HERR COGITO UND DER GEDANKENVERKEHR
Gedanken gehn durch den Kopf
meint eine Redensart
die Redensart überschätzt
den Gedankenverkehr
die meisten
stehn reglos
mitten in der öden Landschaft
der grauen Hügel
und dürren Bäume
manchmal erreichen sie noch
den reißenden Fluß der fremden Gedanken
bleiben am Ufer stehn
auf einem Bein
wie hungrige Reiher
erinnern sich traurig
an die versiegten Quellen
drehn sich im Kreise
suchen nach Körnern
sie gehn nicht
denn sie kommen nicht an
sie gehn nicht
denn sie wüßten nicht wohin
sie sitzen am Stein
ringen die Hände
unter dem tiefen
bewölkten
Himmel
des Schädels
dieser Band soll Dich aus besonderem Anlaß erreichen – als Gratulation, Geburtstagsgeschenk, Zuspruch. Als Wiederspiegelung (Echo), als Rückblick auf ein vollendetes halbes Säkulum, als Bilanz.
Hattest Du nicht vor Jahren in Deinem Gedicht Inschrift geschrieben, der duft des welkens sei der allerschönste?
Aber ich sehe kein Gewelke. Ich sehe Ernte.
Deine letzten Gedichte – die Meditationen und Modifikationen, auch Metamorphosen des Herrn Cogito – sind aus mehreren Gründen dem Anlaß dieser Publikation angemessen. Sie sind Zusammenfassung und Rundschau. Sie sind sowohl Bekenntnis als auch Distanz. Und außerdem bedeuten sie, wenn ich sie recht verstehe, eine Wende.
Poetologisch sind sie sowieso die Form-Parade Deiner Möglichkeiten, Deiner lyrischen Tonart und Skala.
Was Du in den letzten fünf Jahren geschrieben hast, faßt zusammen, was Dir die letzten fünfzig Jahre zu denken aufgegeben haben. Hier ist Deine ganze, in Dichtung übertragene Lebensphilosophie gegenwärtig, auf engstem Raum, kompakt. Von der ersten Saite aus Licht, deren Themen hier als Konzentrat und Variation wiederkehren, bis zum letzten Identitätszeugnis des Herrn Cogito. Eine gerade Linie aus Konsequenz und Treue.
Es ist eigenartig schön, Deinen alten, ewig jungen „Familien“-Bildern zu begegnen: dem Kiesel (III), dem reißenden Fluß (XXIII), dem großen reinen Wasser (XXIX, XXXIV).
Auch Deine Medien und Modi, Deine Finalfiguren, die wohlvertrauten Charakteristika, tauchen, assoziationsreich, in den neuen Themen, im neuen Kontext auf: Die Betrachtung eines verstorbenen Freundes (XXXIII) endet am Tor des Tals – mit dem Titel des früheren Gedichts; in Kropotkins Spiel (XXXVIII) dröhnen die beschlagenen Stiefel genauso wie seinerzeit in Fortinbras’ Klage. Die Absicht ist unübersehbar. Die Hauptmotive der Gesamtkomposition werden zum Kehrreim, zum Memento mobilisiert. Das gibt der Sammlung noch stärker die Bedeutung einer Rechenschaft, einer Summe.
Ist diese Summe eine Spiegelbild Deiner Selbst, ganz Dein eigen, so ist sie doch zugleich eine Summe aller Errungenschaften der polnischen Nachkriegslyrik insgesamt. Die Beweiskraft der „nackten Poesie“ der ersten Jahre ist darin enthalten, die Entdeckung der kargen Wahrheit, und dann die Revision der schulbuchpflichtigen Geschichte, der klassischen wie der unklassischen, auch das Verhör der Moral. Und dann – der plötzliche Ausbruch, die Öffnung, nach allen Seiten, von der unmittelbaren „Parteinahme für die Dinge“ bis zu der entferntesten angloamerikanischen instant communication, die polnisch beispielsweise sehr eindrucksvoll Czesław Miłosz vertritt. Ein mehrere Welten umspannender Bogen, eine lyrische Kosmographie fast – doch erdgebunden. Eine Weltsynthese.
Das nachdrücklich Neue schließlich: Hattest Du früher Spiegelbilder gemieden, Dich im Gedicht zu verstecken gesucht, im Sinne der Stoiker und Pascals, um Dich nicht irritieren zu lassen von außen, so blickst Du heute häufiger offen und öffentlich Dir ins Gesicht (VII), beobachtest Deinen Gang (V), sinnst der Beschaffenheit Deiner Träume nach (VI, IX), um eine neue Ausgangsposition zu finden. Dein Mut bekommt konkretere, direktere Zielrichtung. Das Engagement tritt deutlicher aus den Metaphern hervor.
Warten, bis diese Deine letzten Gedichte auf Polnisch erschienen sein würden, konnte ich nicht, wollte ich den wichtigen Termin – Deinen Geburtstag – nicht versäumen. Ich wählte also, übersetzte und gliederte „freihändig“, wie schon oft, aus Manuskripten, die Du mir überlassen hast, oder aus dem, was in Zeitschriften zu finden war.
So stellt ich fünfzig Gedichte zusammen und ordnete sie in Zehnergruppen an. Auf diese Weise fiel es mir leichter, Dich architektonisch zu begreifen und begreifbar zu machen: als Bauwerk, das sich symmetrisch auf die zehn Säulen der musischen und der philosophischen Weisheit stützt. So sind auch die Motti zu den Kapiteln zu verstehen. Sie entstammen den Werken Deiner Lehrer, Deiner Wahlverwandten, Deiner Freunde.
Meine translatorischen Eigenmächtigkeiten – um Dir auch das noch zu berichten – sind diesmal nicht häufiger als sonst: sie überschreiten das eine zulässige Prozent nicht. Wenn ich Baldachine von gestern (XLI) übersetze, statt unmoderne Baldachine, dann deshalb, weil in meine Reihenfolge kurz davor das unmoderne Hütchen (XXXV) vorkommt. Wenn ich im Gedicht XLII genau angegeben in genau aufgezeichnet ändere, dann deshalb, weil „Angabe“ – deutsch zweideutig – mir den Sinn zu beeinträchtigen schien. Mathematik des Mitgefühls zog ich wiederum der wörtlichen Arithmetik des Mitgefühls aus Gründen des Rhythmus in der Schlußzeile vor. Solcherart sind die Freiheiten, die ich mir herausnehme.
Nun bleibt mir zum Schluß noch dies: euch beiden Glück zu wünschen, Dir und Deinem Herrn Cogito,
Karl.
Karl Dedecius, Nachwort
hat Karl Dedecius fünfzig neue Gedichte aus den Manuskripten des Autors ausgewählt und übersetzt. Sie sind geordnet zu fünf Komplexen und mit Motti versehen, die Philosophen zitieren, denen sich der Poet und Denker Herbert verpflichtet fühlt.
Diese Gedichte eröffnen den Rückblick auf ein vollendetes halbes Säkulum: die bekenntnisartige Bilanz eines Lyrikers.
„Was man an Zbigniew Herberts Gedichten bewundern kann, ist das beispielhafte Gleichgewicht zwischen individuellem Ausdruck und Öffentlichkeitscharakter.“ Walter Helmut Fritz
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1974
– An den Gedichten Zbigniew Herberts ist keiner vorbeigekommen. Keiner, der den Schiffbruch der hehren humanistischen Ideen und die Reaktion der vergessenen Massen auf sie erlebt hatte. –
Lieber Zbigniew Herbert!
Es ist ein wenig spät dafür, Ihnen zu schreiben. Die Chance, Ihnen brieflich näherzutreten, ist, ich weiß es, seit langem vertan. Die Vorstellung, es könnte Sie irgendetwas von dem, was hier und heute geschieht, erreichen, wäre nur eine fromme Illusion. Und dies nicht nur für Christen, auch für die Physiker unter uns, denen immerhin das Experiment der Teleportation von Quantenzuständen über Hunderte Kilometer Entfernung gelang, was zu der Hoffnung Anlaß gab, solche Fernwirkung von Materieteilchen könnte dereinst die gezielte Übertragung von Informationen ermöglichen, auch, warum nicht, ins Weltall hinaus. Nie und nimmer aber wird diese hochtechnifizierte Zauberei mittels Photonen jenen Ort (oder vielmehr Nichtort) erreichen, den man seit den ältesten Zeiten, im Alten Ägypten etwa, das Jenseits genannt hat, ein Reich, das aus den Ebenen Himmel und Unterwelt bestand.
Da, wo Sie jetzt sind, erreicht Sie allenfalls der Donnerhall kosmischer Explosionen, die Strahlung der Atombomben, die hin und wieder getestet werden, oder ein Hauch der Erderwärmung, die uns die Klimaforscher vorrechnen, in der Absicht, die Menschheit als ganze, die Bevölkerung im Digitalzeitalter könnte aus den Fehlern des Industriezeitalters etwas lernen und ihr Verhalten zur Atmosphäre des Planeten ändern. Schwer denkbar, Sie hätten etwas von der riesigen Rauchfahne bemerkt, die am 11. September 2001 von einer Kamera an Bord der Internationalen Raumstation ISS aufgenommen wurde, ein Luftbild der brennenden Twin Towers des New Yorker World Trade Center, Momente bevor diese krachend in sich zusammenstürzten, was die politische Landkarte auf dieser Erde für immer veränderte. Krieg im Orient, Terror weltweit, Flucht und Vertreibung von Millionen, eine nicht mehr zur Ruhe kommende Flüchtlingswelle von Afghanistan bis ins innerste Afrika waren die unmittelbaren und mittelbaren Folgen.
Ich kann Ihnen nur sagen, das war die Zäsur, mit der das 21. Jahrhundert begann, das Sie, 1998 in Warschau verstorben, nicht mehr erlebt haben. Eine plötzliche Nostalgie, die mich, der ich wie Sie ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts bin, seither erfaßt hat, läßt hier etwas wie Neid aufblitzen – ein Gefühl, für das ich mich schäme. Ich kann den Vers nicht vergessen, den Paul Valéry mir mit auf den Weg gab in seinem Gedicht „Der Friedhof am Meer“ (Le Cimetière Marin):
Le vent se lève!… Il faut tenter de vivre!
Ein Wind kommt auf!… Und es ist Zeit zu leben!
Bestimmt kannten auch Sie diesen Vers. Ein grundsätzlicher Optimismus in allem, was ich von Ihnen las, und bei allem Sarkasmus, der mir nicht entgangen ist, läßt darauf schließen, daß auch Sie den Wind, von dem da die Rede ist, gespürt haben müssen. Sie, der die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, die Okkupation Polens durch meine Vorfahren, die brutale Besatzungspolitik der Himmler und Frank, diese gezielte Niedertracht, auf polnischem Boden zuerst die Judenghettos, dann die Vernichtungslager zu errichten, als junger Mensch miterlebt haben. Polen und Deutschland, das war über Jahrhunderte hinweg ein problematisches Nachbarschaftsverhältnis, zuletzt ein mörderisches. Wem sage ich das?
Ihnen, dem geborenen Demokraten, der seither Abstand hielt zu allen Formen politischer Tyrannei und sich als Schüler der Philosophie, Liebhaber des kritischen Denkens, gegen jede Ideologie wappnete. Ihnen, der nie vergessen konnte, wie das alles anfing mit dem berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt, der zum Massaker an der polnischen Offizierselite im Wald von Katyn führte, zur Zerreißung des Landes zwischen den Drachen der beiden Diktaturen und schließlich, nach dem Sieg der Roten Armee, zur sowjetischen Hegemonie in diesem schönen alten Kulturgelände zwischen Oder und Bug, das wir heute die Republik Polen nennen. Der Krieg war zu Ende, und wer damals inmitten der Trümmer in sich den neuen Europäer entdeckte, muß diesen Wind gespürt haben.
Mit Ihrem Herrn Cogito habe ich über das Leid meditiert, über den Blutkreislauf, den aufrechten Gang, die Vorstadthäuser, über Pop und Frauenzeitschriften, die Hölle und den Erkenntniswert von Gedichten. Sogar über die Rückkehr in die Heimatstadt.
alles was da gerettet wurde
ist die platte aus stein
Und was Herr Cogito, Ihr berühmtes Alter Ego, über die Hölle zu sagen hat, kennen wir Herbert-Leser in allen Sprachen. Der unterste Kreis „ist ein künstlerasyl, voller spiegel, instrumente und bilder“.
Hier dauern die wettbewerbe, die festivals und konzerte das ganze jahr… Beelzebub fördert die kunst. Er garantiert seinen künstlern ruhe, gute ernährung und eine vollkommene isolation vom höllischen leben.
Auch was Sie persönlich von diesem Leib-Seele-Problem hielten, mit dem die Philosophie sich so lange herumplagte (Subjekt und Objekt, Geist und Materie und so weiter), wissen wir. Ein kleiner Spalt tut sich auf, ein Gedanke zeigt sich, der dem strengen Dualismus entschlüpft wie ein Küken – und es ist gut, wenn die Poesie vor der Philosophie Haken schlägt und den Aporien entkommt –, und vielleicht war es das, was mich ermuntert hat, Ihnen auf diese Weise zu nahe zu treten, mit einem postumen Brief.
Herrn Cogitos seele
verhält sich anders
zu lebzeiten verläßt sie den leib
ohne ein wort des abschieds
monate jahre hält sie sich
in anderen kontinenten
außerhalb Herrn Cogitos grenzen auf
(…)
niemand weiß wann sie heimkehrt
vielleicht ging sie für immer verloren
Und fügen, mit der Ihnen eigenen Zärtlichkeit, hinzu:
gewiß muß sie auch
in anderen körpern wohnen
Um dann noch eine Note höher, noch einfühlsamer fortzufahren:
er denkt an die seele mit rührung
er denkt an die seele zärtlich
Um schließlich, auf dem Höhepunkt angelangt, allen Tränen, die der Mensch um sein eigenes
Leid und Vergehen und das aller anderen vergießt, vorzubeugen:
darum wenn sie unerwartet
erscheint
begrüßt er sie nicht mit den worten
„gut, daß du wieder da bist“
Das war es. Das genügte, um Ihnen, Zbigniew Herbert, fortan aufmerksam zuzuhören. Wie sonst könnte ich einem Publikum, dem man die Wirkung der Poesie (das Wort Lyrik ist mir verdächtig) immer aufs neue erklären muß, begründen, wie es kam, daß Ihre Verse wie ein Blitz in mir einschlugen? Sie haben mich, das ist das Geheimnis der Fernstenwirkung, mit wenigen gezielten Worten erobert. Ich bezweifle, daß ich Sie schon so gut kannte, damals, als ich selbst mich mit dem Erfinder des Cogito, dem Chevalier René Descartes, in eine Unterhaltung begab, die dann in ein langes Erzählgedicht mündete.
An Ihren Gedichten ist keiner vorbeigekommen. Keiner, der den Schiffbruch der hehren humanistischen Ideen und die Reaktion der vergessenen Massen auf sie mittelbar oder unmittelbar erlebt hatte. Sie haben es früh erkannt: „daß die schwarze Tonart der Gegenwartsliteratur aus der Einstellung der Autoren zur Realität kommt“. Umstimmen, gar ändern ließ sie sich nicht, diese Einstellung (so wenig wie die katastrophenschwere Realität selbst). Aber das Ich, das über sie stets Beschwerde führte, dieses kleine quengelnde, quietschende, zufällige Ich, ließ sich vielleicht überwinden.
Von der Geschichte enttäuscht, blieb Ihnen nur die Besinnung auf einen völligen Neuanfang. Universelles Mitleid, die Sorge um das menschliche Gewissen: Das war die Ethik, die Ihre Ästhetik bestimmen sollte. Die Rückkehr zum Einfachen, Elementaren, das war die Wende. Die Hinwendung zu den Dingen: Knöpfe, Hocker, Tische, tote Gegenstände, die immer in Ordnung sind, „und man kann ihnen, leider, nichts vorwerfen“. Das war die Losung, die Lösung. „Gäbe es eine Schule der Literatur, müßte man in ihr vor allem die Beschreibung der Gegenstände üben und nicht die der Träume.“ Wer sonst als Sie wäre auf die Idee gekommen, einen „Hocker“ mit Du anzureden?
das kleine vierbein auf eichenen füßen
(…)
graues eselchen der geduldigste aller esel
(…)
Weißt du mein lieber es hat schon blender gegeben
Nur die Titel, lieber Kleinschreiber Herbert, Springteufel zwischen den Zeiten und Zeilen,
haben Sie noch immer hochgehalten und groß geschrieben. Warum nur?
was hast du gedacht im sprung
zwischen den gleichgestellten worten
zum beispiel freiheit gleichheit brüderlichkeit
dir war doch klar was es heißt
wenn nur noch eigennamen bleiben
Nike Napoleon Niemand
oder irgendein Augustus Claudius Caligula Hiob
während wir und du in den zwischenräumen
geschichte die weder punkt noch komma kennt
in ihrem marsch durch die alphabete
hebräisch griechisch lateinisch
deutsch oder englisch
bei lebendigem leibe VERSCHWINDEN
Ich verdanke Ihnen viel, lieber Zbigniew Herbert. Wie oft sind Sie, gerade Sie, mein Reisebegleiter gewesen. Was mich anzog, war der kühle Berichtston Ihrer Gedichte, der sachliche lautere Stil Ihrer Prosa, die mich nach Italien trug, in die Niederlande, nach Frankreich, bevor ich selbst dorthin reisen konnte. Als ich eines Tages nach Orvieto kam und dort im Dom die Fresken des Luca Signorelli sah, habe ich an Sie denken müssen. Mit meinen Augen, und zugleich mit Ihren sah ich den Weltuntergang des Meisters aus Cortona und war wie Sie geschmeichelt, daß hier ein Leser am Werk gewesen war, ein Leser Dantes. Ich sah seine Auferstehung der Leiber, die sich in einer Landschaft abspielte, platt wie ein Tisch, wie Sie sagen. Da war er wieder, der Vergleich mit einem Möbelstück, dieser Blick für das Handwerk und die einfachen Dinge. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, daß Zeitgenossen, die für mich immer dazugehörten, gleichsam als Inventar meiner Lebenszeit, plötzlich verschwinden könnten wie Sie in dem Jahr, als ich Orvieto besuchte.
Kaum war die Mauer gefallen, bin ich mit Ihnen nach Amsterdam gereist und habe wie Sie über die Tulpenmanie im Goldenen Zeitalter gestaunt. Eilte im Rijksmuseum an den Gemälden der Vermeer und Frans Hals vorbei, um die schaurigen, sadistische Phantasien beflügelnden Stillleben des Johannes Torrentius zu suchen. Manchmal sind Bücher wie Befehle. Weiß ich, was dazu geführt hat, daß ich heute hier stehe? Ich kann nur hoffen, es war die Stimme der Vernunft. Sie kommt mir vertraut vor, und sie klingt, Pan Herbert, wohl manches Mal wie Ihre.
Was ich Ihnen mit alldem sagen wollte, war eigentlich nur: Danke. Aber stattdessen schreibe ich Zeilen, die Sie niemals erreichen werden. Das kommt davon, wenn man Gedichte mit Briefen verwechselt. Nun ja, Briefe, nicht direkt an mich adressiert – aber sie haben mich doch erreicht. Dieser Brief kommt rund zwanzig Jahre zu spät – oder dreißig oder fünfzig, je nachdem welches Datum man in der historischen Konstellation ansetzen will. Es wäre mir peinlich, als Adresse zu schreiben: Powązki Friedhof, Warschau, Polen. Da sind Sie nicht mehr zu finden, Meister, ich weiß. Denn Sie sind nun da draußen im All, und es macht Ihnen Freude, ich kann Ihr verschmitztes Lächeln sehen, von uns gelesen zu werden.
(Durs Grünbein schrieb diesen Brief, den wir gekürzt wiedergeben, als Dank für die Verleihung des Internationalen Literaturpreises der polnischen Zbigniew-Herbert-Stiftung.)
Jan Wagner: Im Königreich der Dinge. Insbesondere über Zbigniew Herbert. Dritter Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur
ABSCHIED VON ZBIGNIEW HERBERT
Am Anfang nur Kirschen und der komische Flug
der Fledermäuse, der Apfel des Mondes und die schläfrige Eule,
der Geschmack kalten Wassers während der ersten Ausflüge.
Die Türme der Stadt waren Liebeserklärung.
Später, viel später, der Goldstaub der Provence,
Feigenbäume im Wingert, Lektion vom weißen Griechenland,
Provinzmuseen, Piero und seine Madonna del parto
– dazwischen zwei Besatzungen, zwei menschenfeindliche Armeen,
schwerfällige Fuhrwerke des Todes auf deinen Straßen.
Die langen Tage, als du Georg Trakl übersetzt hast,
Gesang einer gefangenen Amsel, die Freude: zum ersten Mal Paris
nach Jahren sowjetischer Häßlichkeit und Armut;
dein schalkhaftes Lächeln, die jungenhaften Scherze, Humor
und Ernst, als du die kleine Kathedrale in Meaux besuchtest
(Bossuet sah uns eigentlich streng an),
die Berliner Abende: Herr Doktor, Herr Privatdozent,
der Reis, den du wie Konfetti bei der Trauung der Freunde streutest
– aber auch böse Monate der Stille und Bitternis.
Ich stelle mir deine Spaziergänge vor
in Ligurien oder in Umbrien: elegante Jagden,
nach jener Stelle suchen, wo der Gletscher der Vergangenheit
schmilzt und Formen freigibt.
Ich stellte mir gern deine Wanderungen vor
im Gebirge der Poesie, nach jener Stelle suchen,
wo das Schweigen plötzlich mit Sprache explodiert.
Doch begegnet bin ich dir stets in den engen Wohnungen
der grauen Moloche, die wir Großstadt nennen.
Manchmal erinnerst du mich an die Tragik des Lebens.
An dich dachte das Leben fast täglich.
Ich denke an deine vom Schicksal zermalmten Altersgenossen,
daran, wie du in Madrid, in Amsterdam (Hotel „Ambassade“),
sogar im heiligen Jerusalem erkranktest,
an das Krankenhaus Saint-Louis, wo du im Sommer lagst,
als die Hitze Häuserwände und Staatsgrenzen schmolz,
an deine letzten Wochen in Warschau.
Ich bewundere den königlichen Stolz deiner Gedichte.
Adam Zagajewski
COLANTONIO – S. GIEROLAMO E IL LEONE1
Für Karl Dedecius
in unverbrüchlicher Freundschaft
Im grunde schlamperei
die bücher durcheinander
Organon Marx Engels Tractatus logico-philosophicus Lolita
der heilige liest alles
und am rande der seiten
der mohn seiner glossen:
vergleiche seite 7 richtig die folgerung fehlt
auf dem schreibtisch die rolle mit pergamenten
federkiel tintenfass stundenglas
nutzlose fläschchen welche das nachdenken fördern
die umgekehrte also in frage gestellte welt spiegelt sich dort
just als er laut in der botschaft
des heiligen Johannes las
kam der löwe herein und streckte ihm
seine vom stachel verletzte tatze entgegen
mit langem lateinischen stiel zieht der heilige aus der grauen büchse den dorn
das hätte gut enden können
aber es endete schlecht
der löwe gewöhnte sich an den heiligen
folgte ihm überall hin
zertrat die blumen
erschreckte die metzger
die kinder nur waren gelassen
sie riefen „dummer leone“ und warfen mit steinen
der heilige tat was er konnte
verbarg sich im tor
ließ seine dienerin sagen, der herr sei nicht da
das alles half wenig
der löwe brüllte schlug mit der rute
verlor tatsächlich die sinne
am tag als der heilige starb
ging er davon durch die schmutzige vorstadt
direkt in die wüste
da sah er plötzlich
dass der purpurne hut
mit der dreifachen schnur und den vierzehn knoten
darunter der heilige sonst seinen heiligenschein verbarg
als er an der ecke die apotheke betrat
wegen der kopfschmerztabletten
langsam auf ging als mond
am himmel der ganz aus gold war
und oben dort blieb
für immer
Zbigniew Herbert
HIERONYMUS
(für Karl Dedecius)
Hier sitzt er lange,
sinnt, kein Heiliger:
Polnisches und Deutsches
ist seinem Ohre eins,
ist gleich willkommen.
Und er bringt das Eine
zum Anderen: deutsches und polnisches
Wesen blüht auf
in seiner Sprache.
Er überträgt nicht mehr:
er eint, was ihm
vereinbar ist. Die Sprachen
tauschen ihren Wert
in seinem Zimmer, dem Gehäuse
von einst: nun wunderbar
und offen für Verstehen,
für Lauschen, Klang,
für dieses Einverständnis,
das er bewirkt: das Deutsche,
Polnische nun ein für allemal
im Sinn.
Karl Krolow
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Aus dem Archiv von Polskie Radio „Ob in Polen oder im Ausland – man kennt Zbigniew Herbert“
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 1/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 2/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 3/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 4/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 5/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 6/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 7/8.
Zbigniew Herbert – Dokumentarfilm Obywatel Poeta, Teil 8/8.
Selbstvorstellung
Anläßlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde –
Hand aufs Herz: wer dekuvriert sich denn schon gern? Sich einfach vorstellen, ist schwierig, weil es leicht ist. Das Einfache mißrät zu oft, wenn es geraten scheint. Wir stellen uns arglos vor, und schon ist eine Vorstellung passiert, die in Verstellung, wenn nicht sogar in Unterstellung endet.
Dabei wäre zur Person alles kurz und rasch gesagt. Name, Vorname, Geburtsjahr und Ort sind in Dateien gespeichert und jedem Unbefugten zugänglich. Auf Klappentexten oder anderswo. Aber – was haben Daten zur Person zur Sache? Die Sache steht für die Person, und die Person steckt in der Sache. In unserem Falle: in litteris. (Ein Schreibender ist sowieso ein Exhibitionist, auch wenn er sich in Wörtern, mit Wörtern, durch Wörter verkleidet.)
Das Thema des gestrigen Tages ist von nachhaltiger Inspiration. Es inspiriert und es irritiert mich, meinen lateinischen Kopf hier herzuhalten. Nominative sind verräterisch. In meinem Falle sagt der Name eigentlich alles. Mein abwertendes Präfix de – wie deplaciert – fixiert mich im voraus und für immer. Ich bin mit diesem überflüssigen „de“ de-dekoriert, das heißt, wenn ich nicht irre, abgeschmückt, und das sogar im Komparativ. Was wunder also, wenn mich Sprachempfindliche, denen das Stottern nicht über die Lippen kommt, verlegen variierend, persiflierend, parodierend zum Desiderius oder auch Deditius oder Dekadentius deformieren. Nur die sehr Wohlwollenden sagen manchmal delikat Delicius. Eine kleine Selbstlautfälschung, und alles wäre decens – schicklich, kleidsam. Ich könnte deduzieren, dezidieren, dedizieren. So aber bin ich Vorstellungen ausgeliefert, die bis zur „Schändung“ und „Beschämung“ reichen. Ein kleines „de“ zu viel ist keine Kleinigkeit. Mein Werfall ist ein melancholischer Fall. Ein de-Fall, Ab-wärts-Fall, fast Unfall.
Beschränken wir uns auf das Wesentliche.
Meinem lateinisch-slawisch-germanischen Mischmasch haftet also Melancholia an. Melancholia sei das Wochenbett des Geistes, hatte so oder ähnlich – Aristoteles gemeint. Talent zum Ernst, Besinnlichkeit. Nein, nur getrübte Sinnlichkeit, widersprachen die Biologen, weil die dunkle Galle die Vernunft verstopfe. Sie sei Temperament, meinten noch andere, als solches eine Neigung und Begabung, ja, auch Vorbestimmung. Und Cicero verallgemeinerte, daß „omnes ingeniosos melancholicos esse“ (Tusc. 1.33). Nein, sie sei Apathie, Gemüt im Lichtbereich des Saturn. Komplex des Unmuts, sagt der Volksmund. Nein, Melancholia ist das Poetische an sich, behauptet Poe.
Antinomien jeden Augenblick, und alle stimmen. So ist die Sprache, so ihr Staat, so unser Haus. Das ist in der kürzesten Kürze mein nomen omen fatum Schicksal.
Dürer sah die Melancholie in Kreuzstruktur: als einen meditierenden Engel mitten weltlichen Krams. Die Kunstbuchhalter machten Inventur im Bild und zählten zehn Hauptgegenstände, dazu zehn kleinere am Boden und zehn über der Mitte. Die Zahl erhoben sie zum Rhythmus; den Zirkelkopf zur Achse.
Dem Laien ist die Ordnung und das Dezimalsystem im Bild nicht gleich erkennbar. Sein Auge flüchtet vor dem Durcheinander. So findet er den Stützpunkt in dem Rechteck: in der rechten Ecke. Dort hat sich die Magie der Mathematik im Mauerwerk verankert. Unter der Glocke, die die Ankunft anzeigt, neben dem Stundenglas, in dem der Abschied rieselt. Die Zehn, die Zahl der Menschheit, auch die Zahl der Decii, finde ich links; allerdings am zweiten Platz, in jeder Richtung, hinter dem Rücken der anderen, versteckt, als hätte sie Scheu oder Angst, ein Initial zu werden. Ihr genügt es, zu wissen, daß sie im magischen Quadrat, ob waagerecht, ob senkrecht, an der Summe mitwirkt.
Ich lebe, um auch das zu bekennen, in Frankfurt und habe dort beruflich mit Zahlen und mit Namen zu tun. Dies, um den Zahlenfetischismus und Nominalismus zu erklären.
Auf Delos, auf der Insel Apollos, sind Natur und Kunst seinerzeit zur Einheit geworden. Delos, erinnern wir uns, war das griechische Banken- und Handelszentrum – gewissermaßen das Frankfurt von Hellas. Es hatte Apollo nicht gehindert, dort zur Welt zu kommen, Delos in Melos zu verwandeln. Obwohl Delos der größte Markt für Hetären und Sklaven war.
Geschäft und Göttliches großzügig beieinander ist sehr Griechisch. Delos bedeutet übrigens das „Erscheinende“, das „Vorstellbare“, das „Vorgestellte“. Damit möchte ich auf die Vorstellung zurückkommen und bitten, diese definitiv beenden zu dürfen.
Karl Dedecius 1977, aus: Michael Assmann (Hrsg.): Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie, Wallstein Verlag, 1999.