UNTERWEGS
Unterwegs messen wir die Strecke den Bogen
Lampen nach, den Protuberanzen bergauf
dröhnender Karawanen: ferngelenkt, funkelnd, leer
wie der Satellit, der uns die Zeit nimmt
messen wir unsere nach
dem Tempo des Mondes. Beim Richtungswechsel
irritiert uns der Gedanke an absolute Bewegung.
Als sei die Straße eine schwarz anlaufende
Zone unseres Gedächtnisses und wir nicht
Teil des Prinzips der Verbrennung
rast unser Gehäuse, eine verrückte Uhr.
Links rechts links gegen jeden Sinn
die schnellen Felder
erinnern an uns: Fluchtpunkte
in die Falten irgendeines Plans gerieben.
Sylvia Geist
Als Anfang der 1990er-Jahre der langjährige Leiter des „Kreises Südtiroler Autoren“ im Südtiroler Künstlerbund, Alfred Gruber, Meran in eine Oase des deutschen Gedichts verwandeln wollte, waren ihm 100 Jahre zuvor nicht nur Rainer Maria Rilke und Christian Morgenstern zuvorgekommen: In den Wirren der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts dann Gertrud von le Fort und Ezra Pound, und in der von den Verwüstungen des II. Weltkrieges kaum getroffene Kleinstadt schließlich Gottfried Benn und Wilhelm Lehmann. Sie alle haben einen lyrischen Text der Stadt gesponnen, haben ihren voralpinen Reiz und die Milde der Luft gespürt, die einen ihrer angegriffenen Bronchien wegen, die anderen, weil sie aus Nazideutschland geflüchtet waren oder sich irgendwo absetzen wollten, um das gerade noch gerettete Vermögen zu sichern, oder schlussendlich nur in Ruhe leben zu wollen. Alfred Grubers Traum wurde dann tatsächlich am 9. Juni 1993 wahr, im „Pavillon de Fleurs“, im einzigen Jugendstilkulturhaus unseres Landes. Der „Lyrikpreis der Stadt Meran“ indes sollte ein breites Diskussionsforum für deutsche Lyrik werden. Der ehemalige Bürgermeister der Stadt, Franz Alber, und der Lehrstuhlinhaber für neuere deutsche Literaturwissenschaft und jetzige Leiter des Forschungsinstitutes „Brenner-Archiv“ an der Universität Innsbruck, Johann Holzner, standen Alfred Gruber als Geburtshelfer zur Seite. Angesichts der über 5000 eingesandten Gedichte kann das Interesse als überwältigend bezeichnet werden. Die erste Jury setzte sich aus dem Basler Dieter Fringeli, dem aus Salzburg stammenden Germanisten Hans Höller, dem Germanisten Johann Holzner aus Innsbruck, der Kulturpublizistin und Autorin Inga Hosp aus Klobenstein und der namhaften deutschen Lyrikerin Sarah Kirsch zusammen. Das Spezifische an der ersten Ausgabe war letztendlich die Debatte um die in Meran gelesenen Gedichte, eine Debatte, die von Sarah Kirsch dominiert wurde. 15 Finalisten stellten sich dem Urteil der Jury, darunter heute bedeutende Autoren wie Kurt Drawert und Kerstin Hensel. Als Kurt Drawert sein letztes Gedicht „Heimatgedicht C-Dur“ im Stakkato-Ton vorgelesen hatte, wussten alle im Saal, hier steht wohl der Sieger des ersten Lyrikpreises Meran fest. Die in Drawerts Versen verschlossene Biographie der Unaufdringlichkeit und Ökonomie der Wörter bestachen nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines heute wohl verblassenden Themas, die die deutsche Literatur seit den sechziger Jahren ausmacht: die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands. Der in Hennigsdorf geborene und am Leipziger Literaturinstitut poetisch „geschulte“ Drawert hat den Ton angegeben und den Lyrikpreis durch seinen kurz darauf errungenen Sieg im Klagenfurter Bachmann-Preis plötzlich ins Rampenlicht gerückt. Man konnte also am Konzept von „Lyrik im Gespräch“ weiterdenken…
Ferruccio Delle Cave, Aus dem Vorwort
Liest man sich die Namenliste mit den 99 Finalisten der letzten 9 Ausgaben des Meraner Lyrikpreises aufmerksam durch, muss man sich eines vergegenwärtigen: Die in diesem Band abgedruckten Gedichte der Siegerinnen und Sieger sind das Ergebnis einer Selektion von über 50.000 eingereichten Texten. Insgesamt wurden 1.000 dieser 5.000 Texte in Meran vorgetragen, damit am Schluss der jeweiligen Ausgabe die Sieger ermittelt werden konnten – ein Spießrutenlauf über Vorjury und Hauptjury, von der Quantität hin zur Qualität. Viele andere deutsche Kulturstädte, die in dem vergangenen Jahrzehnt die Marke „Literaturpreis“ für ihre Stadt entdeckt haben, blicken heute neidisch auf den eingespielten Ablauf der hochkarätig besetzten Meraner Veranstaltung. Dank einer besonderen Passion für Literatur und dem unermüdlichen Einsatz, die lokalen kulturpolitischen Mühlen zu überzeugen, setzte sich Alfred Gruber, der Gründer der Dokumentationsstelle für neuere Südtiroler Literatur, im Jahr 1993 selbst ein Denkmal – er initiierte die erste Ausgabe des Lyrikpreises Meran, in jener Stadt, in welcher immer wieder namhafte Literaten – von Franz Kafka über Christian Morgenstern bis Thomas Mann – Literatur entstehen ließen. Mit Alfred Grubers Bestrebungen sollte die Liste jener Dichter und Denker, die in Meran geschrieben und vorgetragen haben, fortgeführt werden. Zwar haben einige wichtige Namen der Gegenwartsliteratur den Einzug in das Meraner Finale des Lyrikpreises nicht geschafft, insbesondere unter den Finalisten finden sich allerdings viele bedeutende Lyriker, deren eingesandte Wettbewerbstexte in diesem Band aufgelistet werden. 10 Sieger hat es in den letzten 9 Ausgaben gegeben und die besten 50 Gedichte vermitteln wohl am eindrucksvollsten welche Vielfalt an Themen und Ausdrucksformen von Lyrik für den Leser spürbar werden. Die 9 Handreichungen von Christoph Buchwald geben gekonnt eine Hilfestellung für lyrische Neueinsteiger, können aber auch als Ergänzung für Fortgeschrittene und Experten gelesen werden.
Damit das Gedicht im wahrsten Sinne des Wortes etwas zu sagen hat, liegt dem Band eine Hör-CD bei. Dabei handelt es sich vor allem um Originalaufnahmen der bereits ausgetragenen Veranstaltungen. Lediglich die Preisträger Kathrin Schmidt, Kurt Drawert und Sepp Mall mussten ihre Gedichte nachträglich neu lesen, da die Audioqualität sehr schlecht oder aber eine Aufnahme gar nicht erst vorhanden war. Ulrike A. Sandig hat ihre Texte ebenfalls neu eingelesen, da ihre Originalaufnahme aus dem Jahr 2006 ziemlich mit volkstümlichen Schlagerklängen einer Parallelveranstaltung untermalt worden war. Zwar bleibt diese Originallesung mit Sicherheit ein historisch wertvolles Dokument, für diese CD-Ausgabe muss die Lesung im ungewollten Duo mit Albano Carrisi und seiner lyrischen Aufarbeitung des Begriffs Felicità im Archiv bleiben. Auch Lutz Seiler, der Sieger des Lyrikpreises 2000, hat seine in Meran gelesenen Gedichte für die Hör-CD vor der zeitrechnung neu eingelesen…
Martin Hanni, Aus dem Nachwort
Der Lyrikpreis Meran hat sich seit seiner ersten Auflage 1993 als wichtige Literaturauszeichnung im deutschsprachigen Raum etabliert. Er ist mittlerweile zu einem bedeutenden Diskussionsforum für zeitgenössische deutsche Lyrik geworden – mit einem Augenmerk auf sprachschürfende Stimmen der jungen und mittleren Generation. Im vorliegenden Band sind die bisherigen Preisträger mit ausgewählten Gedichten versammelt: Kurt Drawert, Kathrin Schmidt, Sepp Mall, Jürgen Nendza, Lutz Seiler, Oswald Egger, Sylvia Geist, Michael Donhauser, Ulrike A. Sandig, Martina Hefter. Sie alle haben längst einen fixen Platz in der neuen deutschen Literatur inne.
Die abgedruckten Texte sind auf einer beigelegten CD zu hören, teils als Originalaufnahme, teils von den Autorinnen und Autoren eigens für diesen Band neu gelesen.
Folio Verlag, Ankündigung, 2010
Was trocken unter dem Titel Dokumentation läuft, ist vielleicht die aufregendste Lyrik-Sammlung des ganzen Jahres.
Die Stadt Meran hat es mittlerweile geschafft, einer der größten Lyrik-Knotenpunkte der Gegenwartsliteratur zu werden. Angeregt durch den alle zwei Jahre ausgerufenen Lyrikpreis Meran sind in den letzten zwanzig Jahren etwa 50.000 Texte in den Süden des deutschen Sprachraums geschickt worden, etwa tausend dieser Texte kamen zur Aufführung, die Preisträger kommen in dieser Dokumentation mit ihren Siegertexten zu Wort.
Man merkt es den Gedichten an, dass sie die Creme einer gigantischen Melange sind, individuell, einzigartig, zeitprägend.
In einer Art „Gebrauchsanweisung“ gibt Christoph Buchwald neun Handreichungen, wie man Gedichte lesen könnte.
Mit Gedichten ist es ähnlich wie mit Jazz: häufiger Umgang erhöhen [sic!] das Vergnügen und die Orientierung erheblich. (S. 15)
Unter den Ausgewählten finden sich Kaliber wie Kurt Drawert, Kathrin Schmidt, Sepp Mall, Lutz Seiler oder Oswald Egger.
HERZWECHSEL
aus meinen kindern werden frontgeburten
im kahlen rückblick. die geschosse
ziehn aus dem schleim zurück ins eingemachte.
ein böser bub, der dir ins leibchen stieg,
besorgt den späteren etappensieg. […] (S. 38)
In Kathrin Schmids Gedicht aus dem Jahr 1994 kommt es zu einem offenen Gefühlswechsel. Eine Frau verändert ihr Wertesystem und zieht gegen die falschen Gefühle in den Krieg. Oft sind es solche Gedichte, die eine ganze Gefühlslage aus einem Jahr zusammenfassen.
Zwei Jahre später heißt es 1996 in Sepp Malls wundersamer Lyrik:
Wo ich herkomme
ist der Winter keine Jahreszeit
sondern ein Zustand
die im Speichel fest-
gefrorenen Zungen
lösen sich einmal im Jahr
Wie
soll ich erklären
was mir ein Wort bedeutet
wie Frühling
Die Tiere
die über die Erde ziehn
und sterben
ohne Laut
stehn uns am nächsten
Und die Dinge
unverrückbar
in ihrem Schweigen
singen dein Lied (S. 49)
Der Herausgeber dieser Dokumentation, Ferruccio Delle Cave, beschreibt, wie es zu diesem mittlerweile unverzichtbaren Lyrik-Festpunkt gekommen ist. Dabei wird an den Gründer Alfred Gruber gedacht, der aus all seiner literarischen Skurrilität heraus pfeilgerade etwas Zeitloses initiiert hat: Den Lyrikpreis Meran.
In einer beigelegten CD sind die Autoren lebhaft mit ihren Gedichten bei der Originalpräsentation zu hören. An einigen Stellen war die Originalaufnahme vom Südtiroler Alltags-Sound freilich so versaut, dass diese Gedichte neu nachgesprochen werden mussten.
Helmuth Schönauer, aus Helmuth Schönauer: Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. IV, 2009–2012, Sisyphus, 2016
Hier im Text wird zu beginn Christian Morgenstern als Aufhänger für die Entstehung des Lyripreises genannt, wenn ich das richtig verstanden habe.
Welche Rolle spielt nun Morgenstern weiterhin beim Lyrikpreis, den veranstaltungen und Veröffentlichungen?
Achim Risch
Christian Morgenstern wird in diesem Zusammenhang nur als Dichter genannt, der schon vor hundert Jahren Lyrik in den Ort Meran gebracht hat. Wie man sich das genau vorstellen muß kann ich nicht beurteilen. Da müßte man sich an die Meraner Organisatoren wenden. Vielleicht hat er dort Zwischenstation auf einer Lesereise gemacht oder Gedichte über die Gegend geschrieben. Beim Lyrikpreis und den dazugehörigen Veranstaltungen und Veröffentlichungen spielt Morgenstern wohl keine Rolle.