zusammenhang, gegen den mir damals längst unerträglichen katholischen Denkzwang.
Die Erfahrung neuen Zwanges stand unmittelbar bevor, gefolgt von einer Jugend, in welcher ein Jahr in amerikanischer Kriegsgefangenschaft das Höchstmaß an Freiheit bedeutete.
1952 standen Erich Fried und ich einander erstmals gegenüber, in London, ich siebenundzwanzig, er einunddreißig, und beide einander bis dahin nicht einmal als Namen bekannt.
Die Beschaffenheit und die Lage der Dichtkunst in Österreich galt uns als kläglich. Der Name, auf den wir uns augenblicklich in Zustimmung einigten, war Andreas Okopenko.
Zu Begegnungen kam es nicht oft, und nach meinem Jahr in England nur noch zufällig. Noch durch Jahre kostete es Mühe, zur formlosen Anrede und zum freundschaftlichen „du“ zu gelangen. Was folgt, sind wir, hier und jetzt. Wer tot ist, ist zurückgekehrt in die absolute Stille. Ein ganzes tapferes Leben hindurch hat Erich Fried mit mächtiger Stimme für den guten Weg des Menschen geworben. Das einmalig Kostbare, von seinem Herzen und seinem Hirn produziert, hat er kraft seiner Sprachkunst haltbar gemacht, und es gibt uns Halt. In sein für immer dauerndes Schweigen hinein, und aus diesem heraus, rufe ich, ohne seine tiefe Ruhe auch nur mit einem Hauch berühren zu können, in Sorge um unsere geschundene Welt nach Frieden, Freiheit, Liebe – nicht nach ein wenig mehr davon, sondern nach allem davon; denn sie sind, jedes der drei, unteilbar: der Friede, die Freiheit, die Liebe.
Ernst Jandl, in Ernst Jandl: lechts und rinks. Gedichte, statements, peppermints, Sammlung Luchterhand, 1995
Lesung von Erich Fried am 25.9.1986 im Literarischen Colloquium Berlin
Hannelore Schlaffer: Erich Fried und Marc Anton, Merkur, Heft 569, August 1996
Herta Beck: Besuch bei Erich Fried
Klaus Wagenbach und Erich Schwarz Lesung zum 72. Geburtstag von Erich Fried am 6.5.1993 in der Werkstatt der Staatlichen Schauspielbühne Berlin.
Detlef Berentzen: Ein gebrauchter Dichter. Eine Textcollage zum 15. Todestag von Erich Fried
Christiane Jessen, Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach (Hrsg.): ERICH FRIED. Eine Chronik. Leben und Werk: Das biographische Lesebuch
Erich Fried Tage – Internationales Literaturfestival
Erich Fried – Wir sind ein Tun aus Ton
3sat.de, 2.5.2021
Rolf Becker für Erich Fried zum 100.
YouTube, 6.5.2021
Alexander Knief: Grass-Stiftung zeigt digitale Schau zu Erich Fried
Weser Kurier, 3.5.2021
Stefan Siegert: Schau’s dir an!
junge Welt, 14.4.2021
Joachim Leitner: Dem Zweifel zweifelnd trotzen
Tiroler Tageszeitung, 4.5.2021
Jürg Halter: Als Politdichter, Liebesdichter oder Erinnerungsdichter: Sagen, was ist – mit Erich Fried
Tagblatt, 5.5.2021
Björn Hayer: Erich Fried zum 100. Geburtstag: Liebe, und immer wieder Liebe
Frankfurter Rundschau, 5.5.2021
Moritz Gathmann: „Lieber Michael Kühnen…“
Cicero, 6.5.2021
Beatrix Novy: Verzweifelter Humanist zwischen zwei Sprachen
Deutschlandfunk, 6.5.2021
Jan Süselbeck: Der unversöhnliche Philanthrop
taz, 6.5.2021
Klaus Bellin: Verse gegen Lüge, Unrecht und Gewalt
neues deutschland, 5.5.2021
Jens Dirksen: Erich Fried schuf Poesie aus radikaler Opposition heraus
WAZ, 5.5.2021
Bernadette Conrad: Kunst zur Veränderung der Welt
Berliner Zeitung, 6.5.2021
Thomas Wagner: Der Stören-Fried
Die Welt, 6.5.2021
Hubert Spiegel: Der Überlebenshilfekünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2021
Caroline Fetscher: „Man muß mit jedem reden“
Der Tagesspiegel, 6.5.2021
Erich Fried Liebesgedichte vorgetragen von Frank Hoffmann mit dem Jazztrio mg3.
Nachruf auf Erich Fried
Als Verleger Erich Frieds möchte ich etwas über seine Arbeit als Schriftsteller sagen. So habe ich ihn ja auch kennengelernt, als jemand, der diesen Beruf sehr ernst nahm.
Das drückte sich in vielem aus, zu allererst in der Kenntnis der Arbeit von Kollegen. Es begann mit Gryphius und hörte mit Trakl keineswegs auf, sondern wurde, schon von der Goethezeit an, förmlich immer dichter; von der gegenwärtigen Literatur kannte er praktisch alles, vieles auch auswendig – Celan, Bachmann,Jandl, Born. Und es beschränkte sich keineswegs auf die E-Literatur: Kinderreime, Schlager, mißratene Gedichte seines Vaters, Limericks – jede Form gebundener Sprache übte offensichtlich eine große Faszination auf ihn aus, blieb in seinem schönen Nilpferdkopf mit den wunderbar leuchtenden Augen hängen und konnte stets abgerufen werden mit einer Stentorstimme, die jedem Mikrophon seine Überflüssigkeit bewies und jedem Wort das Gegenteil: Nichts wurde verschliffen, unterdrückt oder beiseite gesprochen, alles stand klar und deutlich für sich. Auch mit dieser Art des Rezitierens zeigte Erich Fried seinen Respekt vor der Literatur.
Charakteristischerweise konnte er von seinen eigenen Gedichten kaum eines auswendig, wußte manchmal nicht einmal den Titel und fragte dann irritiert: „Na, wie heißt denn das Zeug?“ Das hatte, ganz deutlich, zwei Gründe. Einmal sein uneitles, ganz und gar praktisches Verhältnis zu seiner schriftstellerischen Arbeit. Zweitens aber war für ihn jede letzte Fassung eines Gedichts immer nur eine vorletzte, jede Anordnung innerhalb eines Bandes nur eine vorläufige, jeder Titel nur ein Vorschlag. So haben wir bei jedem der über zwanzig Bücher, die ich veröffentlichen durfte, viele Stunden telefoniert oder diskutiert über manchen einzelnen Wortlaut, über die Auswahl, die Anordnung oder den Titel.
Andererseits: Wie kamen die Manuskripte an! Auf der Rückseite von Formularen oder Wurfsendungen, auf gelbem, hellgrünem oder überraschenderweise auch weißem Papier, oft drei oder vier Gedichte auf einem Blatt, dann aber öfters beziffert, um den gedachten Stand innerhalb des Bandes zu bezeichnen. Oder mit vertauschten Strophen, samt einer richtigstellenden Bezifferung am Rand und, sicherheitshalber, einer Wiederholung am Fuß der Seite. Oft übersät von Korrekturen mit kräftigem Filzstift über dem ursprünglichen Text, und falls das nicht ausreichte, griff er zum äußersten Mittel: Die gesamte Strophe wurde mit Leukoplast überklebt.
Ich habe mehrere Jahre gebraucht, Erich die Erfindung von Tipp-Ex nahezubringen, obwohl er ja sonst selbst ein großer Erfinder war – ich erinnere an seine Fähigkeit, aus drei dem Sperrmüll entrissenen Drehstühlen einen funktionsfähigen herzustellen, eine Schreibmaschine auch ohne Rückzugsfeder in Gang zu halten, oder an ein gewisses, in den österreichischen Archiven vielleicht noch auffindbares Patent für dauerhaftere Glühlampensockel…
Und schließlich: Die regelmäßige Vor-Freude im Verlag, wenn telefonisch die Absendung eines Manuskripts angezeigt worden war! Noch bevor es eintraf, kamen die ersten Korrekturen, telefonisch oder telegraphisch oder mit Eilpost. Und erst nach dem Eintreffen! Weitere Eilposten, reitende Boten, nächtliche Telefonate!
Warum erzähle ich das?
Weil ich aufmerksam machen möchte auf Erich Fried als literarischen Arbeiter, als der er mir um so mehr entgegentrat, weil wir ja politisch kaum Meinungsdifferenzen hatten. So gehörte es zu meinen widerlichsten Erfahrungen als Verleger, immer wieder erleben zu müssen, wie nach Erscheinen der Bücher politische Angriffe als literarische getarnt wurden, beginnend schon bei den Vietnamgedichten (1966), mit Haßausbrüchen von Kollegen, über Ausdrücke wie „Mörderpoesie“, bis zu einem sogenannten Nachruf, in dem ein Kollege, der Fried viel zu verdanken hat, seine Gedichte als „Gedachte“ bezeichnet. Angriffe auf die Ästhetik, um damit die Inhalte zu disqualifizieren.
Es wird aber anders kommen. Ein Blick in die über zwanzig Jahre alten Vietnamgedichte zeigt, wie beständig ihr Lakonismus geblieben ist:
Das sind Todesursachen
zu schreiben auf unsere Gräber
die nicht mehr gegraben werden
wenn das die Ursachen sind
Es wird bleiben die Form des Gedankenspruchs, mit der Fried angefangen hat, es werden bleiben die spracherfinderischen, die sprachspielerischen Gedichte wie „Leilied bei Ungewinster“, es werden bleiben die dialektischen Gedichte wie „Angst und Zweifel“, es wird bleiben die große Gedankenlyrik mit jenem unverwechselbaren Einschluß des Zweifels an allem Machbaren, wie „Hölderlin an Sinclair“, „Was es ist“ oder „Trakl-Haus, Salzburg“.
Und selbstverständlich wird ein Geschenk Erich Frieds an die deutsche Literatur bleiben, das von den Lesern immer noch nicht angemessen erkannt worden ist: seine Shakespeare-Übersetzungen, insgesamt 27 Stücke, mehr als Schlegel und Tieck jemals übersetzt haben.
Es werden aber auch viele der politisch eingreifenden, „Öffentlichen“ Gedichte bleiben, die der Großen Klage (wie „Höre, Israel“) wie die der Aufklärung (wie „Karl Marx 1983“), insbesondere diejenigen, die beides miteinander verbinden, wie etwa ein riesiges Prosa-Gedicht aus dem Nachlaß mit dem Titel „Nachwissen?“.
Es denkt darüber nach, warum Jean Amery sich getötet hat: Wissen hat ihn umgebracht. Aber das Gedicht teilt noch mehr mit, was Jean Amery nicht wußte: Und fragt uns.
Klaus Wagenbach, aus: Das schwarze Brett, Verlag Klaus Wagenbach, 1989
Hallo! Könnten Sie mir die vollständigen Gedichte Sarah Kirsch über die Natur zusenden?
… das können wir leider nicht…