NOTAUSGANG
Meine Not meine Bewacherin
geht spazieren
Aber damit
ist sie nicht aus
Sie kehrt zurück
in spanischen Stiefeln
oder dem tödlichen Rat
fortan
das Wort Tod zu meiden
Entfernt sich
mich genauer zu treffen
Ich sitze mit meinem Bleistift
und weiß nicht
durch die Hintertür welchen Gedichts
ich diesmal entkomme
Die meisten meiner Gedichte sind (im weitesten Sinn) erfahren oder, auch das fügte sich, erahnt als künftige Erfahrung, die ich mit Hilfe des Gedichts zu bewältigen suche, um im Augenblick des Ernstes gefaßter zu sein.
Mancher wird Geschlossenheit vermissen, einen persönlichen Stil. Ihm entgegne ich, daß mir der Schneid fehlt, eine mir zugefallene Entdeckung zu patentieren und lebenslänglich auszubeuten. Ich versuche, mich beständig zu erneuern, ohne mit dem folgenden Schritt den vorhergehenden zurückzunehmen. Dennoch hoffe ich, daß meine Schritte kürzer werden und daß der Mensch der Stil sein möge.
Schließlich: die mich kennen, werden sagen: dich trafen wir fröhlicher. Ihnen muß ich recht geben und eingestehen, daß es mir nicht gelingt, beide Seiten meines Wesens gleichermaßen einzubringen. Und womöglich benötige ich nur eine Stütze für das schwächere Bein, wie vielleicht auch meine Gedichte eher von den Schwächeren, Gezeichneten gebraucht werden.
Richard Pietraß, Nachwort
Während der Spätsommer Staffeln von Wellen über den Bodden treibt und den Inselhorizont schärft, versuche ich, mich in die verschwimmenden Zeilen meines, vor einem Vierteljahrhundert. erschienenen, Debütbands Notausgang zu versenken. Entgrenzen oder Sondieren, Aufbruch zu anderen Ufern oder Rückkehr zum wendeverlassenen ? Der Spagat schmerzt und findet mich hilf- und lustlos. Was hindert mich, die Schleusen der Erinnerung zu öffnen, um möglichst getreu die Umstände und Ereignisse der siebziger Jahre auftauchen zu lassen? Obwohl ich eine Zuwendung zu meinen frühen Texten nicht als hochnotpeinlich empfinde, erlebe ich die auferlegte Wiederbegegnung eher als verstörend denn stärkend. Konfrontiert sie mich doch mit einem Menschen, der ich nur noch teilweise bin: einem ernsten, strengen, der die Elle des Ideals an das Tischtuch der Gesellschaft anlegte. Einem Dulder, gewillt, das System auszusitzen, sich nicht von ihm vertreiben zu lassen, fort aus der sächsischen Behelfsheimat ostpreußischer Flüchtlinge, weg von den Eltern, Geschwistern und Freunden. Beharrender Trotz mit der Hoffnung auf bessere Tage, wie sie deutsch-deutsche Verhandlungen und die Korbflechterei· Helsinki zu versprechen schienen. Größte damalige Demütigung: die bis ins Alter verwehrte Reisefreiheit. Größtes Glück: die Erfahrung der Liebe und das Einwachsen in die Welt der Poesie. Schwäche: die Rolle des Zeugen, der sich aber gefordert fühlt, Tabus zu brechen und den Finger auf die Wunden zulegen. Wer war ich als Berliner Student der klinischen Psychologie und als Verlagslektor der Jahre 1975 bis 1979? Ein melancholischer Windhund, ein nachholender Hungerleider, der in der Kantine schwelgte, schon neun Uhr morgens Bauernfrühstück von drei Eiern verschlang und mittags statt Schnitzel oder Braten einfach beides. Der, in Laienzirkeln angestachelt, sich die Weltdichtung einverleibte, auf Parkbänken poetische Messen feierte und pilgernd die Nähe zu den charismatischen Alten wie Erich Arendt, Stephan Hermlin und Franz Fühmann suchte. Der als Endzwanziger durch Bernd Jentzsch den Ritterschlag eines Poesiealbums erhielt. War dieses der in den märkischen Sand geworfene Handschuh eines echosüchtigen Talents, wurde sechs Jahre später, ein Jahr nach meinem politischen Hinauswurf aus dem Verlag Neues Leben, Notausgang mein eigentliches Debüt: selbst zusammengestellt, geordnet und betitelt. Freilich ausgekämmt vom Blechkamm der verlagsinternen Zensur, die das Manuskript um sechs der sechzig Gedichte amputierte. Doch bangte ich noch um den Torso. Und tatsächlich stand der Band auf der Kippe. „Haben wir es nötig, uns dieses Kuckucksei ins Nest zu holen?“ fragte die Cheflektorin. Und ich will es noch immer kaum glauben: eine demokratische Abstimmung innerhalb des Lektorats führte zu einer knappen Mehrheit für mein Buch; verbürgt durch Kristian Schlosser, meinen diskreten, im Wendesommer 1989 jäh gestorbenen, lebensfrohen Lektor.
Betrachte ich Martin Hoffmanns magischen Schutzumschlag mit der Strudelstiege eines in die Horizontale gekippten Treppenhauses, fühle ich den gleichzeitigen Sog von Ferne und Tiefe, Flucht und Freitod. Das auf die vordere Innenklappe gesetzte Schlußgedicht macht den Abschied zum Willkommen und stimmt auf eine Atempause ein, kurzen Austausch zwischen Schweigen und Schweigen. Lenkt der Titel auf die Hauptbedrängnis, die Ausgangs- und Ausweglosigkeit, öffnen die vier Kapitel „Berliner Hof“, „Nachtfahrt“, „Steckbrief“ und „Stufen des Mutes“ Denkräume und Fühlfelder. In einem „Postskriptum“ nehme ich, in der Manier Montales, Bezug auf meine Eigenheiten, bitte ich um Nachsicht mit meinen Schwächen. Des Meisters Satz „Wenn ich weine, ist es nur ein Gegengesang, um das große Schlaraffenland von morgen zu bereichern“ hätte ich meinen Trauerklößen gern vorausgeschickt. Dennoch: der inständig den Ausgang Suchende war kein Fluchtkandidat, sondern sah, wie ein Leibarzt oder Seelsorger, seine Aufgabe in der Besserung der Lebensumstände aller. Daher das Vorzeigen von Wunden und Mängeln und der Trost in den Auffangarmen der Liebe. Ich Schamane (Heilen durch Heulen) bedurfte selbst des Heils und fand es immer wieder im wundermächtigen Schaumkraut Poesie, das mich, den in die Enge Getriebenen, freizauberte.
Je tiefer ich in die Brandung meiner Gedichte steige, desto feuernder werde ich von ihren Nesselfäden gegeißelt. Auf der Zunge schmecke ich das Salz verdunsteter Jahre. Meine Füße verlieren den Grund, und ich treibe im Malstrom verdichteter Erinnerung eines schwermütigen Zeit- und Streitzeugen mit dem Naturell eines Stehaufzwergs. Unterm zunehmenden Mond jagen weiter die getriebenen Wellen, doch verschmelzen sie langsam zu einer schimmernden Weite, die mich übermannt.
Richard Pietraß, aus: Renatus Deckert: Das erste Buch, Suhrkamp Verlag, 2007
I
Man schreibt nicht für die Ewigkeit. Doch Dauerhaftigkeit ist nicht das Schlechteste, was sich einem Text nachsagen oder wünschen läßt. Wo alles fließt, stürzt, fällt oder als fließend, stürzend und fallend empfunden wird, bekommen Gegenstände von einiger Solidität den Glanz des Tröstlichen, Verläßlichen, Konstituierenden. Um einem Text zu Dauerhaftigkeit zu verhelfen, braucht es mehrererlei. Zuerst: das ausdauernde Verlangen und das andauernde Vermögen seines Verfassers. Richard Pietraß, ein Dichter in der Hälfte des Lebens, verfügt über beides. Sein zweiter eigener Gedichtband, sechs Jahre nach dem ersten erschienen, beweist es. Er enthält Zeilen von großer Dauerhaftigkeit, von dauerhafter Aktualität. Gesetzt, meine kühne prophetische Äußerung wird sich bewahrheiten, bliebe zu fragen, woher ich die Kühnheit nehme. Ich nehme sie u.a. aus dem größeren Vertrauen in die Dauerhaftigkeit von Sprache. Wer mit ihr Ernst macht, macht Ernst mit allem, was erst durch sie begreifbar wird. Mit allem also, wirklich all und jedem. Und solche Ernsthaftigkeit schlägt zu Buche. Unverhinderbar. Vor sieben Jahren hat sich Pietraß in einem Interview wie folgt erklärt:
Das Leben trifft uns, wie uns wahre Kunst betroffen macht. Daraus entstehen Gedichte. Immer gilt es, den Raum des Sagbaren, letztlich Lebbaren, zu erweitern. Dafür sind wir alle verantwortlich… Spiel, Variation ermöglichen Auslotung und Entdeckungen: nichts ist unverbesserbar, kein Ding hat weniger als zwei Seiten. So sitze ich auf der Schwelle des Ernstes und treibe gefährliches Spiel mit einem heißen Eisen: dem Wort.
II
Bei einem denkerisch bewußten, scharfsinnigen, scharfsichtigen Dichter wie Pietraß – „… kein Ding hat weniger als zwei Seiten“ – ist Hellhörigkeit berufsbedingt. Weniger Hellhörigen, anders beschäftigten Lesern und Rezensenten, mag allein deshalb manches dunkel erscheinen, dunkel bleiben. Dagegen kann der Dichter nichts machen. Wer nicht hört, muß auch nicht fühlen. So ist schon das titelstiftende Wort der Pietraßschen Sammlung Notausgang nur halb verstanden, halb gedeutet, wenn es allein auf der ersten Silbe betont wird. Das gleichlautend überschriebene Gedicht legt andere Akzentuierung nahe: „Notausgang“, Ausgang von Not.
„Meine Not meine Bewacherin / geht spazieren / aber damit / ist sie nicht aus“, lauten die ersten vier Verse, zu deren Verständnis es der eigenen Not-Erfahrung und der Akzeptierung von Not durch den Leser bedarf. Das hat nicht nur Fatalistisches. Denn: „Nur Not lehrt denken“, sagt ein marxistischer Philosoph und unterstreicht mit dieser Formulierung die Notwendigkeit von Not und Nöten zur Aufhebung von Not. Not – Gleichwort für Bedrängnis, schlimme Lage, Drangsal und Dilemma – gewinnt im Raum des Gedichts noch andere Gestalt und Kontur: meine Not meine Bewacherin. Der so spricht, sitzt nicht in Not, wohl aber in ihrem Bannkreis. Er weiß und fühlt sich fixiert. Und dieses Bewußtsein fixiert ihn an seinen Ort, läßt ihn nicht tun, was nun naheläge. Die momentane Abwesenheit von Not mag zur Flucht verführen und verführt – wie ein Blick auf die Saturiertheit als Reflex auf überwundene Notzeit erweist – auch tatsächlich dazu. Aber damit ist Not nicht aus, nicht am Ende. „Sie kehrt zurück“, wie es weiter heißt, „in spanischen Stiefeln / oder dem tödlichen Rat / fortan / das Wort Tod zu meiden“.
Die Not, selbst in Nöten, eingeschnürt in folterndes Fußzeug, rät in der Sprache der Inquisitoren, die ja nach ihrem mörderischen Verständnis nie töten, sondern retten, verteidigen, erlösen, „das Wort Tod zu meiden“. Das Wort aber ist – nicht nur dem Dichter – auch ein Teil der Sache. Wer Leben sagt – „… kein Ding hat weniger als zwei Seiten“ –, sagt auch Tod. Wer ihn verschweigt, schweigt sich über die Realität des Lebens hinweg in eine Ferne, die ihn nicht rettet, wo ihn furchtbarer, unvermittelter trifft, wovor er davonlief. „Meine Not meine Bewacherin“, beharrt Pietraß, „entfernt sich / mich genauer zu treffen“. Diese Zeilen verraten die durch Erfahrung gewitzte Wachheit des Bewachten. Eine Wachheit, die die Situation nicht verkennt, nicht verschweigt, nicht verleugnet. Sich dieser Situation zu stellen, bringt – auch bei Abwesenheit von Not – in Nöte. Der Kreis schließt sich. Und Flucht nach vorn, in Richtung der Peripherie, hieße in die Falle laufen. Was bleibt zu tun? Das Zentrale: das Alltägliche: das Hand- und Tagwerk. Im Falle des Dichters heißt das: sich im Gedicht zu öffnen. Nicht in der Gewißheit, sondern allenfalls in der Hoffnung, solche Offenheit eröffnete einen Ausweg für Zeit. „Ich sitze“, sagt Pietraß, „mit meinem Bleistift / und weiß nicht / durch die Hintertür welchen Gedichts / ich diesmal entkomme“.
Genauer läßt sich, wie mir scheint, kaum beschreiben, was zum Schreiben nötigt. Unterhalb der Schwelle existentieller Nötigung ist kein Gedicht und kein Dichter zu haben.
III
Notausgang. Notausgang? Pietraß, einige Gedichte seines Bandes und die korrespondierenden Zeichnungen von Martin Hoffmann verraten es, kennt sich aus in Hinterhäusern, Hinterhöfen, Hinterfragungen. Auch die Umwelt formt den Menschen. Doch Gott sei Dank nicht allein nach ihrem Bilde. Das Hinterhaus verwehrt den Blick zum Horizont, den Blick zur Straße. Die Gedichte von Pietraß geben ihn frei, sehen durch, rücken das Hintere nach vorn und verweisen das Vordergründige nach hinten. So wird der Notausgang zur eigentlichen Tür im hintergründigen Vorderhaus der – so Pietraß in seinem „Postskriptum“ zum Band – „Schwächeren und Gezeichneten“. Aus ihnen rekrutiert sich, wie ich denke, seit eh und je nicht nur die Schar der Leser, sondern auch der Verfasser von Gedichten. Der Dialog, der zwischen ihnen andauert in großen Intervallen, ist mir so unverzichtbar wie der vom Aussterben bedrohte Blauwal, mit dem sich Pietraß auf der Vorderklappe seines Bandes nicht von ungefähr solidarisiert:
Ich nehme den Dialog wieder auf, wie der Blauwal
Auftauchend aus Atemnot. Rasselnd
Pumpe ich mich frei, tauche ab. Einmal Luft holen
In zehn Jahren, das ist genug.
Wen solch Resümee traurig stimmt, der tröste sich. Und wer sich die Hände reiben will, sei gewarnt. Denn von Kurzatmigkeit kann da und bei diesem Dichter nicht die Rede sein.
Jürgen Rennert, Sendung in Das Literaturjournal am 8.4.1981
Gegliedert in die Abschnitte „Berliner Hof“, „Nachtfahrt“, „Steckbrief“ und „Stufen des Muts“, enthält der Gedichtband in chronologischer Reihenfolge Texte aus den Jahren 1972 bis 1977. Ein Postskriptum des 1946 geborenen Autors nimmt zwei mögliche Anmerkungen oder auch kritische Einwände von Rezensenten gleich vorweg:
Mancher wird Geschlossenheit vermissen, einen persönlichen Stil. Ihm entgegne ich, daß mir der Schneid fehlt, eine mir zugefallene Entdeckung zu patentieren und lebenslänglich auszubeuten. (…) Schließlich: die mich kennen, werden sagen: Dich trafen wir fröhlicher. (…) Und womöglich benötige ich nur eine Stütze für das schwächere Bein, wie vielleicht auch meine Gedichte eher von den Schwächeren, Gezeichneten gebraucht werden.
Das sind wesentliche Fingerzeige.
Keine Geschlossenheit also. Schon ein erster Blick in den Band bestätigt diese Feststellung, im positiven Sinn. Der Reichtum an dichterischen Formen fällt auf, die große Wandlungsfähigkeit im Formalen. Auf welche Vielfalt allein von Reimformen stößt der Leser (der hohe Anteil gereimter Gedichte im Band ist auffällig): Paarreime, Kreuzreime, umschließende Reime, verschränkte Reime, Schweif-Reime und so fort! Kurzum, wer sich – über das Element des Reimes weit hinaus – mit Verslehre zu beschäftigen wünscht, findet in diesem Band treffliche Bestimmungsobjekte. Man möge diese Bemerkung nicht ironisch verstehen, sondern durchaus als Bewunderung der Verskunst des Autors!
Hoher verstechnischer Standard ist ein Zeichen dafür, daß Pietraß’ Gedichte realitätsoffen sind, angelegt, eine Vielfalt differenzierter Erfahrungen zu erfassen und mitzuteilen. Das hieß für Pietraß, die dem jeweiligen Gegenstand adäquate Mitteilungsweise zu suchen. Das spielerische Moment, das jeder Kunstausübung zukommt, ist in sehr direkter Weise in frühen Gedichten wie „Trümmerberg“ und „Berliner Hof“ anschaubar. Der Trümmerberg „erscheint“ auch in der typographischen Gestalt des Gedichts, dessen Reim-Ordnung erst auf den zweiten Blick erkennbar ist, auf den ersten erwecken die Verse den Eindruck des Ungeordneten.
Das Eingekästelt- und Eingekesseltsein in einem „Berliner Hof“, in dem der Himmel nur als blaues Handtuch weit oben wahrgenommen werden kann, wird gleichfalls in der Versgliederung, im optischen Bild des Gedichts zumindest angedeutet. Doch solche „konkreten Gedichte“ bleiben Ausnahmen. Das Gedicht „Aussicht“, das ironisch die ungeplanten, naturwüchsigen Tauschbeziehungen zwischen den Angehörigen der sozialistischen Bruderländer zur Sprache bringt, ist der von Volker Braun oft verwendeten Methode verpflichtet, vertraute Redewendungen beim Wort zu nehmen, sie in Zusammenhänge zu stellen, in denen ihr ursprünglicher Sinn aufleuchtet. Dieser Text ist ein Musterbeispiel für das Fehlen „persönlichen Stils“: Der Lyriker greift entwickelte poetische Verfahrensweisen bereitwillig auf, wenn dies der Gegenstand erfordert. Anders wieder ist das Gedicht „Kemberg“ geformt, mit ihm hat Pietraß teil am starken Bemühen der DDR-Lyriker, sich die Historie in ihrer Tiefe und Widersprüchlichkeit anzueignen, wobei sie sehr oft vom Lokalgeschichtlichen ausgehen. Freilich, die historiographische Besessenheit von Dichtern wie Heinz Czechowski, Harald Gerlach, Wulf Kirsten hat Pietraß nicht. Auch dieses Gedicht ist mehr ein Einzelfall unter seinen Texten; wohl ist es gesättigt mit Fakten, bleibt aber, scheint mir, zu anekdotenhaft.
Man könnte die Vielseitigkeit von Pietraß auch mit dem Nachweis von Einflüssen anderer Dichter auf ihn zu belegen versuchen. Von Braun war schon die Rede; hinzu kommt – gerade durch „Replik“ – das Anknüpfen an Enzensberger; das metaphorisch-spielerische Gedicht „Hochzeit der Sprichwörter“ läßt an Kito Lorenc’ „An einem schönbemalten Sonntag“ denken. Das Gedicht „Exil“ über den spanischen Pantomimen und Sänger Francisco Curto ließ sich anregen von der lebendigen Tradition des Liedhaften in der modernen spanischen Lyrik (besonders der Generation von 1927). Das Gedicht „Küste“ ist Rafael Alberti gewidmet und greift dessen Engel-Metaphorik auf. In ihrer rätselhaften Mischung von Sinnlichkeit und Traurigkeit erinnern „Erstes Gedicht für Anna“ und „Hingabe“ gleichfalls an die Spanier. Freilich läßt sich nun, trotz aller Zustimmung zu Offenheit, der Eindruck von Zersplitterung, wie er vornehmlich vom ersten Teil des Bandes geweckt wird, nicht gänzlich zerstreuen: Zahlreiche der frühen Gedichte sind Einzelfälle und „Einzelanfertigungen“; die Gelegenheiten beim Kennenlernen von Welt wie Literatur triumphieren über „systematisches“ Ausschreiten bestimmter Realitätsbezirke, das ja nicht unbedingt mit lebenslänglicher Ausbeutung einer Entdeckung identisch sein muß. Je mehr man nun aber beim Lesen des Bandes fortschreitet, desto mehr ist Pietraß’ Lyrik von Einengung wie Konzentration bestimmt. Das Groß-Gedicht wird durch das Kurz-Gedicht ersetzt, der Drang zur präzisen lyrischen Definition ist unverkennbar, Prägnanz wird erstrebt, sichtbar schon in der Bevorzugung der zur Pointe strebenden zweizeiligen Strophe. Der Lyriker ist allem Redseligen und Verschwommenen abhold, und diese poetische Disziplin erbringt überzeugende Ergebnisse. Ein Wort von William Carlos Williams kann diese auf Genauigkeit zielenden Verse charakterisieren:
Ein Gedicht ist eine kleine (oder große) Maschine, hergestellt aus Worten. Nichts an einem Gedicht ist sentimentaler Natur; damit will ich sagen: es darf sowenig wie irgendeine andere Maschine überflüssige Teile enthalten.
Sicher hat der amerikanische Dichter anregend und ermunternd – wie vermittelt auch immer – auf Pietraß gewirkt, ein karges, nichtsdestotrotz emotionsreiches Gedicht wie „Der Junge im Park“ spricht dafür, aber das ist wohl letztlich von sekundärer Bedeutung. (Dinggenauigkeit erstreben Martin Hoffmanns vom Fotorealismus beeinflußte Zeichnungen menschenleerer Ausschnitte unserer technisch-zivilisatorischen Umwelt; sie stehen, im Betrachter widerspruchsvolle Emotionen weckend, zu Pietraß’ Texten in spannungsreicher Beziehung.) Auf jeden Fall aber hilft Williams’ Notat, der Eigenart von Pietraß näherzukommen, seine Art lyrischer Weltaneignung zu kennzeichnen.
Bewußt gebrauchte ich die Begriffe „Einengung“ und „Konzentration“, um die Widersprüchlichkeit der poetischen Entwicklung von Pietraß anzudeuten. Beides, Verdichtung einerseits und Reduzierung (von Stoff, aber auch kollektiv verbindlicher Haltung) andererseits, hat mit dem Vordringen einer lyrischen Haltung zu tun, wie sie sich im Gedicht „Notausgang“ niederschlägt, das dem ganzen Band den Titel gibt (und damit sei an die zweite eingangs zitierte Bemerkung von Pietraß erinnert). Sensibilität und Verletzbarkeit sind Tugenden des Lyrikers. Aus ihnen aber resultieren auch seine Nöte. Er entkommt diesen, immer nur vorläufig, durch den Notausgang des Gedichts: Er schreibt sich seine Bedrängnisse, das ihn Belastende von der Seele. Diese Poetologie wird als Reflex „unheiler Welt“ verstanden („1946“), wobei durchaus Globales (man vergleiche das Prosagedicht „Nachtfahrt“) gemeint ist; als Reflex – das heißt auch, daß nun gesellschaftliche Zustände und Bewegungen weniger direkt als vielmehr indirekt „widergespiegelt“ werden. Das Sentimentalische dieser Lyrik, in Schillers Sinn, verrät sich nicht zuletzt darin, daß Macht und Ohnmacht des dichterischen Worts häufig im Gedicht selbst bedacht werden („Das Wort“, „Notausgang“, „Barometer“, „Die Kraft des Sehers“). Nahestehenden wendet sich der Lyriker zu: den Eltern (ihnen gelten zwei Gedichte, die für mich zu den bewegendsten des Bandes zählen), dem Sohn, der Geliebten. Die Liebe allein, stets bedroht von Schatten und Fremdheit, erscheint als Lebensraum: individuelles Erleben wird, oft in epigrammatischer Kürze als innere Momentaufnahme, ins Existentiell-Gleichnishafte gehoben.
Mit dem Schreibantrieb, zu artikulieren, was ihn betroffen macht und erschüttert, steht Pietraß nicht allein in jüngster Literatur. Sie wird nicht selten als Lebenshilfe begriffen (wobei im einzelnen recht Unterschiedliches darunter verstanden wird), die man sich selbst und – vielleicht! – auch anderen zu geben versucht. Ihre seismographische Funktion wird hervorgekehrt, deutlich in dem Gedicht „Barometer“:
Ich bin das Barometer. Man kommt
ohne mich aus.
Wer mich entbehrt, erfährt
den Regen auf eigenem Haupt.
Meine Haut ist dünn.
Selbst die Luft
ist stark genug, daß sie
an mir Veränderungen hervorruft.
Ich zeige den Druck
der auf euch lastet
während ihr unbeschwert
zu Flugzeug und Straßenbahn hastet.
Weiter bin ich nichts nütze: an mir
liegt nicht viel
Ein keines Thrones Stütze
keine Kugel im Mächtespiel.
Immer zu Recht wehrt sich Poesie, gegenüber Politik eine bloße Dienerrolle einzunehmen; die Beziehungen zwischen Literatur und Politik sind komplizierter, überdies produktiver. Solches Selbstverständnis bedeutet nicht Verzicht auf Parteinahme, ist vielmehr Voraussetzung gesellschaftlich weitgreifender Wirksamkeit. Die Distanz aber lediglich zu Politik („Mächtespiel“) neutralisiert Literatur, verengt ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflußnahme. Hinzu kommt im vorliegenden Text, daß der polemische Antrieb von Pietraß zerstörerisch auf die Bildlogik wirkt. Mag man das Bild „Meine Haut ist dünn“ noch tolerieren, so fühlt man sich von den beiden letzten Versen herausgefordert zu sagen: Natürlich ist ein Barometer keines Thrones Stütze, erst recht keine Kugel. Aber hier sind doch der Dichter und sein Tun gemeint, könnte man entgegenhalten. Aber eben das gilt für das ganze Gedicht, und in meinem konservativen Verständnis verlangt die lyrische Übereinkunft, daß diese Gleichnishaftigkeit – übrigens in der dritten Strophe vollkommen erreicht – herbeibeschworen wird, ohne daß der Rahmen des gewählten Bildes verlassen wird.
„Was in den Köpfen ist“, schrieb Karl Mickel, „muß ins Gedicht.“ Und zunächst und zuerst kommt wohl ins Gedicht, was im Kopf des Lyrikers ist. Aber ist damit schon Mickels Forderung, ganz en passant, erfüllt? Das scheint so einfach nicht zu funktionieren. Sicher, was der Lyriker allein für sich auszusprechen vermeint, erweist sich im nachhinein oft als ureigenes Anliegen auch anderer. Damit solche Beziehung sich dauerhaft einstelle, muß der Lyriker wohl mit diesen anderen im Dialog stehen. (Von diesem ist übrigens im Schlußgedicht „Fontäne“ die Rede:
Ich nehme den Dialog wieder auf, wie der Blauwal
Auftauchend aus Atemnot. Rasselnd
Pumpe ich mich frei, tauche ab. Einmal Luft holen
In zehn Jahren, das ist genug.
Jedoch, ist dies ein Dialog?) Die Hinwendung, zum Teil wohl auch Rückwendung, zum Kollektiven ist wichtig für die Entwicklung der Lyrik. Vielleicht ist es nötig, zu versichern, daß ich unter Kollektivität keinen konfliktlosen Marsch in die Zukunft verstehe. Sie ist ein Abwägen und In-Übereinstimmung-Bringen zum Teil sehr unterschiedener Interessen. Zuvor verlangt sie allerdings die Artikulation der Interessen und Bedürfnisse, und diese finden auch durch den „Notausgang“ Gedicht Eingang in die Gesellschaft.
Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 11, November 1981
Karin Köbernick: Das erste Mal sah ich Sie, Richard Pietraß, im Lyrik-Club Pankow. Es ist etwa neun Jahre her. Sie waren Student und hatten neben den zumeist älteren und berufstätigen Mitgliedern des Zirkels keinen leichten Stand. Zumindest waren die Blickwinkel auf die Realität recht unterschiedlich. Wie sehen Sie das heute? War diese Zeit im Lyrik-Club für Sie ein Gewinn?
Richard Pietraß: Ich bin sicher, daß diese Zeit wichtig war. Wenn man betrachtet, wie viele Gedichte schreiben und wie viele damit auf der Strecke bleiben, dann hat das nicht zuletzt mit den Bedingungen ihres Anfangs zu tun. Die Zeit des Anfangs ist eine Zeit fehlender Anerkennung, aber eines übergroßen Bedarfs an Rückmeldung in Bestätigung und Hinweisen. Wie ich das – auch durch meine Erfahrung als Lektor – sehe, finden die meisten aus ihrer Dilettantenphase dadurch nicht hinaus, daß ihnen in dieser Zeit jenes nötige Maximum an Austausch fehlt.
Köbernick: Bleibt dieses Bedürfnis nach Kritik, nach Austausch später nicht auch? Ändert sich vielleicht nur der Kreis derer, mit denen man zusammenkommt?
Pietraß: Ja, ich hatte auf einmal von Zirkeln genug. Es gab eine Phase, da war ich in dreien zugleich, und ich war an die zehn, elf Abende im Monat in Sachen Poesie außer Haus; bis ich darüber erschrak und mich zurückzog. Heute ist es so, daß ich durchaus anderen zeige, was ich geschrieben habe. Aber der Kreis ist kleiner geworden. Im Grunde sind es zwei, drei Menschen, denen ich die entstandenen Gedichte früh zeige.
Köbernick: Nach Ihrem Studium der Klinischen Psychologie waren Sie drei Jahre Forschungsstudent, mit welchem beruflichem Ziel?
Pietraß: Ich hatte keine klaren Zukunftsvorstellungen. Ich war gern Student und sah auch im Forschungsstudium eine Chance, dazuzulernen. Eine Zeit hatte ich die Vorstellung, einmal wissenschaftlich zu arbeiten. Dann lockte mich die Tätigkeit des Therapeuten. Das Schreiben ist mir erst allmählich in die Quere gekommen, indem es mehr und mehr von mir Besitz ergriff.
Köbernick: Ein großer Teil der Gedichte Ihres Debütbandes Notausgang stammt aus dieser Studentenzeit. Welches Verhältnis hatten Sie damals zum Schreiben, und hat es sich nun unter den Bedingungen des Freischaffendseins verändert?
Pietraß: Natürlich änderte sich mein Selbstverständnis, als ich die Berufsbezeichnung Schriftsteller nicht mehr umgehen konnte. Solange ich angestellt war, nannte ich mich nie so, sondern war froh, Psychologe oder Verlagslektor sagen zu können. Dichter bleibt ein Ehrentitel, den keiner sich selbst anmaßen sollte. – Läsen Sie mein neues Manuskript, das überwiegend schon in meiner freiberuflichen Zeit entstand, würden Sie vielleicht einen Unterschied zu Notausgang feststellen. Ich glaube, man spürt, daß etwas herunter ist von meinen Schultern. Die Grundstimmung ist etwas heiterer, gelöster. Die Sprache wird wichtiger, empfinde ich.
Köbernick: Paul Wiens gab in einem NDL-Interview jüngeren Dichtern den Rat, sich in diesem Zusammenhang zu fragen: Welche Freiheit und welche Fessel tausche ich beim Freischaffendwerden gegen welche Freiheit und welche Fessel? Welche Antwort geben Sie sich darauf heute?
Pietraß: Die Freiberufliche Existenz gestaltet sich nach kurzer Zeit ebenfalls als Erlebnis von Abhängigkeit. Aber ich habe eine starke Abhängigkeit, ausgedrückt durch Unterstellungsverhältnis und Arbeitsvertrag, getauscht gegen eine größere Zahl kleinerer Abhängigkeiten. Das sind die Leute, Verlage, Zeitschriften, mit denen ich zusammenarbeite, die mich für Aufträge gewinnen oder denen ich etwas vorschlage, in der Hoffnung, sie zu gewinnen. Da bin ich schon abhängig. Ich muß also, wenn ich als Gedichteschreiber existieren will, vielseitig sein. Bei mir kommen Nachdichtungen hinzu, die ich auch als Lektor im Verlag Neues Leben schon gemacht habe, und hin und wieder auch noch herausgeberische Arbeit.
Köbernick: Kommen wir zurück zu Ihrem Band Notausgang. Dort ist viel vom Lyriker Richard Pietraß, über den Sohn, Bruder, Liebenden, über den in vieler Hinsicht betroffenen Richard Pietraß zu erfahren. Stoffelemente aus dem eigenen Leben, für den Leser konkret erkennbare, sind verwendet. Es gibt andere Dichter, die es bewußt vermeiden, ihr empirisches Ich auszustellen. Warum tun Sie es?
Pietraß: Das hängt damit zusammen, daß ich als Leser die Autoren mag, die die Fähigkeit besitzen, sich auszuliefern. Wenn einer sich mit seinen Erfahrungen vor mir: verschließt, kann ich ihm nicht nahe sein. Darum bemühe ich mich, in dem, was ich schreibe, möglichst wenig Trennendes zwischen mir und dem Leser zuzulassen. Ich will aber nicht werten. Ich kenne Autoren, die ich hochschätze, Sabolozki etwa, die sich weitgehend aussparen. Karl Mickel, einer unserer wichtigsten Dichter, hat selten sich selbst im Gedicht. Dennoch ist er durch seine Sichtweise anwesend. Es ist nur indirekter. Trotzdem bleibt es schwer, sich einen Menschen nur über seine Weltsicht vorzustellen.
Köbernick: Das Gedicht „Ein Weiteres“ war Ihre Reaktion auf die Ereignisse in Chile 1973. Wann wurden für Sie aktuelle Anlässe zum Schreibantrieb?
Pietraß: Es war meine Reaktion auf ein Anthologievorhaben des Mitteldeutschen Verlages: Chile – Gesang und Bericht. Und wie es bei mir oft war – beispielsweise als ich zu einer Anthologie Liebesgedichte eingeladen wurde und ich nicht anders konnte, als ein Gedicht „Genug“ (also von Überdruß) zu schreiben (so viel Liebe, das erträgt keiner, dachte ich) –, so war es hier:
Was wird so ein riesiges Buch mit Solidaritätsgedichten bewirken?
Und wieder kam ich zu einem gegenläufigen Verhalten, indem ich mein Gedicht nur noch als eine weitere unter so vielen Reaktionen sah. Das war der eigentliche Motor des Gedichts, dieses Problem der Erschöpfbarkeit menschlicher Anteilnahme. Wo rund um den Erdball Menschen Gewalt und Folter angetan wird, merken wir: es schreckt uns schon nicht mehr. Währenddessen essen wir unser Abendbrot, trinken Bier und reden über ganz anderes. Und haben uns an den Hintergrund des Schreckens gewöhnt. Wir leben mit ihm und fast mit unverändertem Herzschlag.
Köbernick: Wenn Sie den Sinn solcher Gedichte zur Solidarität bezweifelten, hätten Sie sicher keins geschrieben. Wie aber, meinen Sie, sollten solche Gedichte die auf uns Wirkung haben, beschaffen sein?
Pietraß: In der Zeit schneller und umfassender werdender Information ist das Gedicht eigentlich zu langsam. Es kommt vielleicht darauf an, daß man versucht im konkreten Text Allgemeines mitzuerfassen, also das Wiederkehrende, Grundsätzliche der Situation zu erkennen. Und dann sollte der Text weniger aus zweiter Hand Gezapftes vorgaukeln als eigene Haltungen prüfen.
Köbernick: Ältere Dichter sind oft gefragt worden, was sie an jüngeren schätzen. Von ihnen erwarten sie Neues, Frisches, Engagement. Lust am Leben nennt es Paul Wiens. Lassen sie mich umgekehrt fragen: Was schätzen Sie an älteren, hier und jetzt lebenden Schriftstellern?
Pietraß: Wenn ich darüber nachdenke, welche der älteren Kollegen für mich so etwas wie Leitfiguren sind, komme ich auf zwei: der ältere von ihnen ist Erich Arendt, Jahrgang 1903, der andere, 1915 geboren, ist Stephan Hermlin. Beidemal beeindruckt mich ein konsequent gelebtes Leben. Erich Arendt und Stephan Hermlin haben als junge Männer die Erfahrung Spanienkrieg gemacht. Beide sind dem Faschismus durchs Exil entkommen, beide sind hierher zurückgekehrt und haben dann, in den Jahren nach dieser Tabula rasa, ihre gesammelte Welterfahrung eingebracht und mit anderen – nicht zuletzt durch ihr nachdichterisches Werk – dazu beigetragen, daß wir literarisch nicht zur Provinz wurden. Sie sind mir Beleg dafür, welches Gewicht eine einzelne, leicht auslöschbare Existenz erlangen kann, wenn sie ihr Leben folgerichtig und unbeirrbar lebt.
Was die Generation vor mir geprägt hat, die heute etwa Vierzig- bis Fünfzigjährigen, das kann ich mir noch einigermaßen selbst zusammenreimen. Den Zipfel ihrer Erfahrung kriege ich gerade noch zu fassen. Aber auf den Erfahrungsbericht der dreißig, vierzig Jahre älteren als ich fühle ich mich angewiesen. Ihn zu hören oder zu lesen bin ich begierig. Aber ich merke manchmal, daß diese Älteren schon das Bedürfnis verspüren, ihr Leben mit sich allein zu rekapitulieren. Obwohl man Sympathie spürt, ist es schwer, Freundschaft über einen so breiten Graben zu schließen. Wirkliche Freundschaften ergeben sich fast immer nur in der eigenen Generation. Das ist etwas, das ich bedaure.
Köbernick: Wo und wer waren Ihre Schreibschulen? Sie nannten Vorbilder. Sie haben vorhin davon gesprochen, daß Sie auch Nachdichter sind. Ist das Nachdichten für Sie so eine Schreibschule gewesen?
Pietraß: Ich denke schon, weil zum Nachdichten einiges gehört, zum Beispiel auch an Analytischem. Ich muß erkennen, worin der Hauptreiz eines Textes liegt, aber auch seine anderen Merkmale ausmachen, die es nach Möglichkeit gleichfalls zu erhalten gilt. Für mich ist Nachdichten dem Restaurieren vergleichbar. Es ist die schwere, nicht immer lösbare Aufgabe, den in der wörtlichen Übersetzung weitgehend zerstörten Kunstwert wieder aufleben zu lassen.
Köbernick: Bei den Gedichten von Notausgang, die jüngeren Datums, also zwischen 1975 und 1977 geschrieben sind, fiel mir auf, und das gefiel mir, daß man hier dem Autor in seine eigene Befindlichkeit folgen kann. Sie schreiben in „Barometer“: „meine Haut ist dünn“. Ist sie im Laufe der Jahre dünner geworden? Fühlt sie stärker „den Druck / der auf euch lastet“, wie Sie schreiben, „während ihr unbeschwert / zu Flugzeug und Straßenbahn hastet“?
Pietraß: Ich lebe in der Angst, die Haut könnte immer dicker werden. Diese Furcht nährt sich aus der Wahrnehmung, wie sich Menschen gewöhnlich entwickeln, sie in der Jugend offen sind, tief zu erschüttern, und wie sie dann anfangen, als Menschen fertig zu sein und versuchen, sich gegen Störendes abzukapseln, um ihr Leben unangefochten und in gewissem Gleichmaß zu verbringen. Für einen Autor aber, glaube ich, wäre dies der Tod. Wenn Sie den Eindruck gewonnen haben, daß meine Gedichte zum Ende hin sensibler geworden sind, ist das für mich eine große Freude. Zum anderen ist die Dicke der Haut abhängig von den Existenzbedingungen. Als ich eingespannt war ins Getriebe der Universität oder des Verlages, wurde ich natürlich mit ganz anderen Bandagen behandelt (und mußte ich mir diese selbst anlegen) als heute, ohne direktes Unterstelltsein, ohne die Unerbittlichkeit eines durch feste Zeiten bedingten Tagesablaufs. So gesehen, dürfte diese Schicht der Lebenshornhaut langsam verschwinden.
neue deutsche literatur, Heft 4, April 1982
Meistens kennt der Leser die Bewertung eines Buches, noch ehe er dessen erste Seite gelesen hat. Literatur gelangt fast immer gewertet an uns. Urteile gehen der überlieferten wie der zeitgenössischen Literatur voraus. Der Leser hält sich an sie, selbst wenn er sie sich in der anschließenden Lektüre nicht zu eigen macht. Eine Ausnahme stellt die jeweils junge Literatur dar, neue Namen, Formen und Schreibweisen. Darum weichen Aussagen über junge Literatur häufig extrem voneinander ab. Die Maßstäbe, die an sie herangetragen werden, sind manchmal willkürlich, von Normen abgeleitet, die die Autoren selbst kaum anerkennen würden. In den öffentlichen Diskussionen der letzten Jahre hat man daher versucht, die Sache selbst zu einem Werturteil zu machen. Junge Lyrik zum Beispiel wurde entweder als Muster der Oberflächlichkeit hingestellt oder aber als das Neue und daher Gute. Vielleicht ist die vielfach problematische Kategorie der jungen Literatur nur darin fest bestimmt, daß es sich um Texte handelt, die noch nackt und bloß auf ihre Einkleidung und Aufnahme in die Literatur warten.
Mau kann deshalb einen Zufall nutzen und das gemeinsame Erscheinungsjahr von drei Gedichtbänden als Ausgangspunkt für einen Vergleich nehmen. Im Aufbau-Verlag veröffentlichten 1980 drei Autoren erste Gedichtbände: Richard Pietraß (geb. 1946) Notausgang, Benedikt Dyrlich (geb. 1950) Grüne Küsse und Uwe Kolbe (geb. 1957) Hineingeboren. Obwohl es sich jeweils um Erstlinge handelt – im Falle Dyrlichs allerdings um eine Auswahl aus drei in sorbischer Sprache erschienenen Bänden –, begegnet man nicht Autoren, die aus derselben Generation stammen. Dem Werdegang des einzelnen wird der zusammenfassende Vergleich immer unangemessen bleiben. Für die Leser jedoch sind mit dem Zufall des Erscheinungsjahres die Gedichte erst in die Welt getreten. Daher werden wir sie wie die Leser auch als Neuerscheinungen lesen.
(…)
II.
Entschieden die Sprachverfassung zur Aussage macht dagegen Richard Pietraß in den Gedichten von Notausgang. Sein Weg geht in die Richtung einer knappen, lakonisch verkürzten Sprache. In dem Gedicht „Replik“ nennt Pietraß das „Reden … leicht“, das „Sagen … schwer“. Sein Mißtrauen gegen die Ungenauigkeit der gebräuchlichen Sprache und die, abschwächende, ja beschwichtigende Wirkung der Rede ist offenkundig. Es wird zu einem der Themen seiner Gedichte. Das betrifft vor allem die Unzuverlässigkeit der Auskünfte darüber, ob Wort und Meinung, Bild und Gefühl, Sprechen und beabsichtigte Mitteilung identisch sind. Offenbar kontrollieren die Gedichte die Brauchbarkeit des Materials Sprache. Deren radikale Reduktion ist bereits ein Urteil. „Bin die Drossel beschäftigt / Kürze mein hastiges Lied“ („Drossel“) und an anderer Stelle:
Beschnitten.
Mein Winter drängt.
Die Himmelsleiter:
An den Nagel gehängt.
(„Beschnitten“)
Dabei geht es nicht um die Art vermeidbarer Ungenauigkeit, die die Selbstkritik des Autors korrigieren könnte. Paul, Celan hat in seinem Brecht gewidmeten Gedicht „Ein Blatt baumlos“ jedem einzelnen Wort der Sprache vorgeworfen, daß es „soviel Gesagtes“ einschließe. Sein Gedächtnis für ihre Verwendbarkeit zu unterschiedlichen Zwecken, die Inflation der großen Worte in der Zeit des Faschismus, das alles hat in Celans Augen eine Schuld der Sprache hervorgebracht, die der Lyriker abzuzahlen habe. Von einem vergleichbaren, wenn auch nicht gleichen Problem sieht sich die Lyrik von Pietraß bedrängt:
Darf ich noch schreien Nach so vielen Schreien?
Ist noch etwas zu sagen? Nach so viel Blei
… Jedes weitere Schlagwort Härtet die Harten…
(„Ein Weiteres“).
Die Scheu nicht allein vor den großen Worten, sondern vor der Macht des Wortes überhaupt hat das Selbstverständnis des Lyrikers geprägt. In der Sprache mißtraut er zuweilen sogar den Möglichkeiten der Poesie:
Das ist unser gesprungener
Kern: die Metapher. So weit
Gehen unsere Träume
Bis in das eigene, brennende Fleisch.
Feuer bringend, brachten wir Asche…
(„Einführung in die Metaphorik“)
Wenn aber die Rede auf die Themen kommt, die eine heitere Behandlung erlauben würden und den uneingeschränkten Fluß der Rede beleben könnten, dann gerade werden bei Pietraß die Texte am kargsten. Von Hoffnungen und von der Zukunft wird gelegentlich, dann aber unauffällig und wortarm gesprochen wie in dem Achtzeiler „Schöne Landschaft“. Reflexion über Poesie drängt stärker noch als bei den Jüngeren in den Vordergrund. In diesem Sprachverhalten liegt eine Grundfigur der Aussage des Bandes Notausgang. Das Ich in den Gedichten hat zu der Sprache, mit der es sich selbst herausarbeiten will, wenig Zutrauen. Daß es zugleich auf sie angewiesen ist, macht seinen Zwiespalt aus. Zwar gibt es wenige Gedichte, in denen nicht vom Ich die Rede wäre. Jedoch wird es immer im Tone des Zweifels und der Anfechtung ausgesprochen:
Hab ich ein Herz zwei
Zungen sechs Beine acht
Fliegeoderspinne
Fange fresse ich mich.
(„Siamesisch“).
In einer Diktion, die Bilder an sich vermeidet, dagegen aber Wortspiele und das Wörtlichnehmen von Bedeutung bevorzugt, entwickeln sich aus einer ganzen Reihe von Vergleichen Versuche, das Ich zu fassen, zu beschreiben, zu sezieren. Diese Versuche, ich zu sagen, gleichen Anläufen zu einem Ziel, das nie ganz erreicht wird: „Ich bin das Barometer. Man kommt / ohne mich aus.“ („Barometer“), heißt es, vielleicht etwas konventionell, an einer Stelle. Dieselbe Mitteilung ist stärker ins Fragliche gestellt in „Die Kraft des Sehers“:
Bin ich ein Seher?
Biege ich Worte wie Eisen?
Im Pupillenschweißen
Die Welt zum Vers?
Die Frage verneint sich selbst. Trauernd dagegen zeigt sich das Ich in „Der verlorene Sohn“:
Seht mich verlorenen Sohn.
Ich hab mit dem Vater gebrochen.
Der Preis verlorener Selbstverständlichkeit scheint sehr hoch; das Ergebnis gewährt keine Befriedigung. Gewißheiten darf man von diesem Ich nicht erwarten, nur eine nicht abreißende Bereitschaft, nicht voreilig zu resignieren, sondern in der Suche nach der Selbstbestimmung fortzufahren:
Ich nehme den Dialog wieder auf, wie der Blauwal
Auftauchend aus Atemnot…
(„Fontäne“).
Die fehlende Selbstgewißheit ist kein Mangel an bewußter Weltbeziehung. In ihr drückt sich vielmehr das Vermögen zu kritischen Bilanzen aus. So lohnt sich das Ergebnis dieser Befragung für den Leser schon. Der bloß von Erlebnissen getriebenen Ichempfindung, die sich bald genießt, bald an sich leidet, ist diese Bewußtheit immer vorzuziehen. Das andere überwiegt in unseren Anthologien. Notausgang weist aber strenger und genauer aus, was in der jüngeren Lyrik überhaupt zu beobachten ist. Auch das Ich seiner Gedichte bestimmt sich nicht in der Spannung von Vorausgriff und Wirklichkeit oder von Unmittelbarkeit und dem Auftrag, öffentliche Stimme zu sein. Es sieht sich dagegen auf die Raumverteilung in der Wirklichkeit verwiesen. „Lebensraum“ nennt Pietraß, nicht sehr glücklich, was die möglichen Assoziationen betrifft, ein Liebesgedicht aus dem Jahre 1976. Die Wirklichkeit wird darin als Gegebenes behandelt. Die Dinge stehen fest, und die bewegten Verhältnisse zwischen Menschen sind in seinen Gedichten selten. Dem paßt sich die Vorliebe an, Gedichte aus Sätzen zu konstruieren, die die Form von Urteilen haben. Die Gedichte beschränken sich außerdem darauf, der eigenen Erfahrung auf den Grund zu gehen. Um die nicht zu verfehlen, vermeidet der Autor den Umgang mit fremden Federn, den Gebrauch von Masken und Fiktionen, sogar die Reize der Mehrdeutigkeit und das Spiel mit mehreren Stimmen.
Die Strenge bei Pietraß geht ins Asketische und Unsinnliche; sie bringt Beschränkung mit sich. Das Beharren auf eigenen und authentischen Erfahrung ebenso wie die immer wachsame Selbstkritik schließen die artistische Steigerung der poetischen Sprache fast ganz aus; das Arsenal der Gegenstände wird gering, wenn der ganze Bereich des „Was wäre, wenn“ ausfällt. Selten kommt die sinnliche Welt und die entsprechende Erlebnisfähigkeit des Ichs zur Geltung, eigentlich nur in erzählenden Gedichten wie „Kemberg“ und „Trümmerberg“. Die programmatische Kargheit verlangt auch, daß der Text nie dem Selbstfluß überlassen bleibt. Sie wirkt folglich angestrengt. Daher sind Neuprägungen, Vergleiche, Metaphorisches häufig auch nicht sonderlich sinnfällig. In dem Gedicht „Replik“, von dem oben die Rede war, ist das Gegensatzpaar „Reden“ und „Sagen“ zwar genau gegeneinander bestimmt und abgegrenzt. Jedoch die Willkür gegenüber dem Sprachgebrauch hat nur durch Definition Recht; als Neuschöpfung überzeugt sie nicht. Denn das transitive Verb „sagen“ läßt sich nicht in allen Strophen gegen das intransitive „reden“ ausspielen, so daß in den letzten beiden die Opposition unstimmig wird:
Sagen wir also
in unseren Reden
solange wir etwas
zu sagen haben
Ebenso ist in der vorletzten Strophe des auch schon angeführten Gedichts „Der verlorene Sohn“ die Umsetzung des Bildlichen ins Metaphorische übermäßig beladen und verstößt dadurch gegen die Faßlichkeit:
Das Dach des geborstenen Glaubens
Will wie die Fetzen nicht heilen.
Wenn man die Graphik von Johannes Wüsten, auf den sich das Gedicht bezieht, daneben hält, zeigt sich die Last des Gedanklichen als Untugend der sprachlichen Fassung. Auch im Titelgedicht scheint gedankliche Konsequenz gegen die Stimmigkeit des Bildlichen zu verstoßen. Die Bildsprache behauptet, das Gedichtemachen sei eine Hintertür, der Not zu entkommen. Das Gegenteil aber teilen die Gedichte von Notausgang, des Bandes insgesamt nämlich, mit. Wenn auch diese Widersprüche der Genauigkeit mit sich selbst aus dem Zwiespalt solcher Feststellungen über das Ich, aus der Strenge und Anstrengung resultieren, so müssen sie doch vermerkt werden.
(…)
IV.
Alle drei Bände enthalten Liebesgedichte. Die Grünen Küsse halten es mit dem Urbild der entfernten Geliebten, die eigentlich die ideale Geliebte ist. Das besagt nicht, daß die Liebe auch körperlos sein muß. Für die ideale Liebe genügt, daß Zweisamkeit, Übereinstimmung, Miteinander vorherrschend sind. Am besten ist es, wenn die Liebste eine Gestalt in Träumen bleibt:
Doch: Einzig du allein
faßt mich dann
fest an die Schultern und
siehst mir lange
in die Augen blau.
(„Kakteen I“)
In Traum und Wirklichkeit erspart sie dem Liebenden den Zweifel an sich selbst; keine wirklichen Hindernisse stören den Genuß des Glücks. Im Falle der idealen Geliebten enden Konflikte und Verwirrungen meist noch vor den Schlußversen. Von den „ungeahnten neuen Konflikten und Widersprüchen“, die Mickel und Endler in der Vorbemerkung zu ihrer Anthologie schon 1966 von Liebesgedichten in unserem Lande forderten, ist nichts zu spüren. Sogar das mehrfach auftauchende Tigermotiv, welches den Konflikt zwischen den Geschlechtern als andere Seit der Liebe in die Grünen Küsse bringt, läßt wirkliche Widersprüche aus dem Spiel. Der aufbrechende Gegensatz wird wie in dem Gedicht „Eines schönen Morgens“ zu einem beruhigenden, weil Begründungen aufweisenden Schluß geführt. Diese Liebe paßt gut mit Phantasiespaziergängen zusammen. Das Ich baut sich in der Beziehung zur idealen Geliebten ein ganzes kleines Universum, indem der Imperativ seines Wollen gilt. Der Wirklichkeit des täglichen Zusammenlebens entspricht es nicht, wenn die Poesie es sich in der Liebe heimisch macht. Daß die Erwartungen und Wünsche vieler sich auf ein solches Glück in der Liebe richten, ist jedoch unbestreitbar.
Diese würden sich sicher weder bei Kolbe noch bei Pietraß befriedigt finden. Trotzdem ist es unbestreitbar, daß Hineingeboren von Uwe Kolbe Liebe zu einem seiner wichtigsten Themen macht. Kolbe berührt auch die Erfahrungen der Sinne nicht nur in den gebräuchlichen und daher verblaßten Wendungen, sondern spricht unmittelbar von ihnen. Dabei gelingen ihm kühne und durchaus neue Ausdrucksmöglichkeiten wie in dem Gedicht „Ich liege neben dir danach“ oder „Liebeslied“. Aber diese Liebe ist zu nahe an den Alltagserfahrungen, um irgendeinem idealem Urbild zu gleichen. Zu Unrecht hat Uwe Kolbe einmal erklärt, er und seine Lyrik seien nicht zuständig für soziale Tatbestände. Seine Liebesgedichte siedeln in einer fest umschriebenen Welt, die auch als soziale Umwelt zu erkennen ist und Ideale wie das der Unbedingtheit nicht zuläßt. In dem Eingangsgedicht von Hineingeboren ist bereits festgestellt, daß die Realität auch dieser Beziehung nicht von den Träumen gebildet wird („Für Melanie“). – Dieser Prolog bedeutet, daß Liebe und Poesie sich nicht miteinander einrichten können, als lägen beide außer der Zeit. Damit ist eine Entscheidung gegen die poetische Idylle gefallen, an die sich der Autor auch hält. Wohl gibt es Hoffnungen, zum Beispiel auf die Gemeinschaft, die Liebe stiften kann. Aber Unruhe ist immer im Spiel:
da tu ich so
als läg ich ruhig
komm
(„Komm“).
Wo von Liebe die Rede ist, taucht häufig auch das Wort Risse auf. Das sind – gar nicht metaphorisch gemeint – die Risse in der Wand einer Wohnung im Prenzlauer Berg („Wir leben mit Rissen in den Wänden, / ist es dir aufgefallen?“). Es kann aber auch der Riß sein, welcher eines Tages in der heilen Welt der Erwartungen offenbart:
unfaßbarer welt riß, meine und deine hände darin
Beide Risse haben miteinander zu tun, auch wenn es im zweiten Vers nach der Allgemeinheit großer Weltschmerzgebärden klingt.
Hierin ziemlich unbekümmert um die literarische Vorbelastung, dürfte Kolbe wohl kaum an den „großen Weltriß“ gedacht haben, mit welchem Heine seine Kritik der „Kunstperiode“ begründet. Heines Weise, die Erfahrung dieses Risses produktiv zu machen, ist jedenfalls nirgends in unserer Lyrik wirklich als Anregung gebraucht worden. Ironischer Umgang mit der poetischen Subjektivität ist überall unüblich. Die Risse zwischen den Liebenden und ihrem Leben in Kolbes Gedichten sind gesucht, aufgespürt, geradezu gewollt. Ihre Wahrnehmung garantiert, daß Liebe nicht zur Insel der Genügsamkeit, zum Lebensersatz werden kann.
(…)
V.
Richard Pietraß und Uwe Kolbe leben in Berlin. In ihren Gedichten macht sich das kräftig bemerkbar, und zwar nicht in der Abstraktion einer reflektierten Großstadtproblematik. Vielmehr tritt Berlin als die soziale Wirklichkeit seiner Lebensbedingungen in beide Gedichtbände ein. Es lebt dort auch als Umwelt, die von der politischen Geschichte unseres Landes gebildet ist wie keine andere. Erstaunliche Gleichklänge in den sprachlichen Fassungen von Berliner Erfahrungen lassen sich bei den beiden Autoren, die sonst ganz verschiedene Sprache führen, beobachten: In „Berliner Hof“ von Pietraß stehen die Mauern fest, und die Leute haben gelernt, ihr Leben dem Feststehenden anzupassen:
Und heute wie gestern
Richten die Leute ihr Tagwerk
nach dem Wechsel
Des wenigen Lichts.
Keine der Sperren weicht
Sicht zu geben auf einen
Horizont…
Die Hinfälligkeit der alten Häuser in Kolbes „Hoflied“ ist dagegen vielleicht ein wenig zuversichtlicher zu nennen:
Die Ziegel erinnern
An ihre Farbe
Und fallen
Vor Schwäche vom Dach.
Gelb der Geruch
Von rauchenden Steinen
Herab und heraus,
Heraus nur, heraus.
Jedoch ist auch in Kolbes „Hoflied“ der Hof kein Ruinenidyll, sondern die Gegenwart der Kinder, die dort spielen. Völlig gemeinsam ist beiden Gedichten die Beschreibung der äußerst begrenzten Aussicht:
Irren die Augen und gleiten
endlich nach oben
Zum blauen Handtuch
des Himmels.
Ebenso eingeschränkt, umstellt und schmerzhaft wie hier bei Pietraß zeigt sich dies Bild bei Kolbe:
Von Zeit
Zu reicherer Zeit
Holt der Himmelsfleck
sich eins meiner Augen.
Von einer Dämonie der Stadt, wie sie gelegentlich in der DDR-Lyrik noch anzutreffen ist, findet sich keine Spur. „Trümmerberg“, die Fahrradtour von Berlins Mont-Klamott, ist sogar eins der wenigen Gedichte bei Pietraß, wo er Sinne wie Gedanken und folglich auch die Sprache frei schweifen läßt, ohne ihr die übliche Kargheit aufzuerlegen. Bei Uwe Kolbe sind mehrere Möglichkeiten ausgebildet, mit der städtischen Umwelt umzugehen. Von Sarkasmen, die an Adolf Endlers und Karl Mickels Altbaugedichten geschult sind („Fluch, gesandt über Kohlenplatz und Straße ins andere Haus“), bis zur modernen Romanze im Stil der empfindsameren Texte der Rockmusik („Gedicht eines Fremden“). Morgengedichte und Abendlieder scheinen der Stadtlandschaft den Platz geben zu wollen, der sonst der Natur im Gedicht zukam. Jedoch anheimelnd zeigt sich Berlin niemals. Hof, Wohnung, die Stadtlandschaft überhaupt gehören zu den bedingenden, bindenden und das Ich bedrängenden Dingen in Hineingeboren. Kolbes Gedichte über die große Sehnsucht, fliegen zu können, sind Gegenstücke zu den Stadtbildern. Auch sie sind ins Bild gesetzte Beweise, wie sehr die Lebensbedingungen der Stadt als Zwang erlebt werden.
Wiederum stimmen die Wertungen bei Kolbe und Pietraß überein. Angesichts der Reisebegegnung mit einer Kleinstadt („Kemberg“) duldet Pietraß gelegentlich die behagliche Betrachtung; Berlin dagegen ist als Region gesellschaftlicher Erfahrungen gefaßt. Zu ihnen gehören Geschichte der Stadt und politische Gegenwart, also auch die Grenze in Berlin, welche gänzlich wegzudenken nur einer oberflächlichen Beziehung gelingen könnte. Gedichte wie „Grenzfriedhof“ behandeln den Gegenstand mit der Bitterkeit, der einem Strang der Geschichte Berlins gebührt. So wie die Geschichte des imperialistischen Deutschland für uns nicht abgetan und erledigt ist, so sind auch die Schicksale der Toten nicht aufgehoben. Das poetische Subjekt teilt ihren Unfrieden. In Heinz Czechowskis Dresden-Gedichten lassen die Toten unter dem Pflaster dem lebenden Dichter keine Ruhe. Die Toten auf dem Friedhof der Berliner Sophiengemeinde sind in gleicher Weise nicht aus der Geschichte entlassen. Kein heiteres Abschiednehmen von der Vergangenheit zieht hier einen klaren Strich zwischen jener Zeit und der Gegenwart wie noch in Jens Gerlachs „Dorotheenstädtischen Monologen“. Dabei löst gerade Pietraß die Bedrückung durch die Vergangenheit, die in unser Leben und in diese Gesellschaft noch hineinreicht, nicht in einem unbestimmenten, existenziellen Unbehagen auf. Seine proletarischen Porträts beweisen vielmehr, daß Biographie, persönliches Schicksal, vom Autor als Bestandteil der Klassenkämpfe begriffen wird. Sein Verhältnis zu diesen Gestalten ist immer von Sympathie bestimmt; auch ihre von Entbehrungen gezeichneten Schicksale nimmt er an, als gehörten sie nicht einer anderen Generation.
Die geschichtliche Tiefe gibt es bei Uwe Kolbe nicht. Hier zeigt sich durchaus die andere Weltsicht des jüngeren Autors. Kolbes „Möglicher Spaziergang durch eine tote Stadt“ zeigt viel weniger Betroffenheit vom gleichen Problem. Es enthält daher auch neben den gewollt surrealen Bildeindrücken eine sicher ungewollte Melancholie, die an Großstadtgedichte bei Kästner und Tucholsky erinnert. Für beide Autoren gilt die Stadt nicht als Ersatz der schönen Landschaft, aber sie ersetzen auch nicht die wirkliche erfahrene Umwelt durch andere, ins Licht wünschenswerter Eigenschaften getauchte Landschaften. Die geringe Neigung, sich der eigentlich utopischen Sujets zu bemächtigen, wird hierin auf fast schmerzliche Weise deutlich.
Landschaften in schöner Natur gibt es auch bei Dyrlich nicht, obwohl in den Grünen Küssen eine ländliche Umwelt mit Wäldern, Wiesen und Gärten vorkommt. Aber sie erscheint ohne Selbständigkeit, nur als Spielfeld der Aktionen des Ichs, dessen Bedürfnisse sie auch ausschmücken. Gelegentlich sprechen die Gedichte sogar aus, daß Natur als Umwelt nicht einfach, vorhanden ist, sondern Produkt aus des Autors Feder:
Ich habs im Ohr:
diese Schübe der Sprache
einer Landschaft im Rhythmus der Zeit –
(„Ich male neu die Farbe“).
Diesem „Rhythmus der Zeit“ weichen Sprache und Landschaften des Autors jedoch recht oft aus. Wo Naturlandschaft und technisierte Welt zusammenstoßen, da wird der Konflikt meist in einer versöhnlichen Wendung aufgefangen:
Ich höre laut das Rattern
über den Schienen Verspür
die Stöße in Rippen des Eisens
dumpfes Gestampfe direkt in der Seele…
Dann kehrt Ruhe zurück: Aus dem Kiefernwald
singe Lieder wie frei Ich pfeife
wach die Flügel der Vögel…
(„Zusätzliches Bekenntnis“).
Daß das Freie, welches hier wie überall in unserer Lyrik als die eigentliche heimische Welt erscheint, jederzeit erreichbar sein kann, ist eine freundliche Vorstellung. Sie gehört zu den Zügen, die die poetische Welt als Welt des Wünschbaren in Grüne Küsse bilden. Nur dürfte sie nicht so häufig das Aussehen einer verfügbaren Realität annehmen. Leicht gerät nämlich das kleine Fleckchen Natur, das die Wunschlandschaft bildet, zum Weltmodell. Das harmonische Miteinander von Naturgesetz und menschlichen Absichten, welches man den Landschaften für Phantasiespaziergänge gern zubilligt, muß dann verfehlt wirken.
VI.
Bleibt noch vom Platz zu reden, der dem Dichter zugewiesen wird. Reflexion über Poesie geht in allen drei Bänden mit der Poesie einher. Alle drei Autoren rufen auch eine große Zahl literarischer Vorbilder auf. Literatur bleibt weiterhin mit Literatur beschäftigt. Diese Entwicklung, von Peter Gosse 1976 konstatiert, reißt nicht ab. Dichter, sagt Uwe Kolbe, sind Götter, auch wenn sie es selbst vergessen. Er gebraucht das feierliche Wort oft und ohne Scheu. Hier kündigt sich wirklich ein fast vergessenes Selbstverständnis an, aber auch, wer wollte es überhören, der Anspruch auf das Prinzip der Autonomie der Kunst. Dyrlich dagegen ist bereit, den Märchenerzähler und Träumer zu spielen. Das Gedicht „Kinderei“ teilt dem Poeten seinen Platz in der arbeitsteiligen Gesellschaft zu. Daß er dem Dichter und auch wohl der Poesie nur die Rolle zugesteht, den Ernst des Lebens heiter zu begleiten, zeugt nicht allein von der Bescheidenheit des Autors. Im Vergleich zu Kolbes Ungenügsamkeit ist dies der andere Pol. Zwischen beiden bestimmt sich ein Verständnis vom Auftrag des Dichters, das noch sehr unfest ist. In solchen Unsicherheiten kündigt sich eine allgemeinere Veränderung der Auffassung davon an, was Literatur bewirken soll und kann. Bei einem neuen, festen Begriff ist man noch nicht angekommen.
Doch stellt sich schon heraus, daß dem Dichter ein erhöhter Platz zugewiesen werden soll. Selbst in Notausgangvon Richard Pietraß wird trotz des sparsamen Umgangs mit großen Worten das Amt des Sehers an den Dichter vergeben („Die Kraft des Sehers“). In der Rolle von Auftragnehmern und Vermittlern des Dialogs, wie die Dichter in den sechziger Jahren ihre Aufgabe verstanden, sehen sich die Lyriker dieser Generation nicht. Ob Götter, Propheten oder Narren, in jedem Falle sind die Dichter mit der Aura des Besonderen umgeben. Welcher Platz dem Leser als Empfänger der Botschaften zukommen soll, ist vorerst noch nicht festgeschrieben. Daran wird aber künftig das gewandelte Bild vom Amt des Dichters zu messen sein.
Ursula Heukenkamp, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 1981
ist 1946 in Lichtenstein geboren, einem murkeligen Ort in Sachsen, kleiner als ein Fürstentum und allenfalls mit einem Agrarbaron als Ortsvorsteher. Unabhängig von dieser Herkunft aber nimmt man Pietraß jederzeit den Fürsten ab, zumindest den Dichterfürsten, wenn man von einem solchen nicht die mittlerweile so verqueren Vorstellungen besitzt wie Tabakspfeife, Strickjacke und Obstgarten im Fond des Bildes. „Richard XI.“ ist vielmehr von alldem das genaue Gegenteil, ein allzeit freundlicher Kollege, eine immer gut gefüllte Plaudertasche, mit der man nur allzu gern ein Bier trinkt oder noch viel lieber eine Haxe hinter kracht, bei der sich’s gut über die Poesie im Allgemeinen und den Unverstand der unpoetischen Verhältnisse im Besonderen palavern lässt. Denn Pietraß ist nicht nur rein äußerlich ein Schwergewicht unter den Lyrikern, spartanisch auf dem Papier, epikureisch im Leben, puritanisch am Schreibtisch, hedonistisch am Esstisch. Man sieht ihn also lieber in einer ordentlichen Suppenschmiede als auf einem schwerblütigen Dichtertreffen, denn in der Pinte mit ihm hat man beides – Feinsinn u n d Furage.
Das sind gute Augenblicke, ich kann sie beschwören beim grauen Bart des lyrischen Propheten, samt den farbenfrohen Essensresten, die sich in diesem Gestrüpp gelegentlich verfangen oder es doch bis hinunter auf eine schon wieder – natürlich mit einem Gedicht – beschmierte Serviette geschafft haben.
Pietraß ist etwas gelungen, was nur wenige schaffen: Er hat sich eine vertrackte Art von Jugendlichkeit bewahrt. Natürlich gehört zu der erst einmal eine eiserne Neugier, ein fortwährendes Interesse an allem und jedem, und ein unerschütterlicher Glaube an die Sinnhaftigkeit des eigenen Treibens. Der ist im Laufe eines jahrzehntelangen Dichterlebens einigen Anfechtungen ausgesetzt, wer wüsste es nicht. Mag sein, dass es Pietraß’ gnadenlose Liebenswürdigkeit ist, die ihn all diese Kalamitäten hinnehmen oder gar überwinden ließen. Mag ebenso sein, es ist der alte Metaller in ihm, den er mal in früher Jugend erlernt hat. Vielleicht hat ihn auch das Psychologiestudium seinerzeit vorbereitet, solche Beschwerlichkeiten zu meistern; anzunehmen ist aber wohl eher, dass Pietraß nicht wegen, sondern trotz dieses therapeutischen Wissens jenes singuläre Gespür entwickelt hat.
Richard Pietraß hat mit unbekümmerter, eben jugendlich auftrumpfender Hartnäckigkeit Bücher und Texte durchgesetzt, die es in der DDR mehr als schwer hatten. Er war Herausgeber der Gedichte Uwe Greßmanns, des so früh verstorbenen Dichters, der als die vielleicht größte Hoffnung nach Johannes Bobrowski galt, und ebenso die Gedichte Inge Müllers, der wiederum sicher tragischsten Dichterin der DDR. Und er war – neben Bernd Jentzsch – eine zentrale Gestalt der berühmten Lyrik-Reihe Poesiealbum, in der missliebige Dichter ebenso wie lyrische Debütanten ihre erste – und oft genug einzige – Veröffentlichung erlebten, und in der die Ikonen der europäischen Lyrik publiziert wurden. Und Pietraß ist noch immer Präzeptor der Reihe, die schon mehrfach den Weg allen Papiers gehen sollte, aber immer noch da ist und die Pietraß – eben halsstarrig und geduldig – weiter herausgibt.
Über lauter Kollegialitäts-Hymnen sollen natürlich die eigenen Dichtungen nicht vergessen werden. Pietraß hat etwa in den 80er Jahren, die den Musen in der DDR wahrlich nicht immer freundlich waren, Gedichtbände publiziert, die Titel wie Notausgang oder Freiheitsmuseum hießen, feine Attacken, die das Zensorenherzchen pochen ließen. 1987 erschien Spielball, ein Band, der kryptisch so ziemlich alles thematisierte, was nicht einfach so zu sagen war, von der menschheitlichen Bedrohung bis zur völligen Verlorenheit des Einzelnen, von den parodierten Allmachtsphantasien der alten Männer bis hin zur melancholischen Aggression und den immer wieder schönen Gesten des Aufbegehrens.
„Blitze hindern niederzuschießen / die Wüste ersäufen“. Genau. Nie weniger. Niemals drunter.
Tilo Köhler, 2012
Peter Geist: „Da bin ich mit allen Himmeln gewaschen“. „Wende“- und Deutschlandgedichte der DDR-Achtundsechziger.
Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig
Ich pendelte zwischen den Welten
— Der Dichter Richard Pietraß. —
Als ich 1970 in den Prenzlauer Berg zog, gab es dort noch keine Szene. Der Kollwitzplatz war noch kein Begriff, das wurde er erst Ende der siebziger Jahre. Als andere dann anfingen, ihn schick zu finden, sah ich das alles sehr gelassen und mit einer gewissen Amüsiertheit. Ich betrachtete mich gegenüber den Jüngeren fast als Ureinwohner. Ich bin ja etwa zehn Jahre älter als die Szene-Generation, habe das alles aber interessiert verfolgt. Vielleicht mit einer Art Halbdistanz. Ich war nicht so aufgeregt wie sie, und es widerstrebte mir, mich den Jüngeren anzubiedern oder anzudienen.
Geboren wurde ich in einem Oberstübchen einer sächsischen Mühle, die einem Jugendfreund meines Vaters gehörte. Mein Vater war ebenfalls Müller und Landwirt, aber in Ostpreußen. Die beiden Freunde, die sich auf der Müllerschule in Dippoldiswalde bei Dresden kennengelernt hatten, versicherten sich bei Kriegsausbruch gegenseitig, jeder könne beim anderen Zuflucht finden. Und der Kriegsverlauf war eben, daß die Russen eher in Ostpreußen waren als die Amis in Sachsen. So gelangte meine Mutter mit meinen älteren Geschwistern nach Lichtenstein in Sachsen. Dort wurde ich 1946 in einer kleinen Kammer geboren.
Ein Nachkriegskind, Kind einer entwurzelten Familie zu sein, ist eine soziale Besonderheit. Man hat kaum Anspruch auf irgend etwas, man hat kein Grab zu pflegen, hat weder Grund noch Boden, nicht mal Möbel, die zusammengehören. Wir kriegten die Sachen, die andere entbehren konnten, und die wurden im Laufe der Jahre ausgetauscht, wurden handwerklich gediegener; das war das Milieu, in dem ich aufwuchs. Mein Vater war nach dem Krieg nur ganz kurz wieder als Müller tätig, in der Mühle des Freundes. Die ging eines Tages in Flammen auf, und er wurde der Brandstiftung verdächtigt. Das war absurd, aber es waren die Jahre der Sabotage. Mein Vater war drei Tage in Haft, ich weiß noch, wie er abgeholt wurde. Dann landete er bei der Wismut, später war er Transportarbeiter und zuletzt Pförtner in einem Krankenhaus.
Ich strebte von Kindheit an meinen großen Geschwistern nach. Die waren rund zehn Jahre älter, alle in den Dreißigern geboren. Als ich in die Schule kam, waren sie schon auf der Oberschule, und als ich mich dem Ende der Grundschule näherte, studierten sie bereits. Ihnen wollte ich also wie ein Entenküken immer hinterher, auch zur Oberschule, auch studieren. Ich schwankte zwischen fünf Berufen. Es waren alles Menschenberufe: Medizin, Pädagogik, Psychologie, Völkerkunde und Journalistik. Die Eltern wrangen förmlich ihre knotigen Hände, als sie hörten, daß ich am liebsten Psychologie studieren wollte, das sei doch eine brotlose Kunst. Tatsächlich hatten sie mich so irritiert, daß ich mich schließlich für Medizin in Leipzig bewarb. Für die zweihundert Plätze gab es sechshundert Bewerber, und nach der Aufnahmeprüfung stand ich, glaube ich, an neunundfünfzigster Stelle. Darauf war ich ziemlich stolz.
Voraussetzung für das Studium war ein Praxisjahr im Krankenhaus, das ich brav herunterriß. Freilich nicht brav genug für die Oberschwester und die anderen, die etwas zu sagen hatten. Denen war ich viel zu aufsässig, denn ich sah mich schon als künftigen Arzt und drang darauf, bei den Visiten von Krankenbett zu Krankenbett mitzugehen. Um mir zu zeigen, daß ich noch der allerletzte Dreck bin, mußte ich während dieser Zeit, wo ich wirklich etwas hätte lernen können, oft die Urinflaschen wegtragen oder Essensgeschirr für die nächste Mahlzeit austeilen. Nicht immer schluckte ich das klaglos, so daß sie am Ende dem Wehrkreiskommando den Tip gaben, den Pietraß holt mal erst noch zur Armee, der ist nicht reif fürs Studium. Da brach für mich eine Welt zusammen, und ich ließ den Studienplatz verfallen und bewarb mich während der Armeezeit für Klinische Psychologie. Diese Spezialisierung gab es nur an der Humboldt-Universität. So kam ich nach Berlin. Außerdem lebte in Berlin meine Schwester. Ich hatte sie schon als Sechzehnjähriger besucht und mir die Stadt erobert. Jeden Morgen zog ich um acht Uhr nach dem Frühstück los und machte systematisch meine Erkundungen.
Mit Studienbeginn wohnte ich in Lichtenberg in der Orloppstraße 5. Das war eine geteilte Wohnung, wo vier Mietparteien jeweils ein Zimmer bewohnten und Küche und Bad gemeinsam nutzten. Diese beiden Räume waren staubig und vernachlässigt, da ließ niemand etwas Persönliches, nicht mal eine Gabel oder ein Schneidbrett, liegen, und so wirkten sie wie zwei kahle Verliese. Meine unmittelbare Nachbarin war eine achtzigjährige, etwas verwirrte Dame; hinten wohnte ein überaus fleißiger Medizinstudent, der wie ein Uhrwerk Klausur um Klausur vorbereitete und seine Prüfungen absolvierte; und im dritten Raum lebte ein junger Arbeiter, mit dem sich kaum Kontakt ergab. Mein Zimmer hatte mir ein Freund überlassen, den ich bei der Armee kennen gelernt hatte und der nun in Zwickau studierte.
1970 bekam ich eine schwer vermietbare Hinterhofwohnung in der Dimitroffstraße 47 im ersten Stock. Ich hatte ein Berliner Zimmer mit Küche, die Toilette eine halbe Treppe tiefer. So wohnten Studenten gewöhnlich. Im Vorderhaus war die Kneipe Zum Stammtisch, und ich litt furchtbar. Die Entlüftung klappte nicht, an meinem Fenster stiegen immer die Küchendämpfe vorbei, so daß ich es kaum öffnen konnte. Noch schlimmer waren der Lärm der Musikbox unten und der Kneipenbetrieb bis Mitternacht und länger.
Dort wohnte ich bis 1976. Dann ging ein enger Freund in den Westen, und ich bat ihn, mir die Schlüssel seiner Wohnung in der Oderberger Straße zu überlassen und nicht bei der studentischen Wohnungskommission abzugeben. Er war ein sehr korrekter Mensch, es fiel ihm schwer, mit mir etwas Halblegales zu tun, aber dann willigte er ein. Dem Hauswirt erzählten wir, daß das ein Tausch innerhalb der Universität sei, damit konnten wir ihn beschwichtigen. Die Verzweiflung machte mich entschlossen, ich wäre durchgedreht in der anderen Wohnung. Von 1976 bis 1993 habe ich in diesen Räumen eingewohnt, jetzt ist es sozusagen nur noch meine Dichterstube. In dem hinteren der beiden Zimmer hatte ursprünglich eine Rentnerin gelebt. Als sie ins Krankenhaus und dann ins Pflegeheim ging, hatte sich mein Freund das zweite Zimmer stillschweigend erobert, und ich erbte dann beide Räume. Jahrelang mußte ich mit der Uni kämpfen, bis ich die Wohnung endlich legalisieren konnte. Das zog sich bis Mitte der achtziger Jahre hin.
Ich hatte sogar eine Toilette in der Wohnung, sozusagen ein Notklo. Als die Häuser gebaut wurden, waren die Toiletten im Hof. Dort gab es ein Häuschen mit sechs Klos, das ist später abgerissen worden. Aber damals lagerte ich in so einem Toilettenkabuff meine Kohlen, das war mein Keller. Die Häuser waren für Offiziere gebaut worden in einer Zeit, als der Jahn-Sportpark noch ein großer Exerzierplatz war. Die Oderberger war eine breite Straße, wo im Vorderhaus die Offiziere wohnten und im Hinterhaus einfachere, ärmere Leute. In der Nachkriegszeit wurden die Wohnungen wegen der Wohnungsnot geteilt, die zugemauerten Türen kann man heute noch sehen.
Ich habe hier in all den Jahren nichts verändert. Ich bin ein Typ, der in fertige Gehäuse schlüpft und nicht bestrebt ist, sie zu prägen. Ich beziehe mein Selbstverständnis nicht aus meiner Wohnung, sondern aus dem, was ich tue, darum habe ich da wenig Kraft rein gesteckt. Da ist wirklich noch die Tapete meines Freundes, seine selbstgebastelte Lampe, seine Furnierdecke, nichts habe ich verändert. Ich finde das nicht gerade schön, aber ich nehme es kaum wahr. Ich bin ein Mensch, der durchaus mit Scheuklappen irgendwo sitzen kann, ich kann mit ungelösten Problemen leben, auch mit einer ungestalteten Wohnung.
Zum Arbeiten muß ich zu Hause sein oder anonym durch die Welt treiben. Wenn ich in der Straßenbahn sitze oder so, fallen mir viele Sachen ein, da kann ich den Strom des Unterbewußten an mich heranlassen. Ich bin viel zu erregbar, viel zu irritierbar, um in der Öffentlichkeit etwas tun zu können. Ich kann auch nicht in Bibliotheken arbeiten. Ich gucke sofort, was für interessante Menschen dort sitzen, und beobachte sie, anstatt mich meinen Dingen zuzuwenden. Ich muß in einem möglichst langweiligen Raum sitzen mit möglichst wenig Komfort, das ist das Beste.
Ich bin ein sozialer Spätentwickler. Geheiratet habe ich 1982, mit 36 Jahren. Aber mein ältester Sohn wurde schon 1975 geboren. Wir führten eine sogenannte wilde Ehe, doch eine Woche, bevor unser Ältester eingeschult wurde, ließen wir uns ihm zuliebe trauen, damit er in der Schule keine unnötigen Probleme kriegt. – Meine Frau lebte zuerst in der Dircksenstraße in Mitte. Das war auch eine Einzimmerwohnung, vier Treppen, nur Außenwände, also eiskalt. Als unser Sohn geboren war, erkämpfte sie sich eine AWG-Zweizimmerwohnung in Marzahn. Als unser drittes Kind kam, erhielten wir eine Fünfzimmerwohnung in der Otto-Winzer-Straße, der heutigen Mehrower Allee, und dort lebe ich jetzt mit den Kindern.
Die Wohnung in der Oderberger Straße war mein Hauptwohnsitz, wo ich den größten Teil des Tages verbrachte. Ich fuhr auch nicht jeden Abend zur Familie, sondern manchmal blieb ich zwei oder drei Tage hier. Ich pendelte also zwischen den beiden Welten Prenzlauer Berg und Marzahn. Ich fand das sehr interessant, weil man, wenn man an einem Ort zu lange und ausschließlich lebt, betriebsblind wird. Man bildet sich ein, alles wunderbar zu kennen, was ja auch stimmt, aber zugleich ist man von partieller Blindheit befallen, weil einem alles selbstverständlich wird. Erst wenn ich weggehe und wiederkomme, staune ich und merke, daß manches sehr seltsam ist. Dieses Pendeln hat mir für beide Bezirke den wachen Blick bewahrt. Ich habe zwar viel Zeit verloren durch das Hin und Her, aber das war auch Zeit, wo ich dösen konnte. Dösezeit ist Ideenzeit.
Das Negative an Marzahn war und ist das Optische. Es ist einfallslos gebaut. Die Herrschaft des Quaders, sehr spartanisch, die nackte Funktion. Es ist an den Häusern nichts, was schön ist. Das ist völlig versäumt worden. Es ist wenig anheimelnd, weil es keine schrägen Dächer gibt. Das sieht aus, als ob die Häuser amputiert sind, enthauptet. Das stört mich. Und auch, daß die Ausstattung der Wohnungen so karg ist. Eigentlich sind beide plebejische Bezirke. Der Prenzlauer Berg ist sozusagen der Armeleutebezirk des letzten Jahrhundertendes, und Marzahn ist der Armeleutebezirk der sozialistischen Zeit, obwohl die Menschen dort keine armen Leute waren und sind. Marzahn ist wohlhabender als Schöneberg oder Wedding, weil die Familien, die dort leben, jung sind und meistens beide Arbeit haben. Das Einkommen ist höher als in manchen Westbezirken. Trotzdem stört mich diese ästhetische Armut sehr. Positiv finde ich, daß ich von dort aus rasch im Umland bin, und daß es luftig ist. Zum einen gut durchlüftet durch die lockere Bebauung, und zum anderen, weil keine Kohleöfen geheizt werden. Für die Kinder ist es gefahrloser, da es auf vielen Straßen kaum Verkehr gibt. Zwischen den Häusern ist mehr Platz als hier. Marzahn ist grüner als Prenzlauer Berg.
Die Infrastruktur in Marzahn ist dürftig. Keine Buchhandlung auf Fußweite zu haben, ist traurig, und daß sich das Einkaufen in den Kaufhallen, die jetzt Supermärkte heißen, zusammenballt, ist auch traurig. Das alles hatte mit Mangel zu tun, und ich fand es kränkend, daß dies allen so auferlegt wurde: Zieht erst mal ein, alles andere kommt später! Es dauerte zehn Jahre, bis der sogenannte Wohngebietspark wirklich ein Park wurde. Bis dahin war er nur Ödland. Auch zwischen den Häusern war alles so lieblos gemacht. Also das Auge, der Schönheitssinn hungerte und dürstete, das war vielleicht das Schlimmste an Marzahn. Erst jetzt fängt es da an, farbiger und zugleich grüner zu werden.
Trotzdem habe ich nie Kraft darauf verwendet, mich zu verbessern. Was soll ich in Zehlendorf, wo lauter reiche Knöppe wohnen. In Marzahn verliere ich nie den sozialen Blick, den Blick von unten, und so explosiv, wie es sensationsbeflissene Sendungen manchmal darstellen, ist es dort gar nicht. Ich bin in den vielen Jahren noch nicht in eine einzige gefährliche Situation geraten. Ich glaube, es passiert nicht mehr als anderswo. Die meisten Leute, die nach Marzahn zogen, waren junge Familien mit Kindern, das waren tüchtige, begabte Leute, Leute mit Arbeit, und solange keine Armut ist, entsteht auch keine explosive Atmosphäre. Das wird erst in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren kommen, wenn sich dieser Bezirk durch das Adressendenken entmischt. So etwas gab es ja früher nicht, daß Leute, die noch keinen Berufserfolg haben, als erstes in einen Bezirk ziehen, der einen guten Ruf hat, um Pluspunkte zu sammeln.
Mir war das recht, daß sich die Szene hier im Prenzlauer Berg entwickelt hatte. Ich konnte zu Fuß in die Wolliner Straße zu Elke Erb gehen, und auch zu Ekke Maaß konnte ich notfalls laufen. Das war angenehm, daß man ohne großen Aufwand den Kontakt hatte zu dem ganzen. Ich kannte ja die Autoren schon, bevor sie sich zur Gruppierung fanden. Ich war seit 1975 Lektor im Verlag Neues Leben, und im Sommer 1976 kriegte ich ein Manuskript von Bert Papenfuß auf den Tisch, noch gerichtet an: „Sehr geehrter Herr Jentzsch“. Bernd Jentzsch war aber in der Schweiz, er wollte eine Anthologie Schweizer Lyrik herausbringen, so daß ich Papenfuß antwortete, den Kontakt zu ihm herstellte und, als Jentzsch nicht wiederkam, mich weiter um ihn kümmerte. Ich konnte Papenfuß in einer Anthologie veröffentlichen sowie in der Zeitschrift Temperamente. Genauso war mir Stefan Döring als begabt aufgefallen. Ich förderte sie schon, bevor sie bekannt wurden, konnte aber nicht lange etwas für sie tun, weil bald Widerstände auftauchten. Besonders im Falle Papenfuß. Das hing mit seinem Vater zusammen, wie er mir später erzählte, einem hohen Offizier der Volksarmee, der im Begriff war, in den Generalsrang aufzurücken. Da gab es ein großes Bestreben, daß ihm sein Boheme-Sohn nicht die Karriere vermasselte. Papenfuß sollte möglichst seinen Mund nicht mehr öffentlich auftun, was dazu führte, daß Lesungen reihenweise ausfielen und seine Texte aus Anthologien herausflogen. Irgendwie spürte man immer diesen Hintergrundwiderstand, aber der war nicht faßbar. Ich fand das sehr schade, weil ich von seiner Begabung überzeugt war. Es war eine Ohnmachtserfahrung, ihm nicht zur verdienten Öffentlichkeit verhelfen zu können. Nach den ersten Bemühungen hatte ich nur noch Mißerfolge, meine Versuche wurden immer wieder von finsteren Mächten zu Fall gebracht.
Ich kannte also die entscheidenden Leute der Szene früher als andere, die sie dann noch einmal entdeckten; Gerhard Wolf war nicht der Entdecker von Bert Papenfuß und Stefan Döring. Auch Karl Mickel hat sich für Papenfuß erst eingesetzt, als es zwar immer diese Behinderungen gab, er aber schon lange veröffentlicht hatte. Da war es allerdings schon wichtig, daß diese bekannten Kollegen sich wieder und wieder für die Jungen einsetzten, deren Durchbruch der Staat behinderte. Das ist kein großes Verdienst von mir, ich war eben im Verlag, wo Leute Manuskripte hinschickten. Und in dem Wust war dann mal etwas dabei, wo man ein starkes Talent spüren konnte, und da setzte man alles daran, daß die auch wirklich dabeibleiben, und versuchte, daß sie nicht bloß in einer Anthologie erscheinen, sondern auch ein eigenes Poesiealbum bekommen. Das hatte ich sowohl für Bert Papenfuß als auch für Stefan Döring versucht, aber es war beides nicht zu realisieren. Meine Zeit war zu kurz und der Widerstand zu groß. Doch es gab viele Gelegenheiten, sie wenigstens zu Lesungen zu empfehlen. Aber als ich aus dem Verlag rausflog, waren meine Möglichkeiten, sie zu fördern, erschöpft.
Ich selbst habe ganz unschuldig, ganz unwissend angefangen zu schreiben: am Ende meiner Militärzeit. Es war für mich etwas, worauf ich wirklich nicht gefaßt war, eine große Überraschung. Ich wußte auch gar nicht, als ich so in Notizbüchern herumzukritzeln begann, daß ich nun anfange zu schreiben. Mich bewegte etwas, und das bewegte mich so, daß ich es niederschrieb, damit ich es sozusagen aus dem Kopf raus hatte. Das wurden dann Zugaben in den Briefen an meine Freundin. Sie war Oberschülerin, und ich steckte da hinter der Kasernenmauer, erlebte so gut wie gar nichts und wußte manchmal nicht, was ich ihr überhaupt noch schreiben sollte. Da kamen mir diese Einfälle sehr zupaß, die schrieb ich immer gleich oben neben die Anrede hin, irgendwelche neckischen Zeilen. Das war der Beginn. Als ich im April 1968 entlassen wurde, habe ich das sofort wieder vergessen.
Dieser Keim regte sich erst wieder, als ich zum Studium nach Berlin kam. Da erinnerte ich mich, und wie ein Eisenspan, der ins Magnetfeld geraten ist, suchte ich Anschluß an literarische Zirkel. Das war ja durchaus das Angemessene für einen Studenten, der mal ein bißchen herum geschrieben hatte, unterhalb jeglichen Niveaus. So kam ich zum Lyrikklub Pankow, einem Zirkel, der sich nur der Poesie verschrieben hatte. Zu dem fand ich im Spätherbst 1968. Das war toll. Jeden Donnerstag konnte man dort hingehen, Gedichte vorlesen und über Gedichte debattieren, nicht nur über selbstgeschriebene, sondern auch über Lyrik von García Lorca oder was man sonst noch großartig fand. Dies war genau das Richtige für mich, Kritik zu erfahren, aber auch die anderen kritisieren zu können.
Ich suchte dann noch den Anschluß an eine Gruppierung, die von Peter Hacks betreut wurde, und zu einem von Hannes Würtz geleiteten Zirkel bei der Jungen Welt. Aber der war schwach, da ging ich schnell wieder weg. – Bei der Gruppe um Peter Hacks war bemerkenswert, daß er gar nicht der Typ war für den Bitterfelder Weg, sondern ein hochnäsiger Olympier. Ich rätselte immer, warum macht er das, warum kommt er einmal im Monat und widmet sich einem Zirkel von schreibenden Arbeitern? Will er dabei sein Ohr ans Volk legen, oder will er sich politisch ein bißchen Liebkind machen, warum setzt er sich diesem Schwachsinn aus, der da teilweise auch verzapft wurde? Statt fand das in der Hagenauer Straße in der Wohnung des Arbeiterveterans Bruno Jacob und seiner Frau. Das waren bildungsbeflissene Menschen aus der Arbeiterklasse. Sie hatten ein großes Zimmer voll mit Büchern bis zur Decke, eine große Bibliothek, aber das Genie, die Begabung fehlte. Und Hacks kam immer dorthin und spielte Gott, der den Daumen hoch oder runter, aber meistens runter hielt. Er thronte auf der Lehne eines Ohrensessels wie ein Pavian auf seinem Affenfelsen und quälte die, die was vorlasen und danach lechzten, einmal ein Lob und nicht nur vernichtende Kritik von Peter Hacks zu hören. Das war nahezu ein sadomasochistisches Happening.
Ich erinnere mich noch, mir war es mal mit einem einzigen Text gelungen, fast anerkannt zu werden. Es war eine Romanze auf Lorcas Tod, die nur einen Schönheitsfehler hatte, sie enthielt einen Reim, und die Romanze, so wurde ich belehrt, kennt keinen Reim. Den hätte ich eliminieren müssen, aber er ist heute noch drin. Jedenfalls dachte ich, das tust du dir nicht länger an, und entfernte mich mit Schaudern.
1974 hatte ich meine erste Veröffentlichung, das war das Poesiealbum. Ich war in der letzten Phase Forschungsstudent. Mein Grundstudium hatte ja schon 1972 geendet, durch die Hochschulreform war uns ein Jahr geklaut worden, worüber ich sehr zornig war. Dieses Forschungsstudium hatte ich mißbraucht, um mich in aller Stille mit dem Stipendium, das mir eine gewisse materielle Sorgenfreiheit gewährte, zum Schriftsteller anstatt zum Wissenschaftler auszubilden. Ich stand jeden Tag vor der Frage, bleibe ich jetzt hier und lese Gedichte oder fahre ich in die Staatsbibliothek und lese amerikanische Fachzeitschriften. Ich blieb viel zu oft zu Hause und habe meinen Doktor nie gemacht.
Ich war ein glänzender Psychologiestudent, darum traute man mir etwas zu, aber es fiel mir schwer, Fachtexte zu schreiben. Deshalb hatte ich darum gebeten, daß man mir die Diplomarbeit erlassen möge und ich nur die Doktorarbeit schreiben muß. Darauf ließ man sich ein und fragte nur gelegentlich, wie weit ich wäre. Ich druckste herum und redete mich heraus, aber wohl war mir nicht dabei. Einen Monat vor Ablauf der Frist kam mein Offenbarungseid, weil ich zwar eine gute Theorie entwickelt hatte, aber eben nicht auf dem Papier. Ich sah nicht ein, warum ich nun noch Monate sitzen sollte, um das nach allen Regeln der Wissenschaftskunst auszubreiten. Mein Professor erschrak natürlich zu Tode, doch gleichzeitig hatte er Mitleid mit mir. Er sagte, daß ich wenigstens einen Forschungsbericht schreiben solle, den man als Diplom werten könne, damit ich einen Abschluß habe. So raffte ich mich zusammen und schrieb in den letzten vier Wochen meine Diplomarbeit, gab sie ab und verteidigte sie mit Zwei. Das war eine pädagogische Note. Weil ich die Arbeit auf den letzten Drücker gemacht hatte, konnte man das nicht besser bewerten.
Im Januar 1975 gab mir Klaus-Dieter Sommer den Tip, daß im Verlag Neues Leben eine Stelle frei wird. Bernd Jentzsch wollte die Lektorenstelle aufgeben und nur noch das Poesiealbum herausgeben und sich ansonsten zurückziehen und freiberuflich arbeiten. Die Stelle war genau das, worauf ich unbewußt immer gewartet hatte. Es schien mir traumhaft, mich Tag um Tag um Tag mit Gedichten beschäftigen zu können und dafür noch bezahlt zu werden. Ich sagte mir, Psychologe kannst du immer sein, aber Lyriklektor nicht, das mußt du jetzt wahrnehmen oder es klappt nie. So bewarb ich mich als einer von dreien oder vieren und bekam die Stelle. Dort kannte man mich schon als Autor meines Poesiealbums, das war mein Glück. Aber das Glück währte nicht lange, weil schon ein Jahr später die Biermann-Ausbürgerung kam und die Kulturpolitik in größte Turbulenzen geriet, was sich voll auf die Verlage auswirkte. Es wurde wieder eng, wieder dogmatisch, wieder übervorsichtig zensiert, so daß es sehr, sehr schwer war, da noch etwas Anständiges zu leisten. Und es endete ja auch damit, daß ich nach vier Jahren entlassen wurde, weil ich diese Verhärtung nicht mitmachen wollte. Es gab laufend Konflikte mit meinen Chefs. Im Februar 1979 sollte ich von einem Tag auf den anderen den Verlag nicht mehr betreten, das war eine Nacht- und Nebelaktion, aber darauf ließ ich mich nicht ein. Ich sagte, ich sei bereit zu gehen, aber nur unter der Bedingung, daß ich den vollen Jahrgang des Poesiealbums noch zu Ende betreue, und sei es von Zuhause aus. Damit gaben sie sich zufrieden, Hauptsache, sie wurden mich in absehbarer Zeit los. Ja, und so wurde ich 1979 freiberuflich.
Im Sommer 1975 wurde ich vom damaligen Verlagsleiter Hans Bentzien außerdem für die Temperamente gewonnen. Er hatte mich zu sich gerufen und erzählt, was ihm vorschwebte. Mir gefiel das sehr, und die zusammengerufene Redaktion begann bald, am ersten Heft zu arbeiten. Doch schon die Herausgabe dieser ersten Nummer gestaltete sich als äußerst schwierig. Wir mußten das Manuskript dreimal abgeben; es war zweimal vom FDJ-Zentralrat zurückgewiesen worden, erst der dritte Anlauf wurde akzeptiert. Und so mühsam ging das weiter bis zum Sommer 1978. In meiner Zeit hatten wir elf Hefte vorgelegt, von denen nur fünf erschienen sind. Das war ein wahnsinniger Nervenkrieg, und wenn man sich heute so ein Heft anschaut, fragt man sich, wofür eigentlich? Was wir da anstrebten, war noch lange nicht der Umsturz der DDR, das war nur ein Stückchen mehr geistiger Freiraum. Aber diese paar Prozent mehr bedeuteten schon den härtesten Kampf, weil die genau spürten, wir gingen über die von ihnen vorgegebene unsichtbare Grenze, und da wurden wir ständig zurückgeholt. Dieses Ringen hinter den Kulissen war sehr erschöpfend. Fritz-Jochen Kopka sollte in die SED eintreten, damit er Chef bleiben kann. Das machte er, weil es sich für dieses Projekt zu lohnen schien. Man blieb aber unzufrieden mit ihm und setzte ihm jemand von außen als Chefredakteur vor die Nase. Es wurde Karl-Heinz Jakobs engagiert, ein bewährter Schriftsteller und Genosse. Doch den haben wir umgedreht. Der begriff, es geht nur so oder gar nicht. Nach seinem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung wurde Jakobs verjagt. Kein Heft erschien unter seiner Ägide, obwohl mehrere in Druck waren. Dann kam Rulo Melchert von der Jungen Welt, das nächste Aufgebot. Selbst den haben wir neutralisiert, ihm seine Aufpasserfunktion genommen. Der Höhepunkt war, als Klaus Höpcke mit beflissener Zustimmung vom Verlagsleiter Rudi Chowanetz seinen ganz fiesen, sudelnden Anti-Biermann-Artikel, der so schlimm wie der von Hacks war, gedruckt sehen wollte. Der kursierte wie ein Schwarzer Peter von Redaktion zu Redaktion. Selbst die staatstreuen Redakteure merkten, daß dieses miese Papier nur zur Schande ihres Blattes beitragen würde, und komplimentierten es weiter. Die Weltbühne hatte gesagt, sie hätten ja schon Hacks gebracht. So landete es schließlich bei Temperamente. Wir begriffen, zumindest die halbe Redaktion, wenn wir das veröffentlichen, sind wir moralisch erledigt. Deshalb machten wir in der Redaktion eine Kampfabstimmung – mit dem Ergebnis, daß alle, die in der Partei waren, für den Abdruck waren, und alle Parteilosen dagegen. Und da wir ein Parteiloser mehr waren, ist uns diese Schande erspart geblieben.
Als Biermann ausgebürgert wurde, war ich in Ungarn, kriegte also nicht richtig mit, was lief. Ich war im Hotel Astoria und kaufte jeden Tag das ND und die F.A.Z., um mir ein Bild zu machen, und als ich wiederkam, hatte sich alles fast schon beruhigt. Ich tauchte bei Elke Erb auf und wollte auch noch unterschreiben. Ich glaube, sie sagte, es seien genug, oder daß die nicht so Bekannten nicht mehr unterschreiben sollten, weil sie weniger geschützt seien. So oder so war es, ich weiß es nicht mehr ganz genau, jedenfalls habe ich nicht unterschrieben. Diese Unterschrift wäre zwar eine stolze Sache gewesen, aber mit wenig Resultat. Die Arbeit im Verlag, so sehe ich das heute, war eine größere Kraftanstrengung.
Als Autor angekommen war ich eigentlich erst 1980 mit meinem Band Notausgang. Das war ein richtiges Buch von etwa achtzig Seiten. Das Poesiealbum war ja mehr eine Schwalbe, die noch nicht ganz den Pietraß machte. Als jemand, der andere schon förderte, suchte ich selbst noch den Halt und das Wohlwollen und die fördernde Kraft Älterer. Dabei erfuhr ich auch einiges an Schönem. Franz Fühmann, der sich um eine Reihe Jüngerer bemühte, besonders um solche, die in Schwierigkeiten waren, hatte sich auch meiner angenommen. Ich gehörte zu denen, wo er glaubte, ein Talent zu sehen, und wo er ein Stückchen helfen wollte. Er verabschiedete sich genau in dem Moment, als sich andeutete, daß ein Gedichtband von mir bei Hinstorff erscheinen sollte. Da sagte er: „Herr Pietraß, bei Ihnen läuft es ja nun, melden Sie sich wieder, wenn Sie Schwierigkeiten haben.“ Es war ihm immer sehr wichtig, denen zu helfen, die nicht gedruckt wurden. – Der Band kam dann nie zustande, weil der Cheflektor von Hinstorff und auch der Verlagsleiter, zwei Stasileute, mich hinhielten. Fühmann dachte, er hätte mir den Weg dorthin gebahnt, es war aber nicht so. Zum Glück kam dann der Aufbau Verlag auf mich zu und wollte mich drucken. Das teilte mir Wolfgang Trampe bei der 1.-Mai-Demonstration mit. Es war in der Zeit, als ich noch im Verlag Neues Leben arbeitete, da ging ich im Block der Schriftsteller mit, und während wir so durch Berlin latschten, machte er mir das Veröffentlichungsangebot.
Später half mir Stephan Hermlin, doch nicht in einem so aktiv fördernden Sinn. Fühmann hatte sich die Sachen angeguckt und sich damit auseinander gesetzt, Hermlin nahm sie zur Kenntnis, ließ sich aber zu keiner großen Äußerung herab. Ich schrieb ihm einen Brief nach seiner Rede auf dem Schriftstellerkongreß 1978, in der er sich als ein spätbürgerlicher Schriftsteller bekannt hatte. Diesen Kongreß hatte ich als Kandidat des Schriftstellerverbandes mitgemacht, voller Vorbehalt gegen diese staatstragende Großinszenierung. Ich hatte mich im Volkskammersaal ganz bewußt in die hinterste Reihe auf den äußersten Platz gesetzt. Ich wollte auf keinem Foto sein. Ich schämte mich, dabei zu sein. Aber die Rede hatte mich sehr beeindruckt. Ich schrieb ihm am nächsten Tag einen langen Brief, in dem ich ihn auch bat, mein Bürge für die Aufnahme in den Verband zu werden. Er hatte dann seine Bereitschaft erklärt und lud mich zu seiner Geburtstagsfeier ein, eine aus seiner Sicht große Geste. Das war Hermlins Art der Förderung, eben die eines Grandseigneurs.
Ich fühlte mich zu den Älteren hingezogen, auch zu Erich Arendt. Bei ihm gefiel mir der geistige Austausch, das Reden über Autoren, die er noch alle kannte. Arendt war der Anschluß an die Weltliteratur. Von den Erfahreneren war es Paul Wiens, der auf mich zukam und mich zum Beispiel als Nachdichter empfahl. Ich ahnte nicht, daß Wiens gleichzeitig mit Stasi-Ohren hörte, aber das ist im nachhinein nicht das Wichtigste.
In der Zirkelzeit in Pankow war es Wolfgang Tilgner. Er hatte sich sehr um mich gekümmert, ich konnte jederzeit zu ihm kommen. Er leitete den Lyrikklub und arbeitete zugleich straff für die Stasi. Dennoch war diese Phase für mich wichtig. Ich hatte das Gefühl, daß er meine Texte aufmerksam las und von seinem gefestigten Standpunkt aus seine Meinung sagte, aber es beschränkte sich nicht auf die politische Wertung. Später war ich schon irritiert, als ich in meinen Stasiakten eine längere Einschätzung von ihm über mich las. Allerdings war dieser Teil der Akten, der von ihm stammte, noch das Interessanteste, weil er sich bemüht hatte, mich psychologisch zu erfassen. Ansonsten habe ich an diesem Tag, als ich bei der Gauck-Behörde saß, oft gegähnt. Ich fand Ablichtungen von vielen meiner Briefe, die ich als kontaktfreudiger Mensch ins Ausland geschickt hatte. Die Kopien besaß ich freilich auch alle selbst. Ich hatte ja früher immer mit Kohlepapier Durchschläge gemacht, damit ich wußte, was ich überhaupt geschrieben hatte. Sonst enthielt die Akte viel Kleinliches und von den wirklich spannenden Dingen nichts.
Wichtig war für mich vor allem Elke Erb, zum einen, weil sie nahe wohnte, und außerdem hatten wir eine Zeitlang einen eigenen Autorenkreis, noch bevor es die Prenzlauer-Berg-Szene gab. Fast könnte man ihn die „Gruppe 46“ nennen, weil wir drei waren, die dem Jahrgang 1946 angehören: Brigitte Struzyk, Hans Löffler und ich. Dazu gehörten noch Bernd Wagner vom Jahrgang 1948 sowie Elke, die 1938 geboren wurde. Wir trafen uns einmal im Monat in der Schwedter Straße bei Brigitte. Es war eine ruhige, kritische Geselligkeit. Wir lasen uns unsere Sachen vor, aber nicht sofort. Zunächst wurde ausführlich geplaudert, erst dann begannen wir mit dem Vorlesen. Wir trugen hauptsächlich eigene Texte vor. Nach einiger Zeit luden wir auch gern noch jemanden hinzu, um nicht der Gefahr zu erliegen, im eigenen Saft zu schmoren. Erich Arendt zum Beispiel war mal da. Es ging darum, sich auszutauschen, und weniger darum, sich in Bezug auf Kontakte zu Verlagen zu helfen. Wir waren ja Autoren, die mehr oder weniger bereits ihre Veröffentlichungsmöglichkeiten hatten. Im Prinzip waren wir alle beim Aufbau Verlag, da war keiner, der in den Untergrund gedrückt wurde. Sicher gab es zwar immer mal Schwierigkeiten mit dem einen oder anderen Text, aber grundsätzlich hatten wir alle einen Verlag.
In aller Bescheidenheit wurde dabei gegessen und getrunken. Es gab Salat, Brot, Käse, Butter, ein paar Tomaten, und wir brachten jeder vielleicht eine Flasche Wein mit oder etwas anderes zu trinken, aber maßvoll. Keine Schwelgereien, es ging ja auch keinem so glänzend, daß wir hätten prassen können.
Das ging so über drei Jahre. Beendet wurden unsere Treffen nicht etwa wegen politischer Dinge, sondern dadurch, daß Brigitte einen neuen Freund hatte, der eifersüchtig auf uns war. Der geriet mal mit Bernd Wagner so aneinander, daß die beiden die Treppe hinunterkollerten. Da wurde es ungemütlich. Bei uns anderen ließ es sich nicht so gut machen, Brigitte war die Salondame, das war nicht umzupflanzen. So hörte es auf, durch einen Treppensturz.
Das war eine wichtige Zeit, sehr kollegial und getragen von der Gleichheit einer Generation. Ich bin jemand, der in Generationen fühlt und auch lebt. Auch darum wäre es mir nicht möglich gewesen, mit Bert Papenfuß oder Stefan Döring gemeinsame Sache zu machen. Mir war ganz klar, zehn Jahre Altersunterschied bedeuten eine Welt. Ich konnte ihnen nur freundschaftlich verbunden sein, aber nicht derselben Gruppe angehören, das ging einfach nicht.
Natürlich erzürnte es mich, daß man es den Jungen mit ihren klar vorhandenen Begabungen so schwer machte, in die Öffentlichkeit zu kommen. Ich fühlte mich aufgefordert, ihnen zum Durchbruch zu verhelfen. Ich spürte die Abwehr der Gesellschaft gegenüber ihnen, die so gar nicht mehr angepaßt waren, die auch mit diesem Gesellschaftsentwurf nichts mehr am Hut hatten. Wenn ich der DDR vielleicht noch verbunden war in so einer Art von kritischer Loyalität, war bei ihnen nichts mehr mit Loyalität und Kritik. Das juckte sie alles nicht. Es war Gleichgültigkeit und damit auch Unabhängigkeit.
Meiner Meinung nach war der Prenzlauer Berg keine Opposition. Das war eine fröhliche Boheme, die sich das Ihre nicht nehmen ließ. Sie legte sich zwar auch mal mit der Macht an, das war aber nicht ihr Lebensinhalt. Sie wollten nur künstlerisch lebendig sein und sich nichts nehmen lassen. Es gab dort niemanden, der die DDR abschaffen wollte, es waren keine Dissidenten, die sich die Gegnerschaft zum Staat zum Lebensinhalt gemacht hatten. Es gab da niemanden wie Jürgen Fuchs.
Ich hatte nicht den Ehrgeiz, die gesamte Szene zu kennen. Ich fand sehr sympathisch, was bei Ekkehard Maaß stattfand. Er war ein begnadeter Gastgeber, ein großherziger Inspirator schöner Geselligkeit, er war ein wunderbarer Interpret von allen, die er liebte – Bulat Okudshawa, Wladimir Wyssotzki, Wolf Biermann. Das waren aufregende, ereignisreiche Abende, ein Ritual, vielleicht wie man früher einmal die Woche zum Gottesdienst ging. Allerdings uferten die Abende später aus. Viel zu viele drängten dann herein, die nicht selbst Autoren waren und es einfach nur schick fanden, dabei zu sein. Dadurch kippte da etwas, so daß die sensibleren sich wieder abwendeten.
Mir genügte dieser eine Punkt, Maaß genügte mir, und nur sporadisch oder wenn mich jemand ausdrücklich darauf hinwies, ging ich auch zu anderen Abenden dieser Art. Ich war eher ein Sympathisant dieser Szene, einer, der nur am Rand und mit der Halbdistanz der älteren Generation dazugehörte. So entsinne ich mich einer Lesung bei den Poppes zu Adolf Endlers 50. Geburtstag. Das war eine bemerkenswerte Lesung, weil Robert Havemann als Ehrengast erschienen war, sich eitel im Sessel drehte und darauf achtete, ob und wie ihn auch alle bewunderten. Der bereits betrunkene Endler kam eine Stunde zu spät und teilte uns mit, daß er gerade Vater geworden war. Während oben die Lesung losging, wurden unten Ausweise kontrolliert. Wo Havemann auftauchte, war ja auch immer die Stasi zur Stelle.
Sehr gern denke ich an einen Nachmittag mit Allen Ginsberg und Peter Orlowski. Hätte ich nicht gerade noch rechtzeitig den Zettel im Briefkasten gefunden, hätte ich dieses Erlebnis verpaßt. Das war etwas Fröhliches, Wunderbares. Ginsberg las und sang, und Orlowski begleitete ihn auf der Gitarre. Dann betätigte sich Ginsberg auch als Bemaler von Wilfriede Maaß’ Keramiken. Die muß es noch geben, wenn sie nicht inzwischen kaputt gegangen sind. Ich konnte ihm bei der Gelegenheit das Poesiealbum überreichen, das ich von ihm herausgegeben hatte. Er war gerührt, daß in einem für ihn vergleichsweise geringfügigen Ländchen ein Heft mit seinen Sachen herausgekommen war. Das war eine schöne Begegnung, weil mich seine Kameradschaft, seine Bescheidenheit, seine Fröhlichkeit und auch der Respekt vor einem, der etwas für ihn getan hatte, beeindruckte. Er war ein Star, der sich wie ein Nichtstar benahm. Wenn man dagegen die Russen erlebte, Jewtuschenko und Wosnessenski zum Beispiel, schauderhaft gebärdeten die sich als Weltautoren, aber Ginsberg war größer als sie und hatte das nicht nötig.
Ein Kneipengänger war ich überhaupt nicht, weil ich Nichtraucher bin. Ich vertrage keinen Rauch. Hier in der Oderberger Straße gab es den Oderkahn, ich war seltener dort, als ich Jahre in der Straße wohnte, vielleicht dreimal. Das hat sich etwas geändert jetzt nach der Wende, wo es schöne Kneipen gibt, die auch nicht mehr so verraucht und überfüllt sind und wo man sich nicht demütigen muß, um einen Platz zu bekommen. Also in dieses WC in der Schönhauser Allee bin ich nie hingegangen. Es war nicht meine Art, dort einen halben Tag oder einen Abend zu verbringen.
Wir waren nie auf außen angelegt. Wir trafen uns wirklich unter uns. Wir luden nicht noch fünfzig andere Leute ein. Bei Ekkehard Maaß und Sascha Anderson ging das ja bis zu Einladungen von Leuten aus der westdeutschen Vertretung. Sie hatten aber auch das Talent, magnetische Gastgeber zu sein. Ich sage mal so, Maaß war der Gastgeber, Anderson der Organisator für die Autoren. Er war der Macher, der keine Scheu hatte, in die westdeutsche Vertretung zu rennen und die Westkontakte herzustellen. Er hatte ja den Segen, das alles zu machen. Ich bewunderte immer Andersons völlige Angstfreiheit – heute ist klar, er brauchte keine Angst zu haben, er mußte nicht das Risiko kalkulieren. Aber bei allem Verrat, bei der Judasrolle, die er spielte, darf man nicht vergessen, dank seiner dubiosen, zwielichtigen Rolle hat der Judas die Verratenen trotzdem berühmt gemacht. Ohne Sascha Anderson hätte es die Prenzlauer-Berg-Szene, so wie sie bekannt wurde, kaum gegeben. Anderson war ein Promoter-Genie. Er organisierte für sich und seine Generation mit größtem Geschick, mit größtem Instinkt, mit einer wirklichen Tüchtigkeit den Ruhm. Er hatte darin eine enorme Gabe. Ich weiß nicht, ob die Leute fähig sind, ihm das genügend zu danken. Bei allem, was er noch tat. Es hätte sicher auch ohne ihn eine Szene gegeben, aber die wäre nicht halb so erfolgreich und nicht halb so berühmt geworden. Es stimmt, er war ein Schweinehund, nicht bloß als Verräter an die Stasi, auch im Zwischenmenschlichen benahm er sich gegenüber vielen mies. Gegenüber mir nicht. Ich erlebte durch ihn nichts Unangenehmes, die ganzen Jahre nicht. Mir begegnete er immer mit Respekt, mit so einem höflichen, freundlichen Respekt vor dem etwas Älteren.
Auch eine richtige Institution und eine ganz wichtige Autorin, darüber wird wenig gesprochen, war Elke Erb. Die Jungen konnten jederzeit zu ihr kommen. Sie sagte nie, ich arbeite gerade, dabei nahmen sie sie sicher ganz schön in Anspruch. Also Elke war fast so eine Art Mutterfigur. Das klingt komisch, aber eigentlich war sie die Mutter der Jungen Wilden, von allen respektiert, und sie hatte die Gabe, durch ihr Dabeisein, ihr Offensein, ihr Aufsuchbarsein fördernd und ermutigend zu wirken. Genau wie Eddi Endler, der zuletzt in der Dunckerstraße 18 wohnte, Duncker volljährig sagte er immer. Bei Elke oder Endler fanden keine legendären Lesungen oder Feten statt, darum wird das heute leicht vergessen.
Mythen haben ihre Zeit. Der Prenzlauer Berg ist ein touristischer Ort geworden. Wessis haben von ihm gehört und suchen ihn auf, als gäbe es ihn noch. Er ist Bestandteil der kulturellen Sightseeing Tour geworden. Für mich ist dieses Kapitel durch veränderte Lebensumstände abgeschlossen. Aber auch für die meisten anderen, die sind nämlich jetzt alle vierzig und nicht mehr dreißig. Und das ist das Alter, wo man sich zurückzieht, vereinzelt, um für sich selbst zu sein. Gesellig zu sein und auch die Zeit scheinbar zu vergeuden, ist ein Privileg der Zwanzig- und Dreißigjährigen. Da klumpt man in Gruppen zusammen, das ist ganz wichtig. Da wächst man auch durch die Hyperkommunikation, aber dann muß es irgendwann reichen, muß man ein Stück reifer geworden sein, sich zurückziehen und auf Seins besinnen. Für jede Generation überlebt sich das. Es werden aber neue kommen, die sich wieder irgendwo zusammenklicken, und auch das, wird wieder richtig sein.
Richard Pietraß 1997 im Gespräch mit Barbara Felsmann, aus: Barbara Felsmann und Annett Gröschner: Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Lukas Verlag, 1999